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Schapp und Nancy

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Kultur- und Sozialwissen- schaften

Kurt Röttgers

Schapp und Nancy

In: Phänomenologische Forschungen Band 2019

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Kurt Röttgers: Schapp und Nancy

Sie kennen sich nicht, und doch sind sie sich ganz nahe. Die Ähnlichkeit verdankt sich dem gemeinsamen Verfolg des Ansatzes einer asubjektiven Phänomenologie.

Asubjektivität verlangt auch von dem vorliegenden Text, dass es sich auch hier nicht um Autoren-Personen geht, also den Rechtsanwalt aus Aurich und den Emeritus aus Straßburg; deren Einander-Kennen ist schon durch den Generationenunterschied ausgeschlossen. Es geht allein um den philosophischen Text und um die Möglichkeit eines Gesprächstextes zwischen den philosophischen Texten und zwischen den Philosophien, die mit den Namen Schapp und Nancy belegt sind, gerade so wie auch Nancy in seinem Buch über das cartesische Denken gesagt hat: „Wer aber ist

‚Descartes‘? Es handelt sich nicht um Rene Descartes, den französischen Edelmann, der sich nach Holland zurückzog…“1

Die asubjektive Phänomenologie drückt sich bei dem einen aus in einem „Être-en- commun“, bei dem anderen in einem Verstricktsein in Geschichten. Im folgenden soll im ersten Abschnitt gezeigt werden, wie bei beiden die Kritik der Subjektzentrierung philosophischen Denkens begründet ist. Im zweiten Abschnitt soll dann versucht werden, beide Konzepte zu einem, einem komplexen, Modell zusammenzuführen, das münden könnte in eine Sozialphilosophie des kommunikativen Textes. Im dritten Abschnitt wird es erstens um gewisse Defizite auf beiden Seiten sowie um die politikphilosophischen Konsequenzen gehen.

1. K

RITIK DER

S

UBJEKTZENTRIERUNG

1.1 Kritik des Subjekts bei Nancy

Jean-Luc Nancy leitet her, dass der klassische metaphysische Begriff des Subjekts seine eigene Herkunft vergessen hat.2 Seine Philosophie kümmert sich nicht darum, dass ein Begriff des Subjekts aus der Wirklichkeit stammen müsste, allerdings aus der Wirklichkeit des „Ich“-Sagens in einem Text. Die Metaphysik der Neuzeit hat Descartes‘ „Cogito“ zu einem Transzendentale gemacht statt darauf zu achten, dass

1 J.-L. Nancy: Ego sum. Zürich, Berlin 2014, p. 68.

2 l. c., p. 16.

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das „Ego sum“ eine Textfunktion ist. Schlimmer noch wird es jedoch, wenn dieses transzendentale Subjekt mit „dem“ Menschen verknüpft wird, d.h. wenn die Anthropologie eine Liaison mit der Metaphysik eingeht. Dann bekommt das Subjekt die Weihe einer Substanz. Diese Metaphysiko-Anthropologie diente immer wieder dazu, den kommenden, den wahren, unentfremdeten, befreiten Menschen der Zukunft zu verkünden. Mit diesem prophetischen Projekt, kennzeichnend für den Geist der Moderne und auch noch der Spätmoderne, hat die Philosophie verschlafen, dass die Zeit der prophetischen Verkündigungen nun – in der Postmoderne – sang- und klanglos verendet ist: „die Epoche der revolutionären Manifeste“ ist vorbei. „Wir befinden uns aber in einer anderen Zeit. Eine Zeit, die man als die des Nicht- Manifests in jedem Sinne bezeichnen kann.“3 Die Philosophen der Spätmoderne ahnen nicht, „dass das Subjekt, das sie sprechen lassen – das Subjekt eines Weltbilds – vielleicht nichts mehr zu sagen hat, was auch immer man es sagen lässt.“4

In seiner Schrift über die „Wahrheit der Demokratie schreibt Nancy über jenes metaphysische Subjekt:

„Das ‚Subjekt‘ aber, das ‚Subjekt‘, das ein selbsterzeugendes, selbstbildendes,

selbstzielsetzendes Für-sich-Sein sein soll, das Subjekt seiner eigenen Voraussetzung und seiner eigenen Voraussicht – ob es nun individuell oder kollektiv sei – wurde tatsächlich von den Ereignissen überholt.“5

Um die philosophische Selbstvergessenheit und die mangelnde Erkenntnis der Funktionslosigkeit des anthropologisch-metaphysischen Subjekts aufzuhellen, bezieht sich Nancy auf den ersten Anfang der Rede vom Subjekt bei Descartes, aber nicht um Descartes zu interpretieren oder gar zu rechtfertigen, sondern um sich „an den Ort des Geschehens zu begeben, den Moment einer Begründung wiederzufinden, der Begründung des Subjekts…“6 Und der Ort dieses Ansatzes ist nicht, was Descartes über das Subjekt gesagt hat, noch einmal und anders zu sagen, sondern seine Performanz zu studieren, das Wie seines Redens, bzw. den Ort aufzuhellen, an dem ego fungiert und so etwas wie Gewissheit erzeugen kann. Und dann zeigt sich in diesem (Nach-)Vollzug, dass der Ort dieses ego nirgendwo anders ist als in diesem Sagen des cogito. „Ich äußere ich, ich bin ich-äußernd.“7 In diesem Performanz- Charakter des ego im cogito ist – anders als spätere Zeiten dachten – gerade keine Reflexivität enthalten. Es gibt kein cogito des cogito, das etwas anderes wäre als jenes cogito, und kein ego im cogito des cogito, das etwas anderes wäre als das ego im cogito. Es entzieht sich statt sich durch Steigerung abzusichern. Es bleibt in der

3 J.-L. Nancy: Die verleugnete Gemeinschaft. Zürich, Berlin 2017, p. 180f.

4 J.-L. Nancy: Ego sum, p. 17.

5 J.-L. Nancy: Wahrheit der Demokratie. Wien 2009, p. 29.

6 J.-L. Nancy: Ego sum, p. 24.

7 l. c., p.114.

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Subjekt-Theorie Descartes‘ bei dem kargen cogito: das ego sum erschöpft, „indem es sich äußert und weil es sich äußert, im Moment seiner Äußerung selbst jedes Wesen des Subjekts…“8 Was bleibt ist eine „negative Egologie“.9

Anders als die Postmoderne hätte die spätmoderne anthropologisch gefüllte Metaphysik des Subjekts gerne eine Autor-Person hinter dem Autor-im-Text als einen, der in seinem Meinen jenseits des Sagens ertappt werden kann. An dieser Stelle liegt verborgen das besondere Raffinement des cartesischen anonymen Schreibens. Der Schreibende hinter dem Autor-im-Text ist in Wahrheit ein Lesender, der Sprechende in der Maske ist ein Zuhörer des kommunikativen Textes, an dessen anderem Pol (dem Pol des Anderen) die Antworten im Text erfolgen. Dass es so ist, erscheint im Text, zwar nicht als Aussage-Inhalt, sondern in seinem Vollzug: „Die Verhüllung wurde nicht verhüllt…“10 Auch auf der Antwort-Seite des kommunikativen Textes kommt es nicht primär auf die Inhalte an, sondern auf die Performanz der Responsivität.11„Es handelt sich aber um den, der in diesem Diskurs ich sagt…“12 in Nancys Inanspruchnahme der Subjekt-Theorie bei Descartes erscheint das Subjekt substanzlos, als Ereignis des Ichsprechens: „‘Ich bin‘ ist erst wahr, wenn ich sage ‚ich bin‘.“13

Später stellt Nancy über dieses Ego fest: „Das Singuläre ist ein ego, das kein

‚Subjekt‘ im Sinne einer Beziehung von sich zu sich ist.“14 D.h. es ist bar aller Reflexivität. Er führt für diese Reinheit den Begriff der Ipseität ein, was der Funktionsposition des Selbst im kommunikativen Text entspricht.15 Diese Reinheit ist schließlich nichts anderes als das Unterscheidende einer Unterscheidung.

