Nach 50 Jahren wissenschaftlicher Beschäftigung mit Sexualität ist Volkmar Sigusch das Wagnis einge- gangen, ein Theoriebuch zu schrei- ben. Zuvor hatte er innerhalb kurzer Zeit nach seiner Emeritierung eine voluminöse „Geschichte der Sexu- alwissenschaft“ und ein „Personen- lexikon der Sexualforschung“ vor- gelegt.
Da das Sexuelle in unzählige Teile zerfällt, nämlich in so viele, wie es Individuen gibt, kann es kei- ne Theorie der Sexualität geben.
Folgerichtig heißt das Theoriebuch
„Sexualitäten“ und besteht aus Fragmenten, die von der Erfindung des Sexualitätsbegriffs und vom Se- xualwissenschaftler selbst zusam- mengehalten werden. Diese Frag- mente bergen einen gesellschaftli- chen und individuellen Erfahrungs- schatz, wie man ihn gegenwärtig SEXUALFORSCHUNG
Von alten und neuen Zwängen
Volkmar Sigusch:
Sexualitäten. Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten.
Campus, Frankfurt am Main 2013, 626 Seiten, gebunden, 39,90 Euro nirgendwo sonst finden dürfte. Si-
gusch hält die Spannung zwischen Gesellschaft und Individuum, Kul- turpessimismus und Behandlungs- optimismus, Banalem und Beson- derem des Sexuellen aus, macht sie les- und damit lebbar.
Im Buch bewegt er sich entlang seiner über viele Jahre entwickelten zentralen Theoreme, entlarvt das vermeintlich Natürliche als wandel- bare Installation, beschreibt die not- wendigen Verschränkungen von Theorie und Empirie, von Psyche und Soma. Zentral für die Beschrei- bung der Entwicklung nach der so- genannten sexuellen Revolution von 1968 ist Siguschs Theorie einer
„neosexuellen Revolution“ seit den 1980er Jahren, die von alten Zwän- gen befreit, aber auch neue schafft.
Warum soll ein Mediziner das Buch zur Hand nehmen? Mit kei-
nem anderen Buch wird er sich ge- genwärtig so kritisch über das Kommen und Gehen sexueller Probleme und Störungen in unse- rer Gesellschaft informieren kön- nen. So kann die kritische Theorie das praktische Handeln beeinflus- sen und zu einem besseren Verhält- nis des Arztes zum Patienten bei-
tragen. Peer Briken