DAS DEUTSCHLANDBILD IN DER TÜRKISCHEN
KARIKATUR DER GEGENWART.
Von Hans-Peter Laqueur, Istanbul
Nach Vorläufern, wie der von der Regierung herausgegebenen Zeitung
Takvim-i Vak'ayi (1831) und der ersten privaten türkischen Zeitung, der
von dem Engländer William Churchill herausgegebenen Ceride-iHavä-
dis (1840), begiimt die Geschichte des türkischen Pressewesens im Jahr
1860, als Ägäh ErENDi die Zeitung Tercümän-i Ahväl begründete. Fast
ebensoweit zurück reicht auch die Geschichte der satirischen bzw. humori¬
stischen Presse in der Türkei: Die Zeitung Terakkt (1869-70) veröffent¬
lichte eine wöchentliche humoristische Beilage, um 1870 erschien mit
Diyqjen die erste selbständige satirische Zeitschrift in türkischer Sprache.
Ihr Schicksal ist in vieler Hinsicht exemplarisch für weitere Publikationen
dieser Gattung in der Türkei: Nach drei befristeten Verboten mußte sie
1876 auf Grund eines weiteren Verbotes endgültig ihr Erscheinen einstel¬
len'.
Es folgte eine kaum überschaubare Vielzahl von Zeitschriften dieser Art,
denen - häufig auf Grund von Zensurmaßnahmen - in der Regel nur eine
kurze Lebensdauer beschieden war; in einer Auswahl der bedeutendsten
unter ihnen nennt die Türk Ansiklopedisi für die Zeit von 1870 bis 1925
allein 26 TiteP.
Für die Republikzeit sind vor allem zwei Zeitschriften zu nennen, Akbaba
mit der ungewöhnlich langen Lebenszeit von 55 Jahren (1922 bis 1977 mit
eiiügen Unterbrechungen) und die künstlerisch und literarisch wohl bedeu¬
tendste, Markopa§a von Sabahattin Ali und Aziz Nesin (1946-1950),
die auf Grund häufiger Verbote unter wechselndem Namen erscheinen
mußte und zeitweilig den Untertitel führte: Firsat bulunca yayinlanir.
Heute wird der Markt von drei Wochenzeitschriften beherrscht, die hier
kurz vorgestellt sein sollen:
Gir gir wurde 1972 mit einer Startauflage von 40000 gegründet. Laut
eigener Angabe^ betrug die Auflage 1981 485000, womit sie nach Krokodil
(UdSSR) und Mad (USA) die drittgrößte humoristische Zeitschrift der
Welt wäre". Für 1980 nennt allerdings eine unabhängige Statistik eine Auf¬
lage von 350000'. Die Zeitschrift erscheint mit 16 Seiten im Format von
ca. 33 X 27 cm, als einzige der drei im Zweifarbendruck (Zeichnungen wer¬
den mit gelben Hintergründen unterlegt). Wie Firt gehört sie zum Günay-
dm-Konzem, Chefredakteur ist der Karikaturist Oöuz Aral. Bemerkens-
' Artikel Kasap, Teodor von S. Poroy in: Sosyalist Kültür Ansiklopedisi. 8 Bde.
Istanbul 1980. Bd. 7, S. 659.
^ Artikel Mizah von K. Akyüz in: Türk Ansiklopedisi. Bd. 24, S. 262 ff.
' Girgir Nr. 486 (27. 12. 81).
* Zum Vergleieh: Markopa^a erreichte eine Höchstauflage von 60000. s. Ferit
Öngören: 50 Yilm Türk Mizahi. Istanbul 1973, S. 82.
' Turkey Almanac 1980. ed. Ilnur Qbvik. Istanbul 1980, S. 174.
wert ist die Tatsache, daß Girgir-von ganz wenigen Ausnahmen (Werbung
für Publikationen des Mutterkonzerns) abgesehen - keine Anzeigen ent¬
hält.
Seit 1975 erscheint im Verlag von i/wmt/e/Qar §af, als deren Herausge¬
ber Qetin Eme9 verantwortlich zeichnet. In Format und Umfang ent¬
spricht sie Girgir, sie erscheint jedoch im Buntdruck. Mit einer Auflage von
(1980) 80000' ist sie die kleinste unter den drei Zeitschriften. Wie i^^r^ ent¬
hält sie in der Regel eine ganzseitige Anzeige.