Das Subjekt als reine Besetzung einer Funktionsposition ohne jede Absicherung durch ein vorgängiges Substantielles, das bedeutet auch das Fehlen jedes Vorlaufs des Subjekts vor seinem Erscheinen: es ist nur in seinem Erscheinen: „cela qui ne se préexiste pas – et ne succède pas non plus – mais paraît et en somme disparaît dans son propre paraître.“16

Über die geschilderte Dekonstruktion des Subjekt-Begriffs muss hinausgegangen werden. Daher stellt Nancy in „Die verleugnete Gemeinschaft“ über sein früheres Buch „Die herausgeforderte Gemeinschaft“ fest: „Jeder der Teile des

8 l. c., p. 35.

9 l. c., p. 36.

10 l. c., p. 61.

11 Zum Begriff des Responsivität s. B. Waldenfels: Antwortregister. Frankfurt a. M. 1994.

12 J.-L. Nancy: Ego sum, p. 68.

13 l. c., p. 118.

14 J.-L. Nancy: singular plural sein. Berlin 2004, p. 62.

15 Zu diesen Parallelen zweier Theorien s. K. Röttgers: Das Soziale als kommunikativer Text.

Eine postanthropologische Sozialphilosophie. Bielefeld 2012, passim.

16 M. Girard u. J.-L. Nancy: Proprement dit. Entretien sur le mythe. o.O. 2015, p. 41.

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Buches, und damit das ganze Buch, beginnt mit einem ‚Ich‘ und endet mit einem

‚Wir‘.“17 Dieses Wir ist nicht ein Kontrakt, den einsame Subjekte geschlossen hätten, wie es die Gesellschaftsvertragstheorie der Neuzeit gewollt hatte, es ist ein Wir, in dem Autor und Leser zu einer Gemeinschaft vereint sind.18 „Das Sein oder, genauer gesagt, ‚sein‘ gehört … a priori zu der Beziehung, die jeder Vereinzelung vorausgeht.

Diese primäre Gegebenheit bedeutet keineswegs dass die Beziehung zur Verschmelzung tendiert. Sie geht dem Gegensatz von Verschmelzung und Vereinzelung voraus…“19 Oder zusammenfassend lässt sich sagen: „ ‚Wir‘ ist kein Subjekt – im Sinne einer Selbst-Identifizierung und ichhaften Selbst-Begründung … und ‚wir‘ ist auch nicht aus Subjekten ‚zusammengesetzt‘…“20

Die Dekonstruktion des Subjekt-Begriffs hat Konsequenzen, die bis zu jenem

„es denkt“ von Lichtenberg, Nietzsche und Rimbaud führen können. Zunächst jedoch folgt zweierlei daraus: erstens dass der Monolog „unmöglich“ ist, so Lacoue- Labarthe in dem mit Nancy geführten „Dialogue sur le dialogue“,21 weil das Subjekt

17 J.-L. Nancy: Die verleugnete Gemeinschaft. Zürich, Berlin 2017, p. 59.

18 l. c., p. 95.; cf. p. 135: „Um zu sprechen, müssen wir schon im Element der Rede sein, und dieses Element geht jeder Möglichkeit voraus, die Natur und die Merkmale des

‚Gemeinsamen‘* zu bestimmen, weil es dieses letztere begründet.“ Es ist die Kommunikation, die dieses Gemeinsame ermöglicht.

19 l. c., p. 141.

20 J.-L. Nancy: singulär plural sein, p. 119f.

21 Sprache ist immer adressiert – wir sagen: es ist ein kommunkativer Text, der immer mindestens zwischen Zweien stattfindet. Damit widerspricht Lacoue-Labarthe Novalis, der einen „Monolog“ geschrieben hatte (Novalis Schriften II. Darmstadt 1965, p. 672f.) und darin, von Lacoue-Labarthe übersetzt und zitiert, gesagt hatte: „Gerade das Eigenthümliche der Sprache, daß sie sich blos um sich selbst bekümmert, weiß keiner“. Lacoue-Labarthe u. J.-L. Nancy: Scène, suivi du Dialogue sur le dialogue. Paris 2013, p. 98ff. Hier schließt sich an die kurze Bemerkung zu Novalis eine längere über Heidegger an, der in „Unterwegs zur Sprache“ (M. Heidegger: Unterwegs zur Sprache (Gesamtausg. XII. Frankfurt a. M.

1959, p. 30) gesagt hatte: „Die Sprache spricht. Der Mensch spricht, insofern er der Sprache entspricht.“ Dass das allerdings nicht Heideggers letztes und abschließendes Wort ist, enthüllt nicht nur der übernächste Text „Aus einem Gespräch von der Sprache“, sondern ganz besonders die „Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung“ (M. Heidegger: Gesamtausg.

IV. Frankfurt a. M 1981), wo Heidegger die letzten Zeilen aus Hölderlins Gedicht

„Versöhnender, der du nimmergeglaubt…“ (3. Fassung) (F. Hölderlin: Werke – Briefe – Dokumente, hrsg. v. P. Bertaux. München. J., p. 164) zitiert: „… Seit ein Gespräch wir sind | Und hören können voneinander.“ Und folgendermaßen kommentiert: „Wir – die Menschen – sind ein Gespräch. Das Sein des Menschen gründet in der Sprache; aber diese geschieht erst eigentlich im Gespräch. Dieses ist jedoch nicht nur eine Weise, wie Sprache sich vollzieht, sondern als Gespräch nur ist Sprache wesentlich“ (l. c., p. 38).

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nicht substantiell so abgesichert wäre, dass es von da aus einen Monolog führen könnte. Auch ist kein Subjekt so absolut und unabhängig, dass es glauben dürfte, es sei Urheber oder gar Schöpfer des Textes, dessen Teil es ist. Im Sprechen des Ich- sagens, durch den das „Ich“ im Text seine Position einnimmt, erzeugt dieses Ich- Sagen weder die Welt, von der es spricht, noch jenes Subjekt (Subjekt-in-der-Welt), das sich als Ursprung des Sprechens fingieren könnte. Es geht im Text weder um eine Erzeugung noch irgend um ein principium. Im Text entsteht jene Konstellation, in der von vornherein a-monologisch gilt: ich spreche zu dir. Wir beide sind Positionen im kommunikativen Text: keiner ohne den anderen. Jeder Ur-sprung erzeugt sich im Text, ist selbst ein Texteffekt. Mit einem Wortspiel fragt Nancy: „L’origine n’est- elle pas le fait – l’effet même si on veut – de la parole?“22 Entwerkung (désœuvrement) möchte Nancy so verstanden wissen, dass hinter dem Werk nicht ein Werk, ein absolutes also, stünde, das Werk ist nur in der Operation, der „Werkung“, wenn man so sagen dürfte.

Zweitens folgt aus der Dekonstruktion des Subjekts die Immanenz des Textes.

Dieser Immanenzcharakter bezieht sich auch auf das Verhältnis von Leben und Text.

