DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Phänomen AIDS
Empörte Rechte, stumme Linke
Als AIDS zunächst in den USA und hauptsächlich in homosexuellen Kreisen bekannt wurde, reagierten in Westdeutschland die Konservati- ven mit Zurückhaltung oder mit Schweigen. Das Problem wurde vor- wiegend eine Domäne der Presse.
Erst als AIDS sich ausbreitete und nicht nur Minderheiten betraf, son- dern auch weitere Gesellschafts- gruppen bedrohte, begannen die konservativen und die reaktionären Kräfte sich zu rühren.
Auf die AIDS-Kranken reagie- ren Menschen, die keinen engen oder unmittelbaren Kontakt mit ih- nen haben, einerseits mit Mitleid, andererseits mit Distanz und Ableh- nung. Man sieht die AIDS-Kranken nicht so sehr als Gefahr, sondern glaubt alles „unter Kontrolle", macht sie jedoch oft zum Ziel von nicht offen ausgesprochenen Ag- gressionen.
Man beneidet die AIDS-Kran- ken einerseits, weil sie als Beispiel für ein freies und ungezwungenes Leben betrachtet werden, „freut"
sich andererseits im stillen, weil sie nun die Strafe der Natur oder Gottes bekommen, da sie sich nicht an die
„natürlichen" sittlichen Verhaltens- weisen gehalten haben. Syphilis wurde oft als Strafe Gottes zitiert, die diejenigen betraf, die mit der Se- xualität „Schindluder" betrieben.
Wenn das so wäre, hätte Gott ihnen gegenüber auch Gnade gezeigt, in- dem er das Penicillin entdecken ließ, das die Syphilis in der Regel gefahr- los macht. Die Gnade Gottes wird den Wissenschaftlern auch bald die Möglichkeit geben, ein Heilmittel gegen AIDS zu finden.
Aber daran scheint eine Gruppe konservativer Politiker, vor allen die reaktionärsten unter ihnen, nicht zu glauben. Sie sehen in AIDS eine günstige Waffe ihrer Politik, vor al- lem um Positionen zurückzugewin- nen, die sie in dem Demokratisie-
rungsprozeß der letzten Jahrzehnte verloren haben. Darunter ist die To- leranz gegenüber Homosexuellen, die wohl emotional in der Gesell- schaft noch nicht verankert ist, je- doch formell durch die vorgenom- mene Gesetzesänderung. Auch die Liberalisierung des sexuellen Ver- haltens, hauptsächlich der jungen Menschen, soll wieder rückgängig gemacht werden. AIDS kann auch, wie die Regierung in Bayern demon- striert, benutzt werden, Asylsuchen- de abzulehnen, Ausländergruppen abzuschieben, ausländischen Stu- dienbewerbern den Zugang zu deut- schen Universitäten zu verweigern.
AIDS kann auch dazu benutzt werden, Menschen den Arbeitsplatz wegzunehmen. Konservative Politi- ker haben in letzter Zeit gezeigt, daß sie nicht davor zurückschrecken, Be- griffe wiederzuverwenden, die im Nationalsozialismus benutzt wur- den, Menschen verschiedener Grup- pen zu isolieren und auszurotten. So spricht ein bayerischer Minister von ,Ausdünnen" in Beziehung zu HIV-Infizierten oder AIDS-Kran- ken. Erfreulicherweise ist festzustel- len, daß auch eine große Gruppe konservativer Politiker sich von den
„bayerischen Positionen" bezüglich AIDS öffentlich distanziert und an das Problem AIDS mit mehr Ratio- nalität herangeht.
Problem und Chance zugleich
Und wie reagiert die Linke auf das Phänomen AIDS? Während die konservativen und reaktionären Kräfte Position gegenüber dem Phä- nomen AIDS bezogen haben, kann allgemein gesagt werden, daß die Linke dazu schweigt, wenigstens bis- her. Zunächst kann diese Tatsache vielen unverständlich erscheinen, zumal davon ausgegangen wird, daß die sogenannte „sexuelle Revolu- tion" Ende der sechziger Jahre und später von der linken außerparla- mentarischen Opposition ausgegan- gen war.