Firt erscheint seit Ende 1976 im Günaydm-Konzern. Chefredakteur ist
der Karikaturist Tekin Aral, ein Bruder des oben genannten Oöuz Aral.
Sie erscheint in kleinerem Format als die beiden anderen Zeitschriften (ca.
26.5 X 20 cm), aber dafiir mit 20 Seiten. 1980 betrug ihr Auflage 168000'.
Preislich entsprechen die Zeitschriften den großen Tageszeitungen: Seit
Herbst 1984 kosten Girgir und FirtTL 50.—, einige Monate später erfolgte
auch bei ^ar§af die entsprechende Preiserhöhung.
Einige Schlüsse auf die Massenwirksamtkeit dieser drei Zeitscliriften
lassen sich schon aus der Tatsache ziehen, daß sie allwöchentlich ca. eine
halbe Million Käufer finden (wobei Befragungen - siehe unten - ergeben
haben, daß jedes Heft von 3-4 Personen gelesen wird), weitere Einzelhei¬
ten ergeben sich aus den Ergebnissen einer Umfrage, die die Fakultät für
Betriebswirtschaft (i§letme Fakültesi) der Universität Istanbul zwischen
April und September 1982 unter Lesern von Girgir durchgeführt hat":
Die Leserschaft ist danach zu 90% unter 40 Jahren alt. Zwei Drittel
haben zumindest den Oberschulabschluß (lise), die größte Berufsgruppe
sind mit 44% Schüler und Studenten. Bevorzugte Tageszeitungen sind Mil¬
liyet (41%) und Cumhuriyet (39%). Die Leserschaft besteht größtenteils aus
regelmäßigen Stammkunden - 2/3 kaufen die Zeitschrift allwöchentlich,
50% seit 5 Jahren oder länger -, die Girg'tr entsprechend benoten: 93,5%
'gut' oder 'sehr gut' stehen nur 0,4% 'schlecht' oder 'sehr schlecht' gegen¬
über.
Diesem Bild einer bildungsmäßig deutlich über dem Landesdurchschnitt
liegenden Leserschaft entspricht die Gestaltung von Girgir ebensoweiüg
wie die der beiden anderen Zeitschriften: Sie ist - im Gegensatz etwa zu
Markopa§a, bei dem das Hauptgewicht auf Texten lag - in erster Linie
durch Zeichnungen bestimmt und kommt mit dem Verzicht auf längere
zusammenhängende Texte den Wünschen und Bedürfnissen eines wenig
lesefreudigen Publikums entgegen.
Dennoch darf man den Einfluß dieser Zeitschriften auf die öffentliche
Meinung - und gerade auch die des akademischen Nachwuchses - nicht
unterschätzen, und deshalb soll hier das Bild von Deutschland und den
' Turkey Almanac 1980. S. 174.
' Tkrkey Almanac 1980. S. 174.
' Gencay §aylan: istanbul Üniversitesi t§letme Fakültesinin yaptigi „Girgir Der¬
gisi Okuyucu Aratftirmasi" üzerine bazi dü^ünceler. 82'nin Basm Olayi. In: Bilim ve Sanat 26 (1983), S. 5-9.
Deutschen, das sie 1981/82 ihren Lesern vermittelten, vorgestellt werden'.
In dem Berichtszeitraum hat die Art und Weise, in der in der satirischen
Presse der Türkei das Thema Deutschland und die Deutschen behandelt
wurde, sich grundsätzlich gewandelt. Im ersten Abschrütt, bis 1982,
bestimmen harmlose, weiüg spezifische Witzzeichnungen die Lage, so die
Darstellung eines Brieft.rägers, der mitteilt, er bringe einen Brief aus
Deutschland, worauf der Empfänger antwortet: „Ich kann aber gar kein
Deutsch!"'"
Deutschland steht in dieser und in vielen ähiüichen Zeichnungen nicht
für ein bestimmtes Land, sondem für das fremde Land schlechthin, für
Ausland kat exochen; aus Sam amca (Uncle Sam, oder der reiche Onkel aus
dem Ausland) hat der Volksmund längst Hans amca gemacht, und entspre¬
chend werden in den allsommerlichen Karikaturen zum Thema Tourismus
die Touristen mit deutschen Namen versehen und ihnen deutsche Sprach¬
brocken in die Sprechblase geschrieben. ABB. 1 So kann auch die hier zu
Abb. 1
' Ausgewertet wurden:
Girgir Nr. 461-547 (7. 6. 81-27. 2. 83). Vom 19. 7. bis 23. 8. 81 erschien Girgir wegen eines Verbotes nicht,
far^a/Nr. 11/81-9/83 (11. 3. 81-23. 2.83) Firt Nr. 261-362 (10. 3. 81-22. 2. 83).