Entgegen der szientifischen Stammtischweisheit, dass sich das Leben (z.B. eines Autors) im Werk „ausdrückt“, gilt es festzuhalten, dass Leben eine Performanz ist, die sich im Medium des Textes performiert: ein Leben macht sich, indem es sich sagt, und es sagt sich, indem es sich macht. Mit der performativen Umstellung des Akzents von dem Gesagten und Gemachten auf das Sagen und das Machen ist auch die Philosophie mit betroffen; ihr Wesentliches ist nicht das Gesagte oder Gemachte, sondern der Prozess des Sagens und Machens; oder Heidegger hätte gesagt: nicht die Antworten zählen, sondern die Fragen: in der Welt der Machenschaften stehen die Antworten immer schon bereit, in ihr erscheint anders als in dem philosophischen Denken nichts als Frag-würdig. Oder in Anknüpfung an Heidegger, Nancy: „Es wird nicht [in der Hermeneutik] der Frage geantwortet, weil das Gespräch der Text – selbst die Antwort ist.“23

Auch schon Heidegger war ein Fundamentalkritiker der Weltanschauung der Subjektivität, und er diagnostiziert sein (unser) Zeitalter als das Zeitalter der vollendeten Subjektivität, das ein Zeitalter der Besinnungslosigkeit und Frag- losigkeit ist. Dieser zeitgenössischen Versteifung auf das Subjekt entspricht, dass der als Subjekt verstandene Mensch dem Anspruch des Seyns verschlossen ist. Als Subjekt versteht er sich als ein bloß Seiendes unter Seiendem. So wird er vollständig berechenbar und pflegt seine Ziele und Gefühle. Das Seyn ist (vielmehr es west) und es ist ohne Ziel, d.h. das Denken des Seyns ist nicht bewirkend und somit auch zu nichts „nütze“. Der Mensch als Subjekt „hat“ seine Gefühle, er pflegt sie in

22 l. c., p. 79.

23 J.-L. Nancy: Die Mit-Teilung der Stimmen. Zürich 2014, p. 37.

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Erlebnissen und er gefällt sich in den von ihm innegehabten Gefühlen, d.h. er fühlt seine Gefühle und genießt sich in ihnen und durch sie.24

Nancy hat sich mehrfach mit Heidegger auseinandergesetzt. In seinem Aufsatz über die originäre Ethik Heideggers25 stellt er darauf ab, dass das Subjekt keine gegebene Voraussetzung ist, auf die das Denken sich als ein „Sich“ beziehen könnte, vielmehr kommt das Subjekt erst durch eine Beziehung zustande. Anders gesagt: Das Dasein und mithin die Möglichkeit des Subjekts ist eben nicht der Name einer Substanz (etwas Seiendes unter Seiendem), sondern es ist der Ausdruck eines Handelns. Im Handeln geschieht ein Öffnen, ein Eröffnen von Möglichkeiten.

Infolgedessen kann es nicht die Aufgabe einer Ethik sein, erst recht nicht der

„originären Ethik“ Heideggers, Normen und Werte vorzuschreiben, sondern grundsätzlicher das zu denken, was die Eröffnung der Möglichkeit(en) des Handelns ist und was dann die Entdeckung oder Erschaffung von Normen und Werten ermöglichen kann. Mit anderen Worten: Ethik ist Ontologie.

Das wesentliche Handeln ist folglich das Denken (Heidegger hätte gesagt: es ist nicht das Planen und Berechnen von Zielsetzungen im Rahmen der Machenschaften), und denkend handeln heißt, die Sprache zur Geltung bringen. Die Sprache aber ist nicht das Mittel, die Dinge zu bezeichnen, sondern die Wirklichkeit der Sprache ist der Sprachvollzug, der Text, die parole. Der Sinn dieses Sprechens, das nicht im Subjekt begründet ist, ist als Beziehung im Miteinander die Realität des Sinns des Seins.

Um zu verdeutlichen, dass Sprache kein vorab gegebenes und für eine Gedankenübermittlung geeignetes Mittel ist, kein Instrument, sondern die Mitte selbst des Mit, rekurriert Nancy auf die Körperlichkeit. Die Körper stehen in Nähe und Berührung, sowie in intimer Distanz zueinander. Heidegger nannte dieses Zusammen von Nähe und Distanz die Fuge. Und genau dieses ereignet sich in der Körperlichkeit des Miteinander-Redens.

Was meint Nancy genauer mit der Obsoletheit des Subjekts? Mit Rekurs auf die Ereignisse des Jahres’68 dürfte klar sein, dass sich hier nicht Subjekte zusammengetan und verabredet hätten, um Dinge zu planen und dann in die Tat umzusetzen. Die „Subjekte“ waren im klassischen Sinne gar keine und wurden von den Ereignissen vereinnahmt, und zwar sowohl die individuellen wie die möglicherweise anzunehmenden kollektiven „Subjekte“. In den Ereignissen selbst etablierte sich ein Ethos der Tat, vielmehr der Ereignisse und Geschehensabläufe.

Hier trat an die Stelle der geordneten Repräsentation des Volkswillens durch Wahlen und die Ausübung der Macht von Volks-Vertretern im Rahmen der

24 M. Heidegger: Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39). Frankfurt a. M. 2014 (Gesamtausg. XCV), p. 147-157.

25 J.-L. Nancy: L‘„éthique originaire“ de Heidegger.- In: ders.: La pensée dérobée. Paris 2001, p. 85-113.

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„demokratischen“ Institution vehement die basisdemokratische Ergreifung der Macht im Herzen der Ereignisse. Eine neue Form von Kommunismus bildete sich heraus, für den galt: alle zusammen, d.h. alle und zugleich jeder Einzelne von allen.

Singulär plural sein ist die Parole, die auch den Titel von Nancys Buch von 1996 zur Sozio-Ontologie abgibt.26 Die repräsentative Demokratie hat nicht verstanden, dass sie in diesem Sinne kommunistisch sein muss; sie hat sich damit begnügt, Verwalterin von Sachzwängen und ad-hoc-Lösungen für auftauchende Probleme zu sein. Nicht mehr Planungen und Berechnungen des in errechenbarem Vorteil und als Profit „Machbaren“, d.h. im Heideggerschen Sinne der Machenschaften, standen auf der Tagesordnung, weil die Zeitlichkeit nicht mehr die der Abfolgen und der Dauer war, aus der Vergangenheit herkommend und lückenlos und linear auf dem Wachstumskurs der zu steigernden Rendite in die eindimensionale Zukunft gerichtet, sondern nun eine aufbrechende Zeitlichkeit der Gelegenheiten der Präsenz und der Begegnungen um sich griff.

In ihm hatte das Mit-sein, dessen Auspizien Sprache, Kunst, Freundschaft und Liebe waren, seine originäre Kraft zurückgewonnen. Das hatte kein Endziel, noch war es Mittel oder Investition zu einem solchen. Dieses neu erwachte Bewusstsein der Realität des Être-en-commun bedurfte keines Subjekts.