Die Jahre danach haben jedoch gezeigt, daß der fortschrittliche poli- tische Prozeß der Linken sich vor-
wiegend außerhalb des emotionalen Bereichs der Menschen vollzogen hat. Während sich die Linken durch ihre progressiven Einstellungen und Verhaltensweisen auf dem sozioöko- nomischen Sektor auszeichneten, blieben sie, von wenigen Ausnah- men abgesehen, in ihrem emotiona- len Bereich konservativ. Es ist des- halb nicht überraschend, wenn man feststellt, daß von den politischen solidarischen Beziehungen bei den- jenigen, die an der Spitze der politi- schen Bewegung standen, heute kaum einige bestehen. Sie scheiter- ten aufgrund der individual-psycho- logischen Unzulänglichkeiten, die sich letztlich als sehr gewichtig her- ausstellten. Gerade die Frauenbe- wegung der letzten Jahre hat bei- spielhaft aufgezeigt, mit welchem Widerspruch viele Linken fertig werden mußten: eine progressive politische Einstellung einerseits, die auf Rationalität basierte, anderer- seits eine emotionale unbewußte Welt, die, aus einer sexualitätsfeind- lichen Erziehung oder Sozialisation hergeleitet, sich als sehr konservativ erwies. Mit anderen Worten: Man verstand die ökonomische Unge- rechtigkeit der Gesellschaft und de- ren Ursachen, man war nicht bereit, nach dem emotionalen Wert der fa- miliären Erziehung zu fragen und nach der Wirkung dieser Erziehung auf andere soziale und ökonomische Faktoren. Daß nur wenige Men- schen ohne solidarische psychosozia- le Hilfe diesen Widerspruch einlösen konnten, leuchtet wohl ein.
Wenn die „sexuelle Revolu- tion" der Linken Anfang der siebzi- ger Jahre nicht emotional von den sie tragenden Menschen selbst voll- zogen wurde, bedeutet dies nicht, daß sie keine positive Wirkung auf die nächsten Generationen gehabt hätte. Sie wirkte aufklärerisch, ent- tabuisierend und wird noch bei den nächsten Generationen ihre Wir- kung entfalten. Aus der politischen Vergangenheit der Linken muß die Lehre gezogen werden, daß Verän- derungen, die sich in der Gesell- schaft, auch im ökonomischen Sek- tor, leicht oder schwer vollziehen, nicht gleichzeitig im „Kopf" der Menschen beziehungsweise in ihrem emotionalen Bereich vollzogen wer- A-3208 (24) Dt. Ärztebl. 84, Heft 47, 19. November 1987
den. Es wirken unbewußte Mecha- nismen im psychischen Bereich der Menschen, die nicht leicht rational erklärt werden können. Zu starre positivistische Haltungen tragen zur Klärung dieser Prozesse nicht bei.
Die traditionelle Linke muß auf- hören, diese unbewußten Realitäten zu verdrängen und sie sollte diejeni- gen beachten und berücksichtigen, die auf diese Realitäten hinweisen.
Vor dem Phänomen AIDS steht die traditionelle Linke nicht unbe- dingt hilflos AIDS ist für sie ein Problem und eine Chance zugleich.
Ein Problem, weil das Feld eine Do- mäne der Konservativen und Reak- tionären geworden ist, eine Chance, weil die Linke, rational gesehen, die besten Argumente bezüglich der se- xuellen Aufklärung hat. Wenn es ihr gelingt, den Widerspruch zwischen emotionalem Handeln einerseits und sozialpolitischem Wirken ande- rerseits einzulösen, wird der Fort-
Anhaltszahlen
Harter Brocken für die
Selbstverwaltung
Ein Dauer-Streitpunkt zwischen Krankenhausträgern und Kranken- kassen: die Richtwerte und Anhalts- zahlen-Empfehlungen für die Beset- zung der Krankenhäuser mit Fach- personal und die Ausstattung der Hospitäler mit Sachmitteln. In der Tat: Die (prospektiven) Personal- planstellen sind die maßgebende Richtgröße für die Budgetverhand- lungen und die Pflegesätze. Für das Krankenhaus — ein besonders perso- nalintensiver, wenig rationalisierba- rer Betrieb — bilden die Stellenpläne und die Anhaltszahlen-Empfehlun- gen den Dreh- und Angelpunkt für die Prosperität, das Leistungsniveau und das Leistungsspektrum — und damit auch für die Kostensituation des Krankenhauses. Immerhin ent- fallen zwischen 75 und 80 Prozent
schritt bezüglich des AIDS-Phäno- mens nicht lange auf sich warten las- sen. Geschieht das nicht, besteht die Gefahr, daß die schlimmsten reak- tionären Kräfte die Oberhand ge- winnen, was sich in übelster Weise auswirken würde. Diese Wirkung würden am schlimmsten die Homo- sexuellen spüren, gefolgt von Dro- genabhängigen und Prostituierten.
