• Keine Ergebnisse gefunden

Erkenntnis und Emanation

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Erkenntnis und Emanation"

Copied!
15
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)
(2)
(3)

Erkenntnis und Emanation

(4)

Peter-Ulrich Merz-Benz

Erkenntnis und Emanation

Ferdinand Tönnies‘ Theorie

soziologischer Erkenntnis

(5)

Peter-Ulrich Merz-Benz Universität Zürich Schweiz

ISBN 978-3-658-02287-7 ISBN 978-3-658-02288-4 (eBook) DOI 10.1007/978-3-658-02288-4

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbi- bliogra¿ e; detaillierte bibliogra¿ sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Springer VS

© Springer Fachmedien Wiesbaden 2016

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikrover¿ lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa- tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind.

Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen.

Lektorat: Andreas Beierwaltes, Stefanie Loyal

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

Springer Fachmedien Wiesbaden ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)

(6)

In Erinnerung an

Lars Clausen (1935 – 2010)

Er hat sich

um die Erforschung des Werks von Ferdinand Tönnies

wahrhaft verdient gemacht

(7)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort – oder wohl eher eine ›Tönniessche‹ »Vorrede« ... 9

Die »Idee des aus seinem Keime werdenden Geistes« ... 13 Ferdinand Tönnies’ emanatistische Erkenntnistheorie

Historismus, Empirismus und Rationalismus ... 37 Der ideengeschichtliche Kontext von Ferdinand Tönnies’ Begriff

der Sozialwissenschaft

Erkenntnis diesseits und jenseits des Kantianismus ... 61 Ferdinand Tönnies’ Weg zu einer »Methode, die mit der Schöpfung

der Dinge selber übereinstimmt«

Die logische Analyse sozialer Gebilde – jenseits von Physikalismus

und Biologismus ... 111 Ferdinand Tönnies’ Kritik an Gustav Ratzenhofer

Nachweise ... 169

(8)

Vorwort – oder wohl eher eine ›Tönniessche‹

»Vorrede«

Einem Gedanken nach und nach »Kontur« verleihen – das ist es, was Ferdinand Tönnies mit seiner Soziologie im Sinn hatte. Was anfangs bloß eine Ahnung war, sollte begriffl ich bestimmt, in Kategorien der soziologischen Th eorie »denkbar und darstellbar« gemacht werden, wozu es der Auslegung und Deutung der ur- sprünglichen Eindrücke ebenso bedurft e wie der systematischen Gestaltung der wissenschaft lichen Betrachtungsweise. – Und auch für Tönnies galt: Sich vor- arbeitend von der Ahnung zur Erkenntnis führt irgendwann zur Frage, was mit Erkenntnis selbst gemeint ist.

Die »Welt« der Gemeinschaft en ist »uns – uns als Volk – unwiederbringlich verloren« – so schreibt Ferdinand Tönnies am 30.10.1879 an seinen Freund Fried- rich Paulsen. Es ist das erste Mal, dass die sein wissenschaft liches Schaff en be- stimmende Erkenntnisabsicht Erwähnung fi ndet. Die Welt der Gemeinschaft en:

Das ist die »Wachstums- und Blütezeit unseres Volkes«. Doch wir – daran bestan- den für Tönnies zu keiner Zeit Zweifel – leben in einer anderen Welt: in der Welt der Industrialisierung, des sich hervorbildenden Kapitalismus, der Welt der »Ge- sellschaft «. Einen Weg zurück gibt es nicht. Sicher war für Tönnies aber auch, dass die Geschichte keinen Bruch kennt. Die Welt der Gemeinschaft en ist für uns zwar verloren, noch immer aber sind gemeinschaft liche Formen des Zusammenlebens präsent, präsent als Teil der »menschlichen Verhältnisse und Verbindungen«, diese gestaltend als wirkliche und lebendige. Die gemeinschaft lichen Formen des Zusammenlebens bilden eine eigene Sphäre jenseits der diskursiv-rationalen Ver- hältnisse des Kapitalismus und verkörpern doch mit diesen zusammen unsere Sozialwelt. Denn sind beide auch von höchst eigener Art, fl ießen sie in der Reali- tät der »menschlichen Verhältnisse und Verbindungen« doch auf vielfache Weise ineinander. Für Tönnies war dies zunächst nicht mehr als eine Impression – eine Impression allerdings, die ebenso eine Botschaft von der Existenz des Erahnten überbringt wie sie die Weisung zu dessen näherer Bestimmung erteilt.

