A 2250 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 107|
Heft 45|
12. November 2010ATEMWEGSINFEKTIONEN
Differenzialdiagnose per Procalcitonin-Test
Der Biomarker hilft, die Zahl der immensen Antibiotikaverordnungen zu reduzieren.
D
eutschland verbraucht in der Humanmedizin jährlich etwa 250 bis 300 Tonnen Antibiotika.Hierzu gehören allein 140 Tonnen Betalactamase-Antibiotika, die zu 85 Prozent im ambulanten Bereich eingesetzt werden. Steigende Ver- ordnungszahlen verzeichnen auch die Makrolide und Fluorchinolone.
Hinzu kommen 200 Tonnen Anti- biotika für den veterinärmedizini- schen Bedarf. Dies „übt einen star- ken Selektionsdruck auf bakterielle Mikroorganismen aus“, erklärte Prof. Dr. med. Gert Höffken (Uni- versitätsklinikum Dresden).
Besondere Sorgen bereiten stei- gende Zahlen von antibiotikaresis- tenten Staphylococcus-aureus-Stäm- men, die Pneumonie oder Sepsis verursachen (Anstieg von 1,7 Pro- zent im Jahr 1980 auf 23,6 Prozent im Jahr 2008). Früher waren Me-
thycillin-resistente Staphylococcus aureus(MRSA)-Fälle typische no- sokomiale Erkrankungen, heute tre- ten sie vermehrt in der niedergelas- senen Facharztpraxis auf.
Geringes Interesse der Industrie
Die vom Kompetenznetz akute Pneu- monien (Capnetz) ausgesprochene Warnung an die Ärzte, ein Übermaß an Makroliden zu verschreiben, hat- te im Verlauf der Jahre einen gewis- sen Erfolg. Die makrolidresistenten Stämme liegen derzeit bei zwölf bis 16 Prozent. Für Höffken war dies ein eindeutiges Zeichen dafür, dass Ärz- te bei entsprechender Information durchaus Resistenzen durch Umsteu- ern in der Behandlungspraxis von Patienten beeinflussen können. Zu- gleich warnte er vor einem „Wegse- hen“ bei gramnegativen Enterokok-
ken (ESBL wie E. coli, Klebsiella, Enterobacter, Proeteus). Hier neh- men in den kommenden Jahren die Multiresistenzen durch Betalacta- mase bildende Bakterien bei schwe- ren Erkrankungen, wie sie gerade bei chronisch kranken Senioren in Kliniken und Heimen auftreten, zu.
Hiergegen stehen nur wenige An - tiinfektiva zur Verfügung, da die Pharmaindustrie aufgrund zuneh- mend weniger attraktiver Refinan- zierungsmöglichkeiten kaum noch Interesse an der schwierigen, von zahlreichen Rechtsauflagen belaste- ten und langwierigen Forschungsar- beit von ESBL-Antibiotika zeigt.
Prof. Dr. med. Tobias Welte (Medizinische Hochschule Hanno- ver) fasste das Dilemma in der An- tibiotikatherapie zusammen: zu oft und viel, zu spät, zu sehr der Erwar- tungshaltung von Patienten und Ar- beitgebern angepasst. Eine kluge Steuerung des Antibiotikabedarfs sei nötig, um Resistenzen gleich- sam „im Keim zu ersticken“ und auf ein noch erträgliches Maß zu beschränken. Gerade bei den meist (bis zu 95 Prozent) viralen Infektio- nen der oberen Atemwege mit Sinu- sitis, Pharyngitis, Bronchitis müsse eine Abkehr von der Antibiotika- verschreibung erfolgen. Diese In- fektionen heilten in circa acht bis zehn Tagen ohne Antibiotika aus.
Schwierig für den Arzt, dessen Pa- tient schnelle Heilung von heftigen Krankheitssymptomen fordere, sei die genaue Differenzierung zwischen oberer (viraler) und unterer (meist bakterieller) Atemwegsinfektion wie Tracheobronchitis oder Pneumonie.
Die Auskultation sei zu wenig spezi- fisch, Röntgen häufig nicht verfüg- bar, Laborparameter wie Leukozy- tenzahl im Serum oder das C-reaktive Protein würden bei der Unterschei- dung auch kaum weiterhelfen. Also Infektionen der
Atemwege gehö- ren zu den häufigs- ten Gründen für den Besuch in Allge- meinarztpraxen.
Foto: Mauritius images
P H A R M A
Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 107|
Heft 45|
12. November 2010 A 2251 werden „für alle Fälle“ Antibiotikaverschrieben, im Nordosten Deutsch- lands weniger, im Südwesten mehr.
Es bedarf politischer Lösungen, wie zum Beispiel die Deutsche Anti- biotika-Resistenz-Strategie (DART) der Bundesministerien für Gesund- heit, Verbraucherschutz und Bil- dung. Ähnliche Arbeitsansätze ver- folgt eine Vielzahl von Institutio- nen, wie beispielsweise Capnetz gemeinsam mit dem Paul Ehrlich- Institut mit der Herausgabe der Leitlinien von 2009 und ihrer Fort- führung. In der Europäischen Uni- on sind mehr als 3,4 Milliarden Eu- ro in Programme zur Eindämmung der Antibiotikaresistenz geflossen, dies insbesondere zur Entwicklung von Diagnostika wie Biomarkern.
Mit der automatisierten Laborbe- stimmung des Biomarkers Procalci- tonin (PCT) im Blut ist eine schnel- le (innerhalb von zwei Stunden) und zuverlässige Identifizierung von bakterieller und viraler Infekti- on möglich, denn bei einer geringen oder keiner Erhöhung des PCT- Spiegels liegt eine virale Infektion,
ein Entzündungsvorgang bei Auto- immunprozessen, chronische Ent- zündungen oder allergische Reak- tionen vor (Tabelle).