Aber vor allem die Instanzen, in de- nen die Sozialisation vorwiegend vollzogen wird, die Kindertagesstät- ten, Schulen und andere Bildungs- einrichtungen, würden erhebliche Rückschläge erleiden.
Anschrift des Verfassers:
Professor Dr. med.
Enrique Blanco Cruz
Professor für Sozialmedizin an der Fachhochschule Frankfurt am Main Psychotherapeut
Zentmarkweg 72
6000 Frankfurt-Rödelheim
der laufenden Betriebskosten auf den zumeist periodenfixen Personal- kostenblock. Auch die Sachkosten enthalten ebenfalls erhebliche Lohn- kostenanteile, wie etwa der Repara- turservice belegt.
Den zeitgemäßen, „richtigen"
Personalschlüssel zur Zufriedenheit aller hat noch niemand erfunden.
Die Interessenlage ist eindeutig:
Krankenhäuser und Krankenhaus- berufe erklären unisono, daß eine qualitativ hochstehende, dem medi- zinischen Fortschritt adäquate Kran- kenversorgung einer entsprechend qualifizierten Personalausstattung und Dotation bedarf. Mit dem Fach- personal — und zwar auf Dauer und in Lebensstellungen beschäftigt — steht und fällt das Leistungsvermö- gen, das Renommee und das wirt- schaftliche Geschehen der 3100 Krankenhäuser.
Andererseits: Die Kostenträger, insbesondere die Krankenkassen, wollen auch mit Hilfe des neuen Pflegesatzrechtes über die Beset- zung der letzten Personalplanstelle (einschließlich der Auszubildenden) mitsprechen. In den Pflegesatzrun- den wird bis zur zweiten Stelle hinter dem Komma des Pflegesatzes ge-
feilscht. Mehr als 800 000 Stellen für zumeist hochqualifizierte Fachkräfte stehen auf dem Spiel .. .
Die Quadratur des Kreises .. .
Über zeitgemäße Personalan- haltszahlen und Empfehlungen für die Ausstattung und Wirtschaftlich- keit der Krankenhäuser wird gestrit- ten, nicht erst seit die (einseitig) von der Deutschen Krankenhausgesell- schaft (DKG) im Jahr 1969 dekre- tierten Anhaltszahlen-Empfehlun- gen (1974 nur unmaßgeblich fortge- schrieben) in der Welt sind. Daß diese längst überholt sind und damit weder ein moderner Klinikbetrieb
„zu machen" ist noch mit den Ar- beitszeitregelungen und den Bestim- mungen des Bundesangestellten-Ta- rifvertrages (SR 2 c BAT) in Ein- klang zu bringen ist, darüber gibt es kaum noch Meinungsdifferenzen. So klar die Absichten sind, moderne Anhaltszahlen-Empfehlungen und Wirtschaftlichkeitskriterien für das Krankenhaus zu entwickeln, so komplex, zeitaufwendig und kon- fliktreich ist dieses Unterfangen.
Die Direktkontrahenten (die Selbst- verwaltung) haben bislang ihre dia- metralen Interessengegensätze nicht überbrücken können.
Bereits nach dem alten Kran- kenhausfinanzierungsgesetz (KHG) oblag es den Selbstverwaltungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft und der Spitzenverbände der gesetz- lichen Krankenversicherung, „ge- meinsame Empfehlungen über Maß- stäbe und Grundsätze für die Wirt- schaftlichkeit und Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser, insbesondere für den Personalbedarf und die Sachkosten" zu formulieren (gemäß
§ 19, Absatz 1, Satz 1 KHG vom 20.
Dezember 1984). Nach dem Gesetz sollten dabei die „medizinische und technische Entwicklung" beachtet werden.
Bisher konnte die Quadratur des Kreises noch nicht gelöst wer- den: Bereits seit 1980 hatte die Krankenhausgesellschaft zusammen mit den GKV-Spitzenverbänden wiederholt versucht, sich auf ge- Dt. Ärztebl. 84, Heft 47, 19. November 1987 (29) A-3209