(9)

10 Vorwort – oder wohl eher eine ›Tönniessche‹ »Vorrede«

Für die Soziologie konnte dies nur heißen, wie Tönnies wiederum in seinem Brief vom 30.10.1879 an Friedrich Paulsen festhält – eine Vorgabe, von der er Zeit seines Lebens nie abrücken sollte: In »unseren theoretischen Betrachtungen«

dürfen, ja müssen wir die »Denkweise« der Welt der Gemeinschaft en »soweit zulassen«, dass die »sittliche Kraft «, der Wille, die »menschlichen Verhältnisse und Verbindungen« als lebendige aufrecht zu erhalten, »gebührend gewürdigt«

wird. Ein »Abmessen« der gemeinschaft lichen Sozialverhältnisse an den diskur- siv-rationalen, gesellschaft lichen Sozialverhältnissen verbietet sich. Vielmehr gilt es beide Denkweisen, diejenige der Gemeinschaft en und diejenige der Ge- sellschaft bzw. des Rationalismus »zu einer höheren Synthese zu verbinden«. Zur wissenschaft lichen Rationalität gibt es für Tönnies keine Alternative, doch darf die Rationalität mitnichten bloß als Prinzip einer auf sich gestellten, »künstlichen Tätigkeit« begriff en werden. Rationalität ist ebenso der Inbegriff des freigesetz- ten geistigen Wirkens, wie sie eingelassen ist in die Gesamtheit der Geisteskräf- te, als Modus einer geistigen Tätigkeit unter vielen: der naiven Anschauung, der Intuition, des Glaubens, der Phantasie sowie der Vergegenwärtigung des Vorge- stellten im Gefühl. Diese ›vielen‹ Geisteskräft e sind es, welche die Denkweise der Gemeinschaft en ausmachen. Und es ist nichts als selbstverständlich, sie in den

»theoretischen Betrachtungen« der Soziologie »zuzulassen«, ansonsten die Sozio- logie der Sozialwelt nicht auf die Spur zu kommen vermöchte.

Was dies für die Soziologie bedeutet, will sie auf ihrem Weg von der Ahnung zur Erkenntnis weiter vorankommen, hat Tönnies beschrieben in seinem Aufsatz

»Das Wesen der Soziologie« von 1907. Das Zusammenleben der Menschen »kön- nen wir zwar ›von außen‹ betrachten; aber wir können es nur ›von innen‹ verste- hen«, es im Begriff rekonstruierend. Soziale Verhältnisse »zu begreifen« ist mithin die »Aufgabe einer rein theoretischen Wissenschaft «. Deren »Objekte« sind weder durch Mess-Instrumente, noch »auch durch andere Sinne [...] wahrnehmbar«.

»Nur der Gedanke vermag sie zu erkennen«. Es ist die theoretische Wissenschaft

»Soziologie«, welche die sozialen Verhältnisse »eben dadurch« »denkt«, dass sie sie »aus den Tatsachen, aus dem wirklichen Verhalten der Menschen zueinander, abzieht« und anschließend im Begriff erstehen lässt. Und was ihren Blick leitet, ihr überhaupt erst dazu verhilft , soziale Verhältnisse »denkbar und darstellbar«

zu machen, sind die »Grundbegriff e«, die Kategorien der »reinen Soziologie« – von Tönnies ausgearbeitet in seinem Hauptwerk Gemeinschaft und Gesellschaft .