Dies ergab die Hannover-Pro-II- Studie, in die 550 Patienten mit akuten Atemwegsinfektionen einge- schlossen wurden. Eine Hälfte wurde standardmäßig behandelt, bei der an- deren entschied ein initialer PCT-Test über das Prozedere: Erst ab einem Wert von über 0,25 ng/ml durften
Antibiotika verordnet werden. Auf diese Weise reduzierte sich der Anti- biotikaeinsatz um 42 Prozent. Der PCT-Test erlaubt also nicht nur die Differenzialdiagnostik bei unteren Atemwegsinfektionen, sondern auch eine gezielte Steuerung, Verlaufskon- trolle und adäquate Beendigung der Antibiotikagabe. Dies führt zu ver- mehrter Sicherheit in der Antibiotika- therapie und vor allem zur Vermei- dung von steigenden Resistenzraten.
Die deutschen Fachgesellschaf- ten haben den PCT-Test bereits in der S3-Leitlinie von 2009 erstmals für die mittelschwere und leichtgra- dige akute Exazerbation der chro- nisch obstruktiven Lungenerkran- kung (COPD) und bei der ambulant erworbenen Pneumonie empfohlen.
Bei schwerer COPD ist eine Antibio- tikatherapie grundsätzlich indiziert.
Welte erklärte, mit dem schnel- len und zuverlässigen PCT-Test las- se sich das Arzneimittelbudget ent- lasten, denn nichtindizierte oder übermäßig lange und damit gefähr- liche Antibiotikagaben ließen sich erheblich verringern. Er wies aller-
dings auch darauf hin, dass derzeit die Kostenübernahme für den PCT- Test durch die gesetzlichen Kran- kenversicherungen nicht hinrei- chend geklärt sei, da eine EBM-Zif- fer noch fehle und derzeit je nach KV-Region entschieden werde. ■
Dr. phil. Barbara Nickolaus TABELLE
Interpretation der PCT-Spiegel PCT-Spiegel
< 0,1 ng/mL
≥ 0,1 – < 0,25 ng/mL
≥ 0,25 – < 0,5 ng/mL
≥ 0,5 ng/mL
> 1 – 2 ng/mL
Infektionswahrscheinlichkeit und Antibiotikatherapie
Bakterielle Infektion sehr unwahrscheinlich, Antibiotikatherapie nicht empfohlen
Bakterielle Infektion eher unwahrscheinlich, Antibiotikatherapie aus Gründen der Patienten - sicherheit erwägen
Bakterielle Infektion eher wahrscheinlich, Antibiotikatherapie eher empfohlen Bakterielle Infektion sehr wahrscheinlich, Antibiotikatherapie dringend empfohlen Eine bakterielle Sepsis liegt mit erhöhter Wahrscheinlichkeit vor
Vergleich der Schmerztherapie bei Migräne – Die beiden Serotonin- (5-HT1B/1D)-Rezeptoragonisten Fro- vatriptan und Zolmitriptan wirken einer aktuellen Studie (Neurol Sci 2010; 31:
51–4) zufolge zwei Stunden nach ora- ler Einnahme gleich schnell und effi- zient. Das galt auch für die Rate an Wiederkehrkopfschmerz und der Episo- den anhaltender Schmerzfreiheit inner- halb von 48 Stunden. Das Risiko einer Recurrence zwischen vier und 16 Stun- den nach Einnahme war unter Frova - triptan hingegen signifikant geringer als unter Zolmitriptan (p < 0,05). Vorteile für Frovatriptan zeigten sich darüber hinaus bezüglich der Sicherheit. Von 13 der Behandlung zugeordneten uner- wünschten Arzneimittelreaktionen ent- fielen lediglich drei auf Frovatriptan, während Zolmitriptan zehn zugeordnet wurden (p < 0,05), darunter alle sechs schweren Ereignisse.
Nach Hautverletzungen – Grüne Hautcreme mit Silber (PSM Pharma- service GmbH, München) beschleunigt die Regenerationsphase nach Hautver- letzungen und sorgt für eine unauffälli- ge Narbenbildung. Dabei wirken das Blattsilber (Argentum foliatum) anti - bakteriell, granulationsfördernd und adstringierend, der Harnstoff (Urea) feuchtigkeitsspendend.
Leitlinien myokardiale Revaskulari- sation – Beim Europäischen Kardio - logenkongress in Stockholm wurden aktuelle Leitlinien für die myokardiale Revaskularisation präsentiert. Für die Behandlung von ST-Hebungsinfarkt- Patienten (STEMI) wurde Prasugrel (Efient®, Lilly) die Empfehlungsklasse I mit Evidenzgrad B) zugesprochen. Clo- pidogrel erhielt die Empfehlungsklas - se I, Evidenzgrad C. Der Einsatz von Clopidogrel sollte auf Patienten be- schränkt bleiben, die die wirksameren neuen ADP-Inhibitoren, wie zum Bei- spiel Efient, nicht erhalten können.
Für die Behandlung von Patienten mit einem Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) hat Clopidogrel hat die Emp- fehlungsklasse I, Evidenzgrad B. erhal- ten, Prasugrel Empfehlungsklasse IIa,
Evidenzgrad B. EB
KURZ INFORMIERT
Pressegespräch „Neue Studie zeigt: Weniger Anti- biotika durch Procalcitonin(PCT)-Test – auch in der niedergelassenen Praxis“ in Berlin, Veranstalter:
Thermo Fisher Scientific, Brahms Biomarker