Auf einige Konsequenzen des Verzichts auf eine Subjektzentrierung bei Nancy sei hingewiesen. Sinn, ein wichtiger Begriff, ist für Nancy nicht etwas, das jemand oder die Welt „hat“. Sinn, der wir sind, wie Nancy sagt, vollzieht sich aufgrund des Selbst, bzw. der Ipseität, und Selbst gibt es nur aufgrund des Mit. Damit ist Ipseität ursprünglicher als Ich und Du, bzw. Subjekt und anderes Subjekt. Somit ist die Struktur des Selbst, der Ipseität, identisch mit der Struktur des Mit. Nancy spricht in dem Zusammenhang auch von der „Comparution“, d.h. dem gemeinsamen Erscheinen, Schapp vorausgreifend möchte man auch von einem gemeinsamen Auftauchen sprechen. Ontologisch gesehen, ist nicht erst eines da, und dann käme ein anderes hinzu, sondern Singuläres gibt es überhaupt nur plural; und umgekehrt ist Pluralität immer die von Einzelnem. „…alles existiert nur mit etwas, da alles nur ex nihilo existiert. Der erste Wesenszug der Schöpfung der Welt besteht darin, daß sie das mit aller Dinge erschafft…“27

Nancy vergleicht das Mit-Erscheinen der Comparution auch mit dem Bühnengeschehen. Das „Wir“ auf der Bühne ist die Bedingung des Auftauchens eines einzelnen „Ich“. „Wir präsentieren uns ein-ander als ‚ich‘, ebenso wie ‚ich‘ sich uns jedes Mal ein-ander als ‚uns‘ präsentiert.“28 Die soziale Welt ist ein Theater oder, wie Nancy mit Bezug auf den Situationisten Delord sagt, eine Welt des Spektakels,

26 J.-L. Nancy: singulär plural sein. Berlin 2004.

27 J.-L. Nancy: Die Erschaffung der Welt oder Die Globalisierung. Zürich, Berlin 2003, p.

86.

28 J.-L. Nancy: singulär plural sein, p. 107.

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nicht aber, wie man geglaubt hatte, eine der Subjektivität und dann der Intersubjektivität. Ego sum hat also immer auch die Mitbedeutung von ego cum, also der Ko-existenz. Das singuläre Ego ist auch deswegen kein Subjekt, weil ihm das Merkmal der Reflexivität abgeht. Vielmehr gilt: Wir: jedes Mal ein anderer, jedes Mal mit anderen.

Das ist relevant auch für die Frage der Ursprünge. Ursprung ist immer gegeben als Ursprünge, mit jedem singulären Blick in die Welt kommt ein eigener Ursprung in die Welt. Dadurch scheiden sowohl der Gedanke des in seiner Struktur einzigen Subjekts aus als auch der Gedanke des Einen Gottes als Schöpfers der Einen Welt.

Die Disposition des Auftauchens ist also Nichts, ein Nichts, das im Zwischen allen Seienden haust. So destruiert Nancy immer wieder die Einheitsbegriffe; denn Eines ist immer mehr als Eines. Ja er sagt sogar, dass der Logos wesentlich Dialog sei, ein Dialog, der nicht auf Konsens, d.h. auf Einheit ausgerichtet ist.

Das Mit mit Nähe und Distanz ist nicht per se harmonisch oder auf Erzeugung eines Einverständnisses gerichtet, es kann – anders als die Konsens- und Anerkennungstheoretiker in der deutschen Philosophie der Spätmoderne postulieren – durchaus konfliktuell sein und bleiben. Zum Sein, das im Zwischen der Kommunikation fundiert ist, gehören daher auch das Böse und schließlich auch der Tod; denn, so Nancy, niemand stirbt allein: das Sterben ereignet sich sozial.

Sein ist Kommunikation heißt auch, der Sinn des Seins liegt nicht im Gesagten oder zu Sagenden, sondern im Prozess des Sagens, in der Performanz. Schon bei Heidegger war bekanntlich Sein ein Prozessbegriff. In der ontologischen Differenz der Unterscheidung von Sein und Seiendem geht es um die Frage nach dem „ist“ in einer Aussage wie ‚Das Seiende ist‘ – und das steht im Gegensatz zu der metaphysischen Tradition, die das Sein als Sammelbegriff oder als Inbegriff der Totalität des Seienden nahm.

1.2 Fehlen des Subjekts bei Schapp

Stärker noch als Nancy betritt Wilhelm Schapp Neuland der Phänomenologie, so dass dieser Husserl-Schüler sich ernsthaft fragen muss und tatsächlich fragt, wie sein Verhältnis zur Phänomenologie beschaffen ist, und er sagt bewusst „zu den Ergebnissen der klassischen Phänomenologie.“29 Anders als spätere Kritik nimmt er die Husserlsche Phänomenologie wahr als eine Methode der Analyse von Sätzen, von Sätzen in einem logischen Zusammenhang und die Funktion von Begriffen in Sätzen.

Die Begriffe beziehen sich auf ideale Gegenstände und Sachverhalte. Das ist charakteristisch für die Herkunft der Husserlschen Methode aus Logik und Mathematik, wie sie sich ja frühzeitig in der Psychologismus-Kritik manifestiert hat.

Diese Sätze bezogen sich auf eine „Anschauung“ sui generis. Husserl selbst hat diese Herkunft – nach einer von Schapp berichteten Anekdote – als eine Einseitigkeit und

29 W. Schapp: In Geschichten verstrickt. 2. Aufl. Wiesbaden 1976, p. 169.

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als ein Defizit angesehen. Angesichts dieser beklagenswerten Einseitigkeit der frühen Phänomenologie muss Schapp seinen eigenen methodischen Ausgangspunkt in den Geschichten als „dem von Husserl diametral entgegengesetzten“ bezeichnen.30 Es sei ein Unterschied wie der des pythagoreischen Lehrsatzes zu dem Märchen von Rotkäppchen. Gewiss kann man auch die Einzelsätze des Märchens einer logischen und semantischen Analyse unterziehen. Tatsächlich aber beziehen die Sätze ihren Sinn aus der Gesamtgeschichte.

„Wir meinen, daß jeder individuelle Satz oder, was dasselbe ist, jeder Satz, der sich auf etwas Konkretes bezieht, erst in einer Geschichte seinen festen Ort erhält und damit an dem eigentümlichen Sein der Geschichte teilnimmt, daß er aber außerhalb der Geschichte den Halt verliert, den die Geschichte gewährt…“31

Was die Phänomenologen in dieser Hinsicht als einen Sachverhalt, als Relatum eines Satzes ansehen, wird bei Schapp zu einer Geschichte, zu einem Verstricktsein in Geschichten. In den Geschichten kommen die Verstrickten vor, und nur dort. Wo anderwärts von Subjekten oder von Bewusstsein die Rede ist, ist hier das Thema die Verstrickung der in Geschichten Verstrickten: „Der Ursprungsort, an dem Geschichten auftauchen, ist das Auftauchen im Verstricktsein. Hier fallen Auf- tauchen und Verstricktsein zusammen.“32 In einer Geschichte kommt aber nicht der Verstrickte allein oder isolierbar vor. Der Verstrickte ist durch seinen Ort in der Geschichte mit anderen zusammen verstrickt: „Jede Ichverstrickung enthält aber schon eine Wirverstrickung. Das Ich und das Wir lassen sich nicht trennen.“33 Das ist wie ein Widerhall aus Heideggers Analyse des Daseins als Mitdasein und entspricht Nancys Betonung der Bedeutung einer Wir-Relation. Und das gilt ebenso für den Dritten: er ist in die Wirverstrickung mitverstrickt. Der Verstrickte ist aber weder dasselbe wie ein Subjekt noch ist er ein referenzfähiger und isolierbarer Sachverhalt, ein Objekt: sein Verstricktsein ist eines in eine Geschichte.

Diese Abweichung von der klassischen Phänomenologie betrifft diese aber auch, wenn sie z.B. von Tönen als Gegebenheiten im Bewusstsein spricht; Töne sind eben keine reinen Gegenstände des Bewusstseins, sie kommen auch nur in Geschichten vor, z.B. in einem Cello-Konzert, alles andere sind „künstliche Abblendungen“.34 Genau das aber war in Husserls Zeitanalysen gefordert, von allem empirischen auf das reine Phänomen im Bewusstseinsfluss zu reduzieren: den Löwen, der brüllt vergessen und auch, dass der Ton ein Brüllen ist.

