Bücher des Livius
Anmerkungen zu einer der berühmtesten Fälschungen
des 18. Jahrhunderts
Von Thomas Freller, Wiesbaden
Im „vierten Stück" der Bibliothek der alten Litteratur und Kunst erschien
im Sommer 1788 eine, nicht nur die überschaubare Gruppe der deutschen
Orientalisten, sondern auch die ungleich größere Gemeinde der deutschen
klassischen Philologen und Connaisseurs der Antike elektrisierende Mel¬
dung. Der Redakteur meldete, dass man auf Sizilien
„angefangen hat die Arabischen Codices zu sammlen, die in den Theilen des
Königreichs zerstreut waren. Unter andern hat man einen sehr starken Codex
gefunden, mit dem Titel: Geschichte des Titus Livius. Ob sie aber vollständig
ist oder die alten Lücken hat, hat man noch nicht untersuchen können. Wir
haben hier nur zwey Gelehrte die Arabisch verstehn, und beyde sind jetzt
mit zwei andern Werken beschäftigt, die auf königl. Befehl gedruckt werden.
Das eine ist ein Kanzelley-Register unsrer Saracenischen Emirs, von dem der
Abate D. Giuseppe Vella eine lateinische und italienische Uebersetzung be¬
sorgt; das andre eine Sammlung der Arabischen Inschriften in Sicilien, deren
Herausgabe der Canonicus D. Rosario di Gregorio übernommen hat. Nach
Vollendung dieser Arbeiten wird man sich an den Livius machen."'
Schon einige Monate vorher, am 12. Februar 1788, hatte die Gazette de
France diese sensationelle Entdeckung angezeigt.'^ Am 14. Juni 1788 publi¬
zierte das Journal de Paris einen Brief des „Entdeckers" und Übersetzers
der arabischen Livius-Manuskripte, Giuseppe Vella, in dem sich dieser
etwas ausführlicher über Inhalt und Hintergrund des Fundes äußerte.' In¬
nerhalb kürzester Zeit wurden die Forschungen des damals den Lehrstuhl
für Arabisch an der Universität von Palermo innehabenden Giuseppe Vella
Tagesgespräch in den europäischen Gelehrtenzirkeln und der interessierten
' Bibliotbek der alten Litteratur und Kunst 4 (1788), S. 127f.
^ Text auch abgedruckt in Johann Gottfried Eichhorn (Hrsg.): „Actenmässige Rela¬
tion vom Vella Process." In: Allgemeine Bibliotbek der Biblischen Litteratur 9 (1799), S. 192.
' Journal de Paris 166 (14. Juni 1788), S. 725-726.
Laienwelt. * Der Wiener Orientalist Joseph Hager resümierte einige Jahre später:
„Die Nachricht, daß sich in Sicilien die verlornen Bücher des Livius wieder
gefunden haben, hat seit einigen Jahren ganz Europa aufmerksam gemacht.
Man erwartet mit Ungeduld die abhängigen Theile der berühmten römischen
Geschichte; man wünscht die beträchtlichen Lücken ausgefüllt zu sehen, und
alles ist auf die Erscheinung dieses seltsamen Fundes begierig. Allein bis auf
diese Stunde war noch nichts davon zu sehen; ungeachtet alles Nachfragens
aus England, Frankreich, und andern Theilen Europas, konnte die gelehrte
Neugierde noch nicht befriedigt werden."^
Besagter Abate Giuseppe Vella, ein gebürtiger Malteser, war in Gelehr¬
tenkreisen kein Unbekannter. In den Jahren zuvor hatte er sich mit aufsehen¬
erregenden Ubersetzungen von kufischen Dokumenten zur arabischen und
normannischen Geschichte Siziliens, Süditaliens und Maltas einen Namen
gemacht. Der Hintergrund dieser erstaunlichen Karriere sei hier kurz skiz¬
ziert. 1782 deklarierte der marokkanische Gesandte Ibn Uthmän anlässlich
eines Besuchs von Palermo angeblich einen ihm im Kloster von San Martino
vorgelegten kufischen Kodex als wertvolles Originaldokument zur bisher
kaum erforschten arabischen Geschichte Siziliens.'' Im folgenden