Vorbild für die soziologischen Kategorien sind die Rechtsverhältnisse: die ra- tionalen Rechtsverhältnisse auf der einen, das Gewohnheitsrecht, das »Rechts- gefühl [...] des Volksgeistes« auf der anderen Seite. Charakteristisch für die rationalen Rechtsverhältnisse ist der »Kontrakt«, verstanden als eine bewusst ge- troff ene Abmachung; charakteristisch für das Gewohnheitsrecht ist ebenfalls der

(10)

11 Vorwort – oder wohl eher eine ›Tönniessche‹ »Vorrede«

Kontrakt, nur nicht im Sinne des »typischen Rechtsgeschäft s«, sondern als still- schweigende Bejahung der in und mit den sozialen Verhältnissen »still wirken- den Kräft e« des »positiven Verhaltens« zwischen den Menschen. – Die rationalen Rechtsverhältnisse sind das Vorbild der gesellschaft lichen Sozialverhältnisse, das Gewohnheitsrecht ist das Vorbild der gemeinschaft lichen Sozialverhältnisse. Ers- tere werden verkörpert durch die Muster kaufmännischen Handelns, die Organi- sationsform der Manufaktur und zuhöchst den Kapitalismus, zweitere durch die

»angeerbten, überlieferten Formen, der Gewohnheit und der Pfl icht«. Die Sozial- verhältnisse sind von den Menschen gemeinsam »ins Dasein gerufene« respektive im Dasein gehaltene geistige Gebilde; die Menschen »verkehren« mit ihnen »als mit Wirklichkeiten«, sie »in vorgeschriebenen oder doch vorgedachten Formen wollen und handeln lassend« – sei es als Handlungsvorgaben »künstlichen« Cha- rakters, welche auf unser Zusammenleben wie von außen einwirken, oder sei es als etwas, das in unserem Zusammenleben immer schon präsent ist und dieses ganz selbstverständlich, wie von sich aus bestimmt. In »eben diesen sozialen Din- gen, den Gedankengebilden des Kulturlebens« und des sozialen Lebens, »behaup- te« ich – so hält Tönnies in seiner Einleitung in die Soziologie von 1931 fest – »den eigentlichen Gegenstand der theoretischen oder reinen Soziologie«.

Gemeinschaft liche und gesellschaft liche Sozialverhältnisse sind Ausdruck eines »sozialen Willens«; in ihnen steckt das Einverständnis, sie gelten zu lassen, und insoweit sind sie »psychologisch erfüllt«. Doch während in den gesellschaft - lichen Sozialverhältnissen das Denken allein herrscht, ist es in den gemeinschaft - lichen Sozialverhältnissen einbezogen in ein zusammenhängendes Ganzes von Intuition und Gefühl, »naiver Anschauung und künstlerischer Phantasie, volk- lichem Glauben und begeisterter Dichtung«. Sich gesellschaft liche Sozialverhält- nisse zu denken entspricht unmittelbar der »Denkweise« der Wissenschaft , dem denkbar und darstellbar Machen des Gegebenen im Begriff . Die »Denkweise« der gemeinschaft lichen Sozialverhältnisse ist eine andere. In ihr ist das Denken ein- bezogen in die Mannigfaltigkeit der Willenskräft e, in die Mannigfaltigkeit des psychischen Geschehens, und »ist der Begriff selber eine Realität, lebendig, sich verändernd und sich entwickelnd«. Auch diese Realität aber gilt es zu erschließen, gilt es zu »denken«, im Begriff erstehen zu lassen – und was dazu erforderlich ist, hat Ferdinand Tönnies ja bereits in seinem Brief vom 30.10.1879 an seinen Freund Friedrich Paulsen unmissverständlich festgehalten: In »unseren theoretischen Betrachtungen« dürfen, ja müssen wir die »Denkweise« der Welt der Gemein- schaft en »soweit zulassen«, dass die »sittliche Kraft «, der Wille, die »menschlichen Verhältnisse und Verbindungen« als lebendige aufrecht zu erhalten, »gebührend gewürdigt« wird. Dazu aber bedarf es nichts Geringerem als der Bestimmung – in letzter Konsequenz der Selbst-Bestimmung – des Denkens in seiner Her-