30 l. c., p. 172.

31 l. c., p. 176.

32 l. c., p. 178.

33 ibd.

34 l. c., p. 179.

(11)

„Vielleicht müßte man dazu erst den Zusammenhang zwischen Geschichten und Musik oder den zwischen Geschichten und der Stille, dem Frieden, der Wunschlosigkeit aufzeigen, oder auch zwischen den Geschichten und dem Schlaf.“35

Schapp spricht von den Verstrickten, für sie sind Geschichten das Primäre, nicht etwa

„der“ Mensch. Wir dürfen, so sagt Schapp, das Verstricktsein in Geschichten nicht

„nach irgendeinem Maßstab vom Menschen, den wir unkontrolliert irgendwo hernehmen, messen, sondern wir müssen die Geschichten so nehmen, wie wir sie vorfinden.“36 Schapp spricht nicht mehr vom Subjekt, wohl aber vom Ich. „Das in Geschichten verstrickte Ich erschöpft sich darin, daß es in Geschichten verstrickt ist.

… Das Ich ist dabei qualitätslos, alle Qualität liegt in den Geschichten.“ 37

Geht man vom qualitätslosen Ich zur Beziehung zu einem Du über, so gilt auch hier: die Beziehung als solche ist ohne einen wesentlichen Gehalt, bezieht sich allein auf eine Geschichte und ein gemeinsames Verstricktsein. Und dieses Gemeinsam- Sein in einer Geschichte gilt für jedes Du: es gibt viele Dus für ein Ich und jedesmal ist die Beziehung das Verstricktsein in eine je spezifische Geschichte: oder im Sinne von Nancy gesprochen: jedesmal ein anderer und jedesmal mit anderen.

Auch eine Leib-Phänomenologie, sei sie in einer Intercorporeité à la Merleau- Ponty, sei sie in einer Philosophie der Anerkennung gegründet, geht an der einfachen Tatsache vorbei, daß Leiblichkeit nichts reines ist, kein Grundphänomen, sondern nur als eine spezifische Modalität in und von Geschichten vorkommt: „… daß auch der Leib für uns nur insofern Leib ist, als er Geschichten erzählt oder, was dasselbe wäre, Geschichten verdeckt oder zu verdecken versucht.“38 Von der Leiblichkeit gibt es keinen Übergang zu jenem Wir, durch das Ich und Du in einer gemeinsamen Verstrickung in eine Geschichte verbunden sind. Aber auch das Ich, sagen wir die Ich-Funktion, ist nicht, abstrahiert vom Verstricktsein, etwa durch objektivierende und fixierende Introspektion zu ergründen. Im Zwischen der Geschichten haben wir den Zugang zu dem, was überhaupt Ich heißen darf. So wie bei Heidegger Dasein immer auch Mitdasein ist, so ist bei Schapp das Verstricktsein immer schon Mitverstricktsein. Zwischen Ich und Du tut sich kein Abgrund auf, weil beide nichts Substantielles sind, das dann erst sekundär in eine Beziehung und in eine Geschichte einträte. Ich und Du sind nur als gemeinsam in die Geschichte im Zwischen von ihnen Verstrickte. „Wir sind der Meinung, daß sich das Menschsein erschöpft im Verstricktsein in Geschichten, daß der Mensch der in Geschichten Verstrickte ist.“39

35 l. c. p. 180.

36 l. c., p. 187f.

37 l. c., p. 190.

38 l. c., p. 100.

39 l. c., p. 123.

(12)

Die Theorie der Wahrnehmung in einer Bewusstseins-zentrierten Phänomenologie wandelt sich bei Schapp zu einer Lehre vom Auftauchen. Dieser Unterschied ist gravierend. Die Wahrnehmungstheorie assoziiert die Wahrnehmung von etwas als etwas, d.h. verbunden mit einem Allgemeinbegriff. Gegenüber einer solchen Wahrnehmungstheorie spricht Schapp mit auffälliger Reserve: Wahrnehmung,

„wenn es überhaupt so etwas gibt…“40 Auftauchen aber tut jeweils etwas Singuläres:

ein einzelner Löwe und nicht ein Exemplar der Gattung der Löwen. Für Schapp ist die Gattung der Löwen nichts anderes als die vielen Löwen. Der Begriff des Auftauchens bezieht sich auf die Sinnhaftigkeit von etwas in Geschichten und damit auf den tätigen und schaffenden Menschen, während der epistemisch ausgerichtete Wahrnehmungsbegriff ein stofflich und raumzeitlich Vorhandenes als das Wahre nimmt. Dazu muss diese Wahrnehmungstheorie die Dinge aus ihrem Zusammenhang herauslösen und sie sich als Isolierte vor-stellen. Das ist aber (in dieser Isolation der Dinge voneinander) ein Fälschung: „lauter gefälschte Gegenständlichkeiten“.41

2. N

ANCY MIT

S

CHAPP

Für asubjektive Philosophien steht entweder gar nichts oder etwas anderes als das Subjekt im Mittelpunkt des Interesses im Grund der Begründungen. Aber selbst wenn es gar nichts ist, ist doch diese Leerstelle eine markierte Leerstelle. Als markierte Leerstelle, an der sich „nichts“ befindet, d.h. nicht Etwas (nicht einmal das Nichts), ist sie doch ein Zwischen, umgeben von Etwas. Es ist eine Relation, deren sprachliche Form nur Präpositionen oder Adverbien sein können. Aber wenn auch diese Relation nicht selbst gewissermaßen statisch als ein Quasi-Etwas42 aufgefasst werden soll, muss sie sich als ein relationaler Prozess darstellen. Als Prozess aber verliert sie die Eindeutigkeit, sie ist Beziehung-im-Vollzug: Differenz. Für Nancy ist sie das Mit des Miteinander, eigentlich genauer: mit im Miteinandersein. Mit löst Identität auf, bzw.

macht sie zum Ereignis.43 Wenn es um den relationalen Prozess geht, bestimmt dieser jeweilig, von Moment zu Moment und von Ort zu Ort differierend, was die Relata sind: Selbst und Anderer im Prozess, oder Ich und Du sind je verschiedene: Selbst ist immer wieder ein anderer und ist im Prozess immer wieder mit anderen. Ob diese nun Selbst und Anderer oder Ich und Du oder Verstrickter und Mitverstrickter heißen, ist nicht so wichtig. Entscheidend ist das Zwischen, das sie temporär und lokal verbindet. Was im Mit so auf flüchtige oder auch auf stabile Weise zusammenfindet,

40 l. c., p. 72.

41 l. c., p. 73.

42 Michel Serres spricht von der Spielkarte des Jokers als einem „Quasi-Objekt“, sie tritt in Beziehungen ein, ist aber an sich nichts, hat keinen eigenen Wert, sondern nur einen Funktionswert. M. Serres: Der Parasit. Frankfurt a. M. 1981, p. 235ff., 344ff.

43 Cf. K. Röttgers: Identität als Ereignis. Bielefeld 2016.

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müssen eben nicht Subjekte sein oder gar „Menschen“; es könnten auch Tiere oder Smartphones sein oder dgl.; wichtig ist allein, dass der Prozess im sozialen und temporalen Zwischen als ein Sinnprozess ausgezeichnet ist, d.h. diskursiven Charakter hat, und das wiederum heißt, eine Anschlussmöglichkeit bereithält.

