Sitze im Schall und war- te. Wo bleibt der nächste Patient?
Möchte aufspringen, aktiv werden, das Licht anmachen und Briefe diktie- ren oder einen Artikel lesen. Aber nein, all das lohnt nicht, der nächste Patient kommt sicher gleich.
Sitze im Schall und war- te. Telefon: „Ist K. da?“ – „Nein“ (K. ist mein Oberarzt). Blättere durch die
„Schallanforderungen“. Die Frage- stellung beim nächsten Patienten lautet: „Z. n. Bauchschmerzen, Ap- pendizitis?“ Was soll ich da untersu- chen? „Nichts“, sagt K., „über die Hälfte der Schalluntersuchungen ist unnötig.“ Hm, das würde immerhin bedeuten, daß fast die Hälfte der Arbeit Sinn macht. Damit lägen wir ja besser als sämtliche Qualitäts- sicherungsgremien und auch nur knapp unter der Chefvisite. Wenn wir allerdings die unnötigen Schalls weglassen, könnte ich hier hocken, ohne zu warten. Ich könnte dann auch einmal denken. Das Denken würde durch die Patientenbesuche nicht so häufig unterbrochen. Ich würde mich ins Schreibzimmer set- zen und mit der Hübschen zusam- men auf den Abend warten. Wir würden lästern, daß der Computer so langsam ist und wir deshalb nicht vorankommen.
Sitze im Schall, warte und beantworte Telefonanrufe. Für jedesmal „Nein, K. ist nicht da“ ritze ich eine Kerbe in die Untersuchungs- liege (es ist bereits die zweite).
Früher wollte ich immer Filme- macher werden, bewegende Schick- salsmomente inszenieren, große Tra- gik, dargestellt und komprimiert in ei- ner einzigen Szene, und die ganze Ge- schichte entsteht vor dem geistigen Auge, ein hingehauchter Satz, und alles ist klar. So ähnlich, wie ja auch ei- ne kurze Schallanforderung wie „TU?
Bitte Ganzkörperschall“ mehr aus- drückt als hundert klinische Angaben zusammen. Karge Worte wie „Niere?“
stellen ja doch so etwas wie eine meta- physische Verbindung zwischen An- forderer und Ultraschaller her. Wenn
es statt „Niere?“ hieße: „Im Vorbe- fund leichte Dilatation des kaudalen Nierenbeckens links“, würde die zarte Welt der Phantasie und der frei assozi- ierten Gedanken sofort zerstört. Lie- ber in Gedanken an das Weltall und die dortigen Galaxien von Differen- tialdiagnosen einen Patienten von oben bis unten durchschallen, als in ei- nem faden Sofortblick erfassen, daß
das linke Nierenbecken noch genauso wie am Vormittag leicht dilatiert ist.
Es klopft, meine attraktivste Kol- legin betritt den Raum. „Ist K. da?“
Trotzdem schön, daß sie da war.
Sitze im Schall und war- te. Wollte ich heute morgen mal Kon- versation machen, habe dabei ge- merkt, daß ich einen der Herren Syn- kope–Herz? mit einem der Herren Grippe–Niere? verwechselt habe.
Wodurch unterscheide ich mich von beiden? Nehme den 3er-Schall- kopf, halte ihn an meine Schläfe.
Hoffe mehr Hirnwindungen zu ent- decken, als alle anderen haben, we- nigsten einen zusätzlichen Hirnlap- pen. Meditiere über das Flimmern am Bildschirm, glaube ein „H“ zu erken-
nen, jetzt ein „A“, dann zweimal ein
„L“, dann ein „O“ – „Hallo“?
Was will mir mein Schallkopf da- mit sagen? „Hallo, ich bin eine verzau- berte Assistenzärztin“ erscheint jetzt nach und nach auf dem Bildschirm.
„Außerdem ist mein Vater Chefarzt.
Küß mich, und morgen bist Du Ober- arzt.“ Denke nach: Was ist, wenn der 3er-Schallkopf lügt, wenn ich ihn oder sie küsse und nichts passiert? Werde ich dann zum Gelächter und Gespött aller anderen Schallköpfe? Die anderen Schallköpfe rühren sich nicht, der Lüf- ter lüftet, die Fische im Aquarium- bildschirmschoner blicken betreten zur Seite. Andererseits, wäre ja nicht schlecht, so ein Oberarztpo- sten. Zärtlich entferne ich dem Schallkopf das Gel vom Kopf, beu- ge mich herunter, um ihn zu küssen.
Der nächste Patient kommt herein.
Ich schrecke hoch, der Schallkopf fällt zu Boden, auf dem Bildschirm erscheint: „TILT“ und dann klein- gedruckt: „Das wäre Ihre Chance gewesen.“ – Pech.
Sitze im Schall und warte. Der nächste Patient kommt und kommt nicht. Eben hat mein linker Großzehennagel den Socken durchbohrt, gerade als ich versuchte, kraft meiner Gedanken, das Ultraschallgel vom Topf in die Tuben zu beamen. Blättere wieder durch die Schallanforderungen;
stelle fest, daß die Stationen die Technik der „fraktionierten Schall- anforderung“ bis auf olympisches Niveau kultiviert haben. („Fraktionier- te Schallanforderung“ heißt: Nieren- sonogramm erst anfordern, wenn der Patient vom Herzschall zurückkommt, Neuroscreening erst zwei Tage nach dem Nierenschall und so weiter.)
Ich habe mittlerweile auch bei mir zu Hause die Vorhänge stets geschlos- sen; ich meide offenes Tageslicht, den Farbfernseher habe ich durch ein kleines Schwarzweißgerät ersetzt. Ge- gen meinen Schiefhals sind Voltaren und der Orthopäde machtlos. Eine Ultraschalltube habe ich mitgehen las- sen. Irgendwie erregt mich das Furz- geräusch, wenn sich der Glibber aus der Tube ergießt. Meine Freundin hat versprochen, zu mir zurückzukom- men, wenn die Ultraschallzeit vorbei ist. Dr. med. Joachim Opp, Fürth A-532 (28) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 9, 5. März 1999
P O L I T I K GLOSSE
Alltag im Ultraschall
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Zeichnung: Jörg Spielberg, Kempten