(11)

12 Vorwort – oder wohl eher eine ›Tönniessche‹ »Vorrede«

vorbildung, seiner Emanation aus der Gesamtheit der ›vielen‹ Geisteskräft e und schlussendlich aus dem »empfundenen inneren Gesammtzustand«, dem ›Natur- zustand des Seelenlebens‹. Und dies bedeutet den Eintritt in die Erkenntnistheo- rie, in die Gedankenwelt Th omas Hobbes’, Arthur Schopenhauers, Baruch Spi- nozas, Immanuel Kants sowie der biologischen Deszendenztheorie – vor allem aber in das einzigartige Gebilde, zu dem Tönnies die von ihm aufgenommenen philosophischen Einsichten, Begriff e und Denkfi guren geformt hat.

Tönnies’ Th eorie soziologischer Erkenntnis zu entfalten – das ist es, worum es in diesem Band geht. Die in den einzelnen Beiträgen entwickelten Argumente sind gewissermaßen Wege, den von Tönnies verfolgten Gedankengängen immer mehr auf die Spur zu kommen, erstehen lassend, verdeutlichend, was seine Th eo- rie der Denkbar- und Darstellbarmachung der Sozialwelt zusammenhält. Biswei- len treff en sich diese Wege, bisweilen ist ihr Verlauf ein höchst eigener.

Und zu guter Letzt ein sinnreicher Zufall. Es war an Ostern 2015, als ich in Meran-Obermais letzte Hand an den Text dieses Bandes legte, befl ügelt durch das elegante Jugendstil-Ambiente des Hotel Adria, mit Blick auf die Villa Rolandin, in der Tönnies vor 128 Jahren Gemeinschaft und Gesellschaft zum Abschluss ge- bracht hatte. In jeder Hinsicht ein guter Platz.

Hotel Adria, Meran-Obermais,

Ostern 2015 Peter-Ulrich Merz-Benz

(12)

Die »Idee des aus seinem Keime werdenden Geistes«

Ferdinand Tönnies’ emanatistische Erkenntnistheorie

Wer je einmal einen Blick in eines der Tönniesschen Werke geworfen hat, der wird sich unwillkürlich – und zu Recht – fragen: Tönnies’ Erkenntnistheorie, gibt es eine solche überhaupt? Und in der Tat: Eine ausgearbeitete Erkenntnistheorie fi ndet man bei Tönnies nicht, was aber nicht heißt, dass er sich zu diesem Gegen- stand nicht geäußert hätte. Denn obschon seine Intention stets primär der Aus- arbeitung der Soziologie als Wissenschaft galt, stand für ihn der Gedanke, dass eine solche Wissenschaft ein erkenntnistheoretisches Fundament besitzen muss, ja mit diesem Fundament auch ihr Charakter festgelegt wird, nie in Frage. Bereits in seiner ersten größeren wissenschaft lichen Arbeit nach der Dissertation – der vierteiligen Artikelserie über die Philosophie von Th omas Hobbes1 – konzent- riert sich sein Interesse auf die in den Bestimmungen von »Begriff swissenschaft « und »Tatsachenwissenschaft « angelegten Th eorien des Erkennens, wobei die ge- wonnenen Einsichten ihrerseits die Grundlage bilden, von der aus er seinen Be- griff einer »Social-Wissenschaft « zu entwickeln sucht.2 Mit diesen Bemühungen von Tönnies geht nichts Geringeres als die Begründung eines eigenständigen er- kenntnistheoretischen und wissenschaft stheoretischen Standpunktes einher, und diesen Standpunkt sichtbar zu machen, ist das Ziel der folgenden Ausführungen.