Es sind nicht nur nicht die Subjekte oder „der“ (metaphysisch-anthropologisch aufgeladene) Mensch, die den Fortgang des Prozesses garantieren, weil die Funktionspositionen (Selbst und Anderer) und ihre jeweiligen Besetzungen und Umbesetzungen vom Miteinander, sondern es gibt auch jenseits dieser Dualität keinen Dritten außerhalb, der als „Autor“ des Fortgangs angesehen werden darf. Der Prozess selbst ist der Dritte. Eine solche Sorte von Phänomenologie ist zwangsläufig eine Immanenzphilosophie, und als Immanenzphilosophie ist sie ebenso zwangsläufig eine pluralistische Philosophie, ein Pluralismus der Singularitäten.

Alles ist mit allem zusammen und doch und vielleicht gerade deswegen einzig; oder:

verstrickt ist es mit allem anderen in vielfältigen Geschichten. Die Fiktion des einsamen, vertragsfähigen Individuums vor aller Bindung an andere ist endgültig aufgegeben. Das „Wir“ ist unhintergehbar, aber eben nicht als ein substantiell identifizierbares Kollektiv, sondern offen für den stetigen Wandel von Zugehörigkeit: in immer neue Geschichten sind wir eingelassen.

Was geschieht in diesem Zwischen? Für Nancy ist es das Zusammen und Nähe und Distanz in der Berührung. Und auch Schapp spricht davon: „Durch seine Geschichte kommen wir mit einem Selbst in Berührung.“44 Und diese nächste Berührung geschieht nicht unbedingt fleischlich, sondern vor allem in der Rede, in den Geschichten, die wir nicht nur über jemanden, sondern von/mit ihm hören.

Es gibt freilich auch die anderen Berührungen, physische, körperliche, und gerade für diese hat man spezielle Berührungsvermeidungen eingeführt und in Jahrhunderten der Disziplinierung durchgesetzt. Ist eine der körperlichen Anrührungen der Gestank, so ist seit Einführung des Geldes klar: pecunia – anders als pecus, das Vieh – not olet. Geld erspart Berührungen, gesteigert in Krediten, Fonds und Derivaten. Für rechtlich unsaubere Geschäfte wird daher „Stinken“ zur bloßen Metapher, in der dann Berührung nur noch quasi stattfindet. Ein anderes Beispiel wäre die Transformation der Kampftechniken. War vor Zeiten für eine Tötung des Feindes ein Körperkontakt unvermeidlich45 und ist sie in den sportlichen Kampftechniken (ohne Tötungsabsicht) noch heute, so ist schon seit Erfindung des Schießpulvers, dann des Luftkriegs und noch in der Bombardierung von „Targets“

durch von weit her gesteuerten Drohnen die Kriegstechnik ebenfalls zu einer Spielart der Berührungsvermeidung geworden. Und findet die Exekution von „Terroristen“

wie Osama bin Laden allgemeine Billigung, so wird von einem, der in der

44 W. Schapp: In Geschichten verstrickt, p. 105.

45 … jedenfalls im zentraleuropäischen Landkrieg, im Unterschied zum angelsächsischen See- und dann Luftkrieg; s. dazu C. Schmitt: Land und Meer. Leipzig 1942.

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Ausführung eines Mordes blutige Hände davonträgt, gesagt, sein Verbrechen sei ein besonders brutales Verbrechen gewesen, d.h. selbst für die Bewertung von Verbrechen fordern wir Berührungsvermeidung.

Was aber in der stattfindenden Berührung im Zwischen des kommunikativen Textes tatsächlich geschieht, ist von der Art der Ansteckung, nicht von der Art der Verursachung. Der Unterschied liegt darin, dass in der Ansteckung ein Feld der Ansteckungsbereitschaft eröffnet ist, während kausale Einwirkung unidirektional vom Verursacher auf ein nicht näher zu spezifizierendes Objekt erstreckt. Im Feld der Ansteckung bzw. auch der Verführung geschieht Berührung, sei sie nun eine körperliche im Kontakt, oder sei sie nun unkörperlich-distanziert. Schönstes Beispiel ist der Tanz, in dem sich die Körper berühren – oder auch nicht. Besteht kein direkter körperlicher Kontakt, berühren sie sich dennoch: in den Blicken und in den Bewegungskoordinationen des Rhythmus. Sie tanzen gemeinsam, in Gemeinsamkeit.

Dennoch – und das ist für die Berührung im gemeinsamen Text ebenso fundamental wie für den Tanz – gibt es keinen Konsens und auch kein Anstreben eines Konsenses oder auch nur eines Kompromisses. Der Prozess ist insofern autark, als er nicht von den Egoismen von Individuen und ihren bewirkenden Durchsetzungsinteressen oder deren Vermittlung getragen ist. Daher kann Nancy sogar sagen; dass in Berührung des Unberührbare berührt wird.46 In körperlicher Berührung ist daher nicht das

„Begrapschen“ das Grundmodell, sondern die zärtliche, flüchtige Fast-Berührung. In ihr ereignet sich Sinn. Das Sinn-Ereignis entzieht sich also der An-Eignung. Daher kann Nancy auch sagen „Denn nur mit ergibt Sinn.“47 Es geht darin nicht um ein Objekt, das angesprochen würde, sondern es geht um den Prozess des Ansprechens und Berührens. Diese Berührung nennt Nancy daher auch „intime Distanz“; denn nicht um Aneignung oder gar Verschmelzung geht es, sondern um das Zugleich von Nähe und Distanz im Prozess im Zwischen. Eine solche Berührung veranschaulicht sich auch in der Nacktheit der Körper füreinander.48

In Geschichten taucht etwas auf. Phänomen ist das, was in Erscheinung tritt oder auftaucht. Mit dem Auftauchenden taucht auch die Geschichte und mit ihr tauchen die Mitverstrickten auf; das Auftauchen ereignet sich im Medialen der Geschichte.

Im Französischen steht dafür das Konzept des „venir en présence“. Das meint grundsätzlich anderes als Präsentieren oder gar Repräsentieren. Denn das Präsentieren setzt immer eine Präsentierungs-Instanz (z.B. ein Subjekt) voraus, während das „venir en présence“, das Auftauchen, reines emergentes Ereignis ist. Präsentieren ist Wirken, Auftauchen ereignet sich. Das zu Präsentierende ist schon da, nur noch nicht hier. Das ereignishafte Auftauchen ist plötzlich, ohne

46 J.-L. Nancy: Le Sens du Monde. Paris 1993, p. 132.

47 J.-L. Nancy: singulär plural sein, p. 12.

48 J.-L. Nancy: La pensée dérobée, p. 17ff.

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Kontinuität oder präexistierende Identität.49 Das gleiche gilt für die Subjekte im Rahmen der asubjektiven Phänomenologie. Subjekte sind keine Originale, sondern sie tauchen auf und wieder unter.

