[108] Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 111|
Heft 37|
12. September 2014KÖRPERBILDER: ARNULF RAINER (*1929)
Jenseits des Zivilisierten
B
eim Fundrasing-Dinner der Albertina im Früh- jahr 2012 tafelte die Crème de la Crème der ös- terreichischen Gesellschaft in dem prachtvollen Muse- um, das eine der großartigsten Kunstsammlungen der Welt beherbergt. Zweck des prominenten Events: der Erwerb eines Werks von Künstler-Star Arnulf Rainer.Und tatsächlich, die 390 geladenen Gäste spendeten 200 000 Euro – genug, um Rainers Selbstporträt
„Schlaf“ anzukaufen. „Es ist sicher eines der bedeu- tendsten Werke der österreichischen Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts“, freute sich Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder, zumal der durch seine Über- malungen berühmt gewordene Künstler mit „Müde Po- se I“ noch ein zweites Bild seiner wichtigen „Body Po- ses“ gratis dazu gab. Beide Arbeiten sind in der aktuel- len Retrospektive aus Anlass von Rainers 85-jährigem Geburtstag zu sehen.
Die performativen Verfremdungen seines Körpers, für die er wie ein Schauspieler auf Fotos posierte, um diese dann zu übermalen, entstanden vorwiegend von 1970 bis 1975. Rainer stützte sich dabei insbesondere auf seine Beobachtungen in psychiatrischen Kliniken und gesellschaftlicher Außenseiter, mit denen er sich in einer Art künstlerischem „Overacting“ identifizierte, so
auch seine exaltierte Gebärde mit dem Finger im Mund in „Schlaf“: „Alle meine Fotoüberarbeitungen sind Selbstdarstellungen, Reproduktionen des mir noch nicht bekannten Ichs“, sagte er 1974. „Er ist auf der Su- che nach einer möglichst authentischen Vermittlungs- form seiner unter größter Anstrengung hervorgerufenen Ausdruckszustände“, schreibt Christina Natlacen im Katalog. Weil ihm die Fotografie dazu jedoch nicht ge- nügt, betont er mit dem Stilmittel der Überzeichnung Situationen psychischer und physischer Erregung, für Rainer ein „Selbsterkundungsprozess, bei dem vor al- lem auch Körperexpressionen jenseits des Zivilisierten ins Spiel kommen.“
Es erscheint nur konsequent, dass er sich nach der eigenen Physiognomie anderen extremeren Vorlagen zuwandte. In seinen ergreifenden Übermalungen von Totenmasken und Leichengesichtern nach 1976 ver- wehrte er sich unter anderem gegen den traditionellen Begräbniskult, der in seinen Augen den Tod als „Über- gang“ oder „Schlaf“ verharmlost. Sabine Schuchart
Arnulf Rainer: „Schlaf“, 1973–74, Öl auf Fotografie auf Holz, 83,5 × 122 cm:
In einer Art Selbstgespräch vor der Kamera konfrontiert der österreichische Künstler den Betrachter mit fremden, hässlichen, gesellschaftlich üblicherweise nicht akzeptierten Aspekten des Mensch-Seins.
© Albertina, Wien, Inv. 46649
LITERATUR
„Arnulf Rainer. Retrospektive: Albertina“, Katalog zur Ausstellung, gebundene Ausgabe, 239 Seiten, Walther König 2014; 38 Euro
AUSSTELLUNG
„Arnulf Rainer.
Retrospektive“
Albertina, Albertina- platz 1, Wien;
www.albertina.at;
tgl. 10–18, Mi. 10–21 Uhr;
bis 8. Februar 2015
Museum Frieder Burda, Baden-Baden 28. Februar bis 3. Mai 2015