Qar^af 17/81 (20. 4. 81), S. 7.
beobachtende Darstellung des Touristen als etwas dümmlich - ebenso wie die der Touristin als Sex-Objekt" - nicht als Urteil über die Deutschen,
sondern nur als Einschätzung der Ausländer allgemein gesehen werden.
Zeichnungen dieser Art können demnach unberücksichtigt bleiben, fest¬
gehalten werden muß lediglich, daß eine Auseinandersetzung mit Deutsch¬
land und den Deutschen in den Karikaturen des Jahres 1981 kaum eine
Rolle spielt. Die zahlreichen Darstellungen aus dem Bereich „Gastarbei¬
ter" köimen zur Frage des Deutschlandbildes wenig beitragen, sie reflek¬
tieren weit mehr innertürkische Probleme, wie die Rivalitäten zwischen
Alamanyali und daheim Gebliebenen, als eine kritische Auseinanderset¬
zung mit deutschen Arbeits- und Lebensbedingungen.
So bleibt als einziges politisches Thema im Zusammenhang mit
Deutschland, das 1981 aufgegriffen wurde, die Visumsfrage, für die sich
allerdings nur ein einziges Beispiel findet. ABB. 2: 'Terrorist' : „Was für ein
Abb. 2
" Vgl. Abb. 3 und 8.
Visum, mein Freund? Ich bin Mehmed Ali Agca." - Deutscher Grenzpoli¬
zist: „Ach so! Bitteschön, Sie köimen einreisen!"
Das Thema Visumspflicht wird zwar auch 1982 noch gelegentlich auf¬
gegriffen", aber die große Empörung über die Einführung von Visa im Rei¬
severkehr mit der Bundesrepublik im Herbst 1980 war längst abgeklungen
und vrarde nur durch Berichte über den Schutz, den türkische Terroristen
in veschiedenen europäischen Staaten genossen, zeitweilig wiederbelebt.
Im Jahr 1982 wird ein neues Thema aufgegriffen, und damit zum zweiten
Abschnitt übergeleitet. Girgir - auch auf diesem Gebiet den Gepflogenhei¬
ten des Verlagshauses Günaydmund dessen anti-deutscher Einstellung fol¬
gend - greift als erste der Zeitschriften das Thema Ausländerfeindlichkeit
bereits im März 1982 auf, im Oktober folgt Firt, während (^ar§af erst zum
Jahresende nachzieht. Zu den harmloseren Beispielen für die Verarbeitung
dieses Problems gehören einige Zeichnungen, die sich mit den offiziellen
deutschen Bemühungen, türkische Arbeiter zur Rücksiedlung anzuregen,
befassen. Hierzu gehört vor allem die Frage der 'Rückkehrprämie', für die
der Karikaturist von Qar§af (wo der ganze Themenkreis weit weniger
aggressiv behandelt wird, als bei Firt und vor allem Girgir) einen eigenen
Vorschlag hat. ABB. 3.
Zwei Zeichner stellen sich vor, zum Besuch des deutsohen Standes auf der
Izmir-Messe sei ein Visum erforderlich. (/ar§af 35/82 (25. 8. 82), S. 15 und FiH 337 (24. 8. 82). Titelseite.
.*tE>07^
Abb. 3
Neben materiellen Anreizen werden auch psychologische Methoden
nicht ausgeschlossen: ABB. 4: Der deutsche Chef versucht, durch Wand¬
schmuck und Musik bei seinen türkischen Arbeitern Heimweh zu erwek-
ken.
Abb. 4
Beide Beispiele beschreiben die Ausländerfeindlichkeit als eine Einstel¬
lung oder Politik, nicht aber als aktive Handlungsweise. Wenn es darum
geht, Ausschreitungen gegen Ausländer darzustellen, sind sich die Zeich¬
ner - und mit ihnen zahlreiche Intellektuelle - in der Darstellung des
Schuldigen einig: Es ist der Faschismus, der ihrer Ansicht nach auch heute
das politische Leben der Bundesrepublik bestimmt. ABB. 5 ist nur eine von
zahlreichen Varianten zum Thema Nazi und Hakenkreuz.
Neuen Auftrieb gewann diese Einstellung durch den Regierungswechsel
in Bonn im September 1982, da die Regierung Kohl bei den türkischen
Medien schon vor ihrem Amtsantritt als ausländerfeindlich und antitür¬
kisch galt. So brachte ein Zeichner von Firt ein weiteres beliebtes Klischee
ein, als er als Ausländerbeauftragten der neuen Regierung einen Rocker
präsentiert'^ Girgir ließ sich von den Gedenkfeiern zum 30. Januar 1983
zur Darstellung des Bundeskanzlers am Rednerpult inspirieren, der sich
nur über die dadurch verursachte Ruhestörung, nicht aber über die Tat¬
sache beschwert, daß Nazi-Rocker einen Türken zusammenschlagen. ABB.
6.
Keinerlei Hemmungen durch Taktgefühl oder guten Geschmack kennen
Zeichner und Herausgeber, wenn es darum geht, angebliche Schuldige
Firt 344 (12. 10. 82), S. 5.
anzuprangern: ABB. 7. Als im Jahr 1982 eine junge Türkin in Deutschland
sich selbst verbrannte, um damit gegen die Ausländerfeindlickeit zu prote¬
stieren, erschien Girgir mit einer Zeichnung auf der Titelseite, aufder der
AHMET BozKiC
Abb. 5
deutsche Chef seinen türkischen Arbeitern mit dem Monatslohn Geld für je
einen Kanister Benzin auszahlt. In den bisher besprochenen Beispielen von
karikaturistischer Verarbeitung des Themas Ausländerfeindlichkeit wur-
Abb. 6
den von den Zeichnern jeweils tatsächliche oder vorgebliche Zustände in
Deutschland aufgezeigt und angeprangert. Das Bild wäre jedoch nicht voll¬
ständig, zöge man nicht eine weitere Kategorie von Darstellungen zu die¬
sem Problem in Betracht: Die bisher gezeigten 'aggressiven' Karikaturen
werden durch 'defensive' ergänzt, durch solche, die die eigenen Qualitäten
und die eigene Selbsteinschätzung verdeutlichen sollen.
Grundlegend ist hier die Erkenntnis, daß das Ausland die Türkei und die
Türken nicht hinreichend kennt. Diese Behauptung wird gerne in Karikatu¬
ren aufgestellt, wie z. B. in einer Darstellung einer Europarats-Debatte, in
der diskutiert wird, ob die Türkei am Nordpol, nördlich von Chile, östlich
von Indien oder vielleicht doch in Europa liegt'''. Wer so wenig informiert
ist, hat natürlich keinerlei Recht zur Kritik.
Qar^af 21/81 (20. 5. 81), S. 3.
Ergänzt wird dieses Bild durch Darstellungen des Sittenverfalls in
Europa (Drogensucht, sexuelle Libertinage etc.) im Gegensatz zu den
menschlichen und moralischen Qualitäten der Türken. Den Aspekt der
menschlichen Qualitäten verdeutlicht ein Ausschnitt aus einer mehrteili¬
gen Bildgeschichte, in der der Journalist und Karikaturist Altan Erbu-
LAK seine Europareise schildert: In Deutschland - dessen Städte nur aus
Sexshops und Kneipen bestehen - wird er von einem Deutschen eingela¬
den. Dieser bewirtet ihn lediglich mit Bier, bittet jedoch hinterher um einen
Unkostenbeitrag. Hungrig begibt sich der Gast daraufhin in ein türkisches
Lokal, wo sich der Wirt so über das Wiedersehen freut, daß er sich weigert,
sich das Essen bezahlen zu lassen".
Für den moralischen Aspekt soll hier nur ein Beispiel stehen, eine Zeich¬
nung von TuRHAN Selcuk mit der Unterschrift: „Die Deutschen beklagen
sich darüber, daß sich die Türken nicht an die (deutsche) Gesellschaft
anpassen." ABB. 8
Ordnet man diese beiden Hauptlinien in der karikaturistischen Darstel¬
lung Deutschlands - die 'aggressive' mit ihrem Bild von faschistischen Ver¬
folgungen und die 'defensive' mit ihrer Betonung der Bereiche, in denen
man sich überlegen fühlt - in den geistig-kulturellen Rahmen der türkisch¬
deutschen Beziehungen im 20. Jahrhundert ein, so ergibt sich das Fol¬
gende: Im Deutschland-Bild der Karikatur (und Ahrüiches ließe sich wohl
auch in anderen Bereichen, vor allem in der zeitgenössischen türkischen
Literatur, nachweisen) vollzieht sich die Auseinandersetzung einer Nation
mit einer anderen, der sie sich zwar unterlegen, aber durch eine unerwi¬
derte Beziehung verbunden fühlt. Diese 'verschmähte Liebe' (die in
Deutschland fast vergessene 'Waffenbrüderschaft' im I. Weltkrieg spielt
auch heute noch im türkischen Bewußtsein eine große Rolle) schlägt - wie
im menschlichen Leben - leicht in Haß um, wie er aus eiiügen der Beispiele
deutlich spricht.
.N
Abb. 8
" Firt 305 (12. 1. 82), S. 4.
Das traditionell freundliche Deutschlandbild ist in der heutigen sati¬
risch-humoristischen Presse der Türkei nicht mehr zu finden (selbst wenn
man in Betracht zieht, daß in einigen Fällen Deutschland - pars pro toto -
für Westeuropa steht), vielmehr scheint hier - wie auch in nicht unerhebli¬
chen Teilen der intellektuellen Bevölkerung - Deutschland auf dem Weg zu
sein, in ähnlicher Art Synonym für alles Negative zu werden, wie früher die
USA.
ABBILDUNGEN
1: Girgir 486 (27. 12. 81), S. 15.
2: Firt 271 (19. 5. 81), Titelseite.
3: (;ar^a/ 31/82 (28. 7. 82), S. 8.
4: Girgir 52S (17. 10. 82), S. 9.
5: Girgir 500 (4. 4. 82), S. 4.
6: Girgir 5U (6. 2. 83), S. 3.
7: Girgir 509 (6. 6. 82), Titelseite.
8: Milliyet (28. 1. 83), S. 2.
INDOGERMANISTIK UND ALTIRANISTIK
Leitung: Carlo de Simone, Tübingen
BILINGUISMUS IN DER ENTWICKLUNG
DES OSSETISCHEN.
Von Fridrik Thordarson, Oslo
Das Ossetische ist, wie bekannt, auf allen Seiten von nichtiranischen,
d.h. kaukasischen, türkischen und slawischen Sprachen umgeben. Im
Westen begegnen uns die tscherkessisch-kabardinischen Dialekte, die im
Mittelalter und früher Neuzeit sich von der Schwarzmeerküste nach dem
Osten verbreitet und die einst im Nordwesten vorherrschenden iranischen
- alanisch-ossetischen - Dialekte verdrängt haben. Im ehemaligen irani¬
schen Gebiet wird jetzt auch die Turksprache der Karatschajen und der
Balkaren gesprochen. Aufder Ostseite des Ossetischen liegt das Gebiet der
nachischen Sprachen (des Inguschisch-Tschetschenischen). Im Norden
und Nordosten befinden sich noch zwei Turksprachen, das Nogajische und
das Kumükische. Die letztgenannte Sprache, die gegenwärtig mit dem
Ossetischen kaum gemeinsame Grenzen hat, hat Jahrhunderte hindurch
die Rolle einer lingtui franca im Verkehr der nordkaukasischen Völker
gespielt. Südlich der Gebirgskette finden wir schließlich das Georgische
und die übrigen südkaukischen Sprache, die, vor allem das Georgische, als
Mittler lexikalischen Guts zwischen dem Nahen Osten und dem Nordkau¬
kasus von Wichtigkeit gewesen sind. Trotz einer Menge von lexikalischen
und idiomatischen Lehnbeziehungen ist der typologische Einfluß des
Georgischen auf das Ossetische allem Anschein nach ziemlich geringfügig
gewesen. In allem Wesentlichen scheint das Ossetische seinen heutigen
Charakter im nordkaukasischen Gebiet entwickelt zu haben. Auch das
Ukrainische und das Russische, die erst in den letzten Jahrhunderten in
den Nordkaukasus eingeführt worden sind, sind bis in die Gegenwart für
die Struktur des Ossetischen ohne Belang gewesen. In diesem Referat wird
von den slawischen Sprachen abgesehen.
Während die übrigen iranischen Sprachen ein geographisches Konti¬
nuum bilden, wo typologische Ähnlichkeiten zum Teil als Folgen sprachli¬
cher Wellenbewegungen erklärt werden können, also einigermaßen einen
Sprachbund ausmachen, ist das Ossetische (oder dessen Vorläufer) Jahr¬
hunderte hindurch außerhalb dieser Gemeinschaft stehen geblieben und