Von dem Moment an – das gilt auch bereits für Heidegger –, wo der lógoς das in die Präsenz-Kommen bezeichnet, hört das Subjekt auf, eine Figur des Entspringens zu sein. Das légein im lógoς ist reine Beziehung ohne Ursprung (arc®, principium).50 Auftauchen ist immer (wieder) neu. Damit begründet es die Singularität: ‚es gibt XY‘ ist eine im Deutschen sehr zweideutige Ausdrucksweise; denn es liegt nahe, nach dem „Es“ zu fragen, das wie ein Geber einer Gabe auftritt – das französische ‚il y a‘ scheint da semantisch harmloser zu sein, weil das „y“ sich zwischen „il“ und „a“ eingefügt hat.– Nancy sagt: „Wir erscheinen, und dieses Erscheinen ist der Sinn.“51 Und weiter: „Der Sinn, das sind wir.“52 Aber es ist eben nicht so, dass Singularität bedeutete, dass jeder einzeln erschiene und dann das Erscheinen des Anderen sähe oder abwartete, so dass dann als Effekt ein Wir erschien, zusammengesetzt aus einzelnen Erschienenen. Auftauchen bzw. Erscheinen ist bei Nancy non vornherein Com- parution, gemeinsames Erscheinen, so dass Comparution ursprünglicher ist als jede Verbindung. Genau genommen ist Comparution also das Erscheinen einer Relation im Zwischen.

Im Auftauchen entsteht nicht ein Etwas, z.B. ein substantielles „Wir“.

Auftauchen ist Auftauchen in der Sichtbarkeit. Bei Deleuze steht an dieser systematischen Stelle die Falte, le pli mit Im-plikation und Ex-plikation. Sie ist das Ereignis nicht im Sein, sondern es ist des Seins. Anders als Heidegger, der nach dem Sinn von Sein fragt, stellt Nancy fest, dass erst Sinn (der wir sind) Sein begründet – das genau ist der Clou einer Sozio-Ontologie, die Heidegger trotz der Analyse des Mit-Seins nicht weiter verfolgen konnte.

Wo aber fängt eine verbindende Geschichte an, wenn nicht, wie gesagt im Subjekt, wenn also Geschichten einfach auftauchen – oder wieder auftauchen?

Von wo tauchen sie auf? Schapps sehr vorläufig erscheinende Antwort lautet:

die Geschichte taucht in einem Horizont auf. In ihrem Auftauchen ist sie darauf angewiesen, dass es diesen Horizont für ihr Auftauchen gibt. Und wir sind die Verstrickten, nicht die Urheber dieser Geschichten. Deswegen ist auch die Suche nach einer ersten, quasi Gründungsgeschichte für alle einzelnen Geschichten sinnlos. Gewiss, Geschichten, insofern sie erzählt werden und vom Erzählen

49 Cf. dazu J.-L. Nancy: Von der Struktion.- In: Die technologische Bedingung, hrsg. v. E.

Hörl, p. 54-72, hier bes. p. 66f.

50 Zu Heidegger in diesem Sinne s. R. Schürmann: Le principe d’anarchie. Paris 2013, p. 169- 187.

51 J.-L. Nancy: Das Vergessen der Philosophie. Wien 2001, p. 99f.

52 l. c., p. 99.

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abhängen, fangen irgendwie an; aber Anfänge sind keine Ursprünge; denn sie sind verstrickt mit anderen Geschichten, in die die Verstrickten und Mitverstrickten verstrickt sind. Gleiches gilt analog für das Ende der – eben der jeweiligen – Geschichte; denn das Geschichtenerzählen hört nicht auf: sein Text geht weiter in weiteren Verstrickungen: „Eine Geschichte mit einem absoluten Anfang oder der absolute Anfang einer Geschichte kann nicht auftauchen.“53 Eine solche Geschichte kann man in Abstraktion von vielem als Möglichkeit denken, aber sie könnte nicht auftauchen.

In ihrer Karikatur spätbabylonischen, will sagen postmodernen Denkens spricht Monika Schmitz-Emans davon, dass in diesem Diskurs der Autor, der doch bislang als „Ursprung“ des Sinns galt, zur Schimäre erklärt worden sei.54 Und so ist es in der Tat: der Autor, sagen wir in allgemein-philosophischer Hinsicht: das Subjekt, das doch nach der erzwungenen Abdankung Gottes Ursprung und Gestalter der Welt sein sollte und wollte, ist nur noch Moment eines Prozesses, dessen Ausgangspunkt es nun auch nicht mehr ist – darin folgte es seinem (göttlichen) Vorbild. Für Heidegger beispielsweise hat das Dasein seinen Ursprung nicht mehr im Subjekt – ja für den ganzen Subjekt-Kult der neuzeitlichen Metaphysik bleibt ihm nur Verachtung und Spott. Und das Ereignis wiederum hat seinen Ursprung nicht in Etwas, das ihm vorausging oder es veranlasste. Was etwa sollte z.B. dem Ereignis der Verführung veranlassend vorausgehen?

Um diesem Gedanken des Ur-sprünglichen gerecht zu werden, ist es nötig, einen Blick auf die Unterscheidung von Ursprung und Anfang zu werfen. Einen Anfang zu machen, etwas zu beginnen ist eben ganz etwas anderes als einen Ursprung, eine Arché zu gründen. es sei denn man gäbe dem Begriff seinen im Deutschen präsenten Sinn des Ur-Sprungs zurück. Der Ursprung in diesem Sinne liegt jenseits eines Gründungsmythos: der Ur-Sprung ist ein Sprung angesichts eines Abgrunds. Vielmehr: dieser Sprung vollzieht die Abständigkeit, die Distanz. So kann Heidegger sagen, dass das Sein keinen Ursprung hat – es ist der Ur-sprung.55

Für die französische Gegenwartsphilosophie steht für diese ganz andere Topologie, die den Ereignischarakter Ur-sprungs hervorhebt, der Terminus

„venue à la présence“ oder „venue en présence“, zu deutsch einfach das Auftauchen, ein von Schapp markant gebrauchter Ausdruck. Seit Aristoteles (Met. 1012 a 17) fielen in Arché Ursprung und Herrschaft zusammen; dem

53 W. Schapp: In Geschichten verstrickt, p. 88.

54 M. Schmitz-Emans: Ein Brief aus Babel über unsere (ganz alltägliche?) Dekonstruktion.- In: Zeno 15 (1993), p. 4-44, hier p. 20.

55 M. Heidegger: Überlegungen VII-XI (Schwarze Hefte 1938/39). Frankfurt a. M. 2014 (Gesamtausg. XCV), p. 305.

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entzieht sich ein an-archisches Denken.56 Deswegen beschwört Heidegger so nachdrücklich vorsokratisches Denken: es ist an-archisch. Ursprung ist hier nur Auftauchen und damit die Vermeidung des Gedankens, bzw. des Mythos, dass dem Anfangen eine Normativität innewohnt, wie noch der Mystagoge Hermann Hesse dichtete: „Und jedem Anfang wohnt eine Zauber inne, der uns beschützt und uns hilft zu leben.“ Zauber mag ja noch angehen, aber die Normativität der Ordnungs-Garantie qua Gründung ist gründlich hinfällig geworden. Es müsste endlich realisiert werden, was wir an Einsicht Jacques Derrida verdanken: den reinen, den einfachen Ursprung gibt es gar nicht. Schon am Ursprung ist die Differenz am Werk und spaltet ihn. Und Derrida zitiert Valéry: „Der Himmel bewahre euch vor Fragen des Ursprungs.“57 Vielzitiert ist daher auch sein Diktum: „Es ist einer Kultur eigen, daß sie nicht mit sich identisch ist“,58 und zwar deswegen, weil Kultur eben nicht einen einzigen Ursprung hat. Die methodische Konsequenz ist, dass der Ursprung von der Spur her gedacht werden muss. Wie eine Quelle nur deswegen als Quelle gilt, weil aus ihr einiges fließt.