Fest steht auch das Verfahren: Es gilt, Tönnies’ Intention dergestalt nachzufolgen, dass nicht nur das von ihm Bedachte, sondern darüber hinaus auch das ungefragt Mitgedachte in den Blick gerät, auf dass die einzelnen Argumente systematisch zusammengestellt und philosophiegeschichtlich verortet werden können. Tön- 1 Tönnies 1879; Tönnies 1880a; Tönnies 1880b; Tönnies 1881.

2 Vgl. Tönnies 1880a: 56ff. u. 64ff.; Merz-Benz 1995: 77f.

Peter-Ulrich Merz-Benz, Erkenntnis und Emanation,

DOI 10.1007/978-3-658-02288-4_1, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2016

(13)

14 Die »Idee des aus seinem Keime werdenden Geistes«

nies’ Erkenntnistheorie gleichsam in problemgeschichtlicher Perspektive darzu- stellen kommt im Endeff ekt einer Gratwanderung gleich: Denn weder darf ange- sichts der philosophiegeschichtlichen Relevanz der Argumente das Originale an Tönnies’ Denken verkannt werden, noch sollte andererseits der Blick zu sehr in der Immanenz seines Denkens verhaft et bleiben. Ich habe deshalb Tönnies’ er- kenntnistheoretisches Programm an den Anfang meiner Ausführungen gestellt, die Grundzüge seiner Erkenntnistheorie je für sich ebenso wie in ihrem Aufei- nanderbezogensein beschreibend – ein Schritt, an den sich eine in drei Punkte gegliederte Erläuterung schließt.

1 Die Grundzüge von Ferdinand Tönnies’

Erkenntnistheorie

1.1 Die »Idee des aus seinem Keime werdenden Geistes«

Wie die Welt für uns denkbar, ja wie Erkenntnis überhaupt möglich wird, er- schließt sich nach Auff assung von Tönnies allein aus der – wie es in der »Vor- rede zur ersten Aufl age« von Gemeinschaft und Gesellschaft heißt – »Idee des aus seinem Keime werdenden Geistes«.3 Mit dieser »Idee« verbindet Tönnies einen zweifachen Anspruch: Zum einen soll das von Hume »entdeckte« »psychologi- sche Gesetz« der Übertragung von Wahrnehmungen in gesicherte, irrtumsfreie Vorstellungen des Bewusstseins (ideas) um seine bisher unthematisiert gebliebe- nen Voraussetzungen ergänzt und dadurch selbst erst begründet werden; zum an- deren soll auf diese Weise der Weg der Erkenntnisbegründung, wie er in der von Kant vorgenommenen Rückverlagerung der Erkenntnisvoraussetzungen in die Kategorien des Verstandes bloß angezeigt ist, nunmehr zu Ende geführt werden.

Was Tönnies mit seiner Erkenntnistheorie beabsichtigt, ist nach seinem eigenen Bekunden nichts Geringeres als eine »Auslegung des Gedankens, mit welchem Kant die Humesche Darstellung wirklich überwunden hat« – und das heißt: eine

»Auslegung theils im Spinozistischen und Schopenhauerischen Sinne, theils mit den Mitteln der diese Philosopheme erläuternden, wie auch durch dieselben ver- deutlichten biologischen Descendenz-Th eorie«.4 Gemäß dieser Auslegung, welche unmittelbar dem Duktus der für weite Teile der Philosophie des 19. Jahrhunderts charakteristischen Materialisierung der Erkenntnisvoraussetzungen gehorcht, ist das erkennende Bewusstsein mitsamt den seinen höchsten und objektivsten 3 Tönnies 1979: XVI.

4 Tönnies 1979: XVII; zweite Hervorh. v. mir; PUMB.

(14)

15 1 Die Grundzüge von Ferdinand Tönnies’ Erkenntnistheorie

Ausdruck bildenden allgemeinen Denkbestimmungen prinzipiell zu begreifen als Verkörperung des aus dem Anfangszustand der dumpfen, naturhaft en Empfi n- dungstätigkeit hervorwachsenden Geistes. Nicht im Verstand selbst als der syn- thetischen Einheit der Apperzeption sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis aufgehoben, sondern sie ruhen tiefer, nämlich in dem, was den Geist als solchen überhaupt erst zur Entfaltung seines Vermögens kommen lässt.

Der Prozess der Hervorbildung des Geistes ist gefasst nach dem Vorbild der – allerdings erkenntniskritisch gewendeten – Hobbesschen Wahrnehmungstheorie und der nach Maßgabe der »realen phylogenetischen Psychologie« verstandenen Entwicklung des Intellekts aus dem »Selbsterhaltungstrieb«.5 Realer Grund des Intellekts ist mithin das unvermittelte, naturhaft e Streben »zum Dasein selber«.6 Und in diesem Sinne »waltet«, in ihrer höchstmöglichen Verkörperung, selbst im Intellekt die Natur. Für die Entwicklung der Geistestätigkeit ist entscheidend, dass einzig vermöge der »Essenz der menschlichen Großhirnrinde« eine »be- stimmte Th ätigkeit der Coordination gefaßter Eindrücke nothwendig« ist, und einzig vermöge des Wachstums dieser »Essenz«, der zunehmenden Klärung und Verdeutlichung »einiger« der anfänglichen Empfi ndungen, sich die Koordina- tionstätigkeit weiter ausbildet.7 Der eigentliche Ausbildungsprozess des Geistes beginnt dabei – ganz im Sinne von Hobbes – auf der Stufe der undiff erenzierten Empfi ndung, führt sodann – in und mit der Ausbildung der Koordinationstätig- keit – zur Wahrnehmung des Beharrens, d.h. zu der Identifi kation des sich in den sinnlichen Wahrnehmungen gewohnheitsmäßig Wiederholenden, und endet mit der eigentlichen Erinnerung an Wahrgenommenes, welche vornehmlich mittels sprachlicher und mathematischer Zeichen geschieht. Über Hobbes hinaus gibt Tönnies der Hervorbildung des Geistes allerdings im Endeff ekt eine kritische Wendung. Denn indem Wahrgenommenes be-zeichnet wird, wird es zu einem Produkt des Denkens, und mittels Zeichen wird es als solches im Wahrgenomme- nen aufgewiesen – ein Akt der Selbstrefl exion des Geistes. Denken ist bei Tönnies ausdrücklich gleichgesetzt mit zeichenvermittelter Erinnerung8, woraus zudem ersichtlich wird, weshalb er dem Erfordernis einer klar bestimmten wissenschaft - lichen Terminologie stets eine so große Bedeutung beigemessen hat. Das wohl wichtigste Ergebnis seiner diesbezüglichen Bemühungen ist die 1906 erschienene Studie Philosophische Terminologie in psychologisch-soziologischer Absicht.9 Mit 5 Tönnies 1882: 244.

6 Tönnies 1882: 244.

7 Tönnies 1979: XVI; vgl. Tönnies 1979: 74.

8 Vgl. Tönnies 1880a: 56; Tönnies 1906: 1; Tönnies 1979: XVIII.

9 Tönnies 1906.

(15)

16 Die »Idee des aus seinem Keime werdenden Geistes«

dem Gedanken, dass alle übrigen geistigen Vorgänge lediglich Umbildungen von Empfi ndungen sind, übernimmt Tönnies im Übrigen eine Grundansicht der sen- sualistischen Psychologie, wie sie von Tommaso Campanella – einem Zeitgenos- sen und Geistesverwandten von Giordano Bruno – formuliert, erst von Hobbes aber systematisch und mit der notwendigen Bestimmungsschärfe ausgearbeitet worden ist. Und gleichzeitig wird auch deutlich, dass die Vernunft bei Tönnies nicht auf eine abstrakte, diskursive, refl exive und an Worte gebundene Erkennt- nis beschränkt bleibt, sondern zurückreicht in die unmittelbare, sinnliche Er- kenntnis, ja von dieser sich gerade als abkünft ig erweist. Selbstverständlich steht auch bei Tönnies der Rationalismus, verstanden als durch das Denken und für das Denken erschlossenes Richtmaß, noch immer als höchste Ausbildungsstufe des Erkenntnisvermögens, doch repräsentiert er nicht mehr gleichzeitig den In- begriff von Vernünft igkeit.

1.2 Das »absolute A priori« der Erkenntnis und des Erkennbaren

Auf den ersten Blick scheint diese physiologische – oder doch ›physiologisch in- spirierte‹ – Bestimmung des Erkenntnisvermögens in ihrer Intention wie auch in ihrem Inhalt unmittelbar geprägt zu sein durch die von Tönnies bei seinem Freund Friedrich Paulsen vorgefundene evolutionstheoretische Umdeutung der Kantschen Kategorien. Dass bei Tönnies und Paulsen ein entsprechender Bezug zu Kant gegeben ist, steht außer Frage, erscheint doch das Erkennen bei beiden nicht bloß als rezeptive Funktion des subjektiven Bewusstseins, sondern schließt notwendigerweise den durch den Verstand gesteuerten Gebrauch von Anord- nungsformen unserer Anschauungen mit ein, und zwar von Anordnungsformen, welche trotz ihres Status als Produkt einer intrapsychischen Entwicklung zu den- ken sind als jeder konkreten Erfahrung voranstehend. Sie sind es, die – mit Tön- nies gesprochen – Denken als eine Erinnerung an Wahrgenommenes überhaupt erst möglich machen. Während aber Paulsen seine Position konsequent durchhält – in direkter Weiterführung des Empirismus von David Hume –, verfolgt Tönnies in entscheidenden Punkten seinen eigenen Weg.

So gesteht Paulsen den Kategorien keine »absolut starre«, objektive Geltung zu10, sondern sieht in ihnen bloß zu »Axiomen« verfestigte, als solche aber revi- dierbare Einsichten in das Verhältnis von erkennendem Bewusstsein und einem Ausschnitt der empirischen Wirklichkeit bzw. – im Falle der Kausalität – von 10 Vgl. Paulsen 1892: 424.

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

seitdem hat sich das House of Finance zu einem erfolgsmodell für interdisziplinäre zusammenar- beit und clusterbildung, aber auch steten Aus- tausch mit der Praxis entwickelt..

Ich musste ALLES, was man sich auf dieser Welt NUR vorstellen kann, TRENNEN, weil die Gottes Macht und Egoisten Macht, einen Geist gegen Geist KRIEG führten, in den

In den neunziger Jahren kompen- sierte die EU eine latente Abneigung, sich politisch im Südkaukasus zu en- gagieren, durch großzügige wirtschaft- liche Entwicklungsprogramme, die

Bei der Gegenüberstellung eines rational choice- und eines neo-weberianischen Ansat¬ zes zeigt sich im Umgang mit empirischem Material aus der Wohnungsmarktforschung, dass die

Bei der «Krise der Repräsentation» verweist denzin aufdie Er¬ kenntnis, daß Forscherinnen nicht mehr davon ausgehen können, einen einfachen Zugriff auf die Wirklichkeit zu

 Die Übung soll Ihnen dabei helfen, Ihre eigenen Ressourcen zu erkennen und sich darüber klar zu werden, wie Sie diese für das Erreichen Ihrer Ziele nutzen

Manche von euch wussten bestimmt, dass ein Frank Erfeldt heute in dieser Gemeinde predigt, aber damit kennt ihr mich genauso wenig, wie Menschen Gott nicht kennen, nur weil

Liefert die Wissenschaft neue Erkennmisse, die relevant fiir die Stoff- bewertung sind oder werden k6nnen, initiiert das UBA ge- zielt Forschung zur Entwicklung neuer