Man kann die Quelle selbst nicht daraufhin befragen, was sie an sich ist, abgesehen von dem aus ihr erfolgenden Fließen. Nur im Resultat, nicht in ihrer Ursprünglichkeit ist sie. Vor der Quelle ist keine Quelle, aus der sich ergibt, dass sie quillt: sie ist reines Sichereignen – keine Kausalität, keine Motivation. Die Quelle ist ur-sprünglich.59 Also muss man, wie schon Novalis bemerkte,60 die Verschiebungen, die Veränderungen, Metamorphosen und Palingenesien beachten, statt den Ursprung oder den Anfang fixieren zu wollen; wir benötigen eine Philosophie der Übergänge, nicht des Ursprungs oder absoluten Anfangs.

Gleichwohl, das braucht nicht geleugnet zu werden, gibt es für viele Denker (für Novalis war es selbstverständlich Fichte) und für den Alltagsverstand eine Faszination, die vom Ursprung ausgeht; denn die Fiktion des einen und eindeutigen Ursprungs scheint das Erkennen mit einem festen Bezugspunkt und der Möglichkeit eindeutiger Unterscheidungen auszustatten, und ebenso das Handeln mit der klaren Scheidung des Guten und des Bösen (folglich der Guten und der Bösen).

56 K. Röttgers: Die Möglichkeit einer an-archischen Praxis.- In: Praxis denken, hrsg. v. Th.

Alkemeyer, V. Schürmann, J. Volbers. Wiesbaden 2015, p. 51-79; auch unter dem gleichen Titel als http://www.fernuni-hagen.de/imperia/md/content/philosophie/textdokumente/an- archisch.pdf.

57 J. Derrida: Randgänge der Philosophie. Wien 1999, p. 308.

58 J. Derrida: Das andere Kap. Die vertagte Demokratie. Frankfurt a. M. 1992, p. 12.

59 U. Guzzoni: Wasser. Berlin 2005, p. 85-88.

60 Novalis: Novalis: Schriften III. Darmstadt 1968, p. 383. „(Wozu überhaupt ein Anfang?

Dieser unphilosophische oder halbphilosophische Zweck führt zu allen Irrthümern.) Theorie der Berührung – des Übergangs – Geheimniß der Transsubstantiation.“

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Unweigerlich stößt man aber schnell auf die unvermeidbare Einsicht, dass es nicht weit her ist mit der Einheit und der Reinheit eines Ereignisses als Ursprungsphänomen. Jedes Ereignis ist zugleich auch eine Übersetzung anderer Ereignisse. Das unvordenklich Neue stellt sich mindestens im Nachhinein als Abschattung vergangener Ereignisse dar. Jeder Ursprung ist Variation anderer, u.a. vergangener Ursprünge. Das Ereignis tritt auf im Horizont, der von vergangenen und von möglichen Ereignissen gebildet wird. Jeder Horizont ist eine Fülle von Möglichkeiten: verspielten, unergriffenen und unmöglichen Möglichkeiten. Jedes ursprüngliche Ereignis ist das Auftauchen aus diesem Meer von Möglichkeiten. Genau deswegen erfüllt das Ereignis im Ursprung nicht das Muster der Arché, nämlich Herrschaftsgründung zu sein, m.a.W. es gibt archische und an-archische Ursprünge. Heidegger bezieht sich, wie gesagt, auf den an-archischen Ursprung des vorsokratischen Philosophierens: es ist eine Philosophie des Auftauchens. Das An-archische ist ein Prozess-Denken, ein Denken des Werdens, nicht mehr ein Denken auf ordnungsbegründende Prinzipien hin. Hier ist der lógoς auf das légein bezogen auf den Prozess des Sammelns und Auflesens, der Lese wie im Weinbau.

Vor aller Ordnung (und Unordnung) gibt es das Chaos, das ja eben recht verstanden, kein Gegenteil von Ordnung beinhaltet, sondern das Gähnende, Klaffende, die Kluft, die erst in der Folge die Unterscheidung von Ordnung und Unordnung ermöglicht. Das Chaos selbst aber hat keinen Ursprung und ist kein Ursprung, sondern es ist der Horizont der Ermöglichung von Ursprüngen. An dieser Stelle trägt eine Gedanke weiter, den Bernhard Waldenfels formuliert hat, indem er präordinales Ungeordnetes von intraordinalem Unordentlichem unterscheidet:61 „Der Versuch läuft darauf hinaus, das, was der Ordnung vorausgeht, zu thematisieren als das, was über die Ordnung hinausgeht.“ Das Ursprüngliche liegt nicht hinter, sondern vor uns. Dieser Gedanke ist auch ein zentraler Gedanke, mit dem Nancy das Thema des Ursprungs behandelt. Mit Miteinandersein begegnen sich verschiedene (singulär plural) Ursprünge von Welt. Wegen der Singularität sind diese Ursprünge inkommensurable Variationen und Wiederholungen. Der Ursprung, der Eine Ursprung, den wir suchen, liegt also in der kommunikativen Vernetzung und Vertextung der Vielheit der Ursprünge. Und die Welt hat nur diesen Einen Ursprung, nämlich die Vielheit der Ursprünge.

*

61 B. Waldenfels: Ordnung im Zwielicht. Frankfurt a. M. 1987, p. 173f.

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Geschichten werden erzählt und wieder und weiter erzählt; dazu weiß Schapp einiges, auch anschaulich Konkretes zu sagen. Bei Nancy aber bleibt in signifikanter Weise offen, was in diesem Miteinander der „Mit-Teilung der Stimmen“ eigentlich geschieht. Dort ereignet sich Kommunikation und die stiftet das Gemeinsam-Sein. Aber was heißt das eigentlich konkret? Wir können ziemlich genau wissen, was dort nicht geschieht: Kein Zusammenschmelzen der Singulären zu einem großen Ganzen, und auch kein bloß durch Verträge gemäßigtes Aneinandervorbei der isolierten Individuen; die Sozio-Ontologie ist in dem Sinne eine negative Ontologie, sie meidet (weitgehend) affirmative Aussagen über das Zwischen.62 Die kaum abzuweisende Vermutung ist, dass Nancy deswegen wenig zur Ausgestaltung des Gemeinsam-Seins zu sagen weiß, weil ihm die kategorialen Mittel fehlen, die eine Analyse jenes Mit/Zwischen gestatten würden – ähnlich wie bereits bei Heidegger. Insbesondere seine im Laufe der Zeit gewandelten Einstellungen zum Begriff der Gemeinschaft (in der Auseinandersetzung mit Blanchot und Derrida), aber auch seine Vorsicht angesichts des Begriffs der „Fraternité“ verweisen auf nichts anderes als eine im Endeffekt negative Ontologie.

An dieser Fehlstelle würde eine Sozialphilosophie des kommunikativen Textes einsetzen und kategoriale Raster bereitstellen, die es ermöglichten, detailliertere Analysen des Zwischen, des Mediums also, zu ermöglichen; deren weitergehende Möglichkeiten seien hier nur erwähnt, können aber an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.63

62 Das wird kritisiert als ein Zuwenig von Ontischem in dieser Ontologie von O. Marchart:

Mit-Sein als Gegen-Sein. Jean-Luc Nancy zu Gerechtigkeit, Politik und Demokratie.- In:

Sozio-Ontologie und Staat: Jean-Luc Nancy, hrsg. v. K. Röttgers. Baden-Baden 2018, p.

139-153.

63 Verwiesen sei auf K. Röttgers: Kategorien der Sozialphilosophie. Magdeburg 2002, sowie ders.: Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologische Sozialphilosophie.

Bielefeld 2012; ferner ders.: Kategorien der Sozialphilosophie, Bd. II, abrufbar Kap. 1-3 unter http://www.fernuni-hagen.de/roettgers/aktuelles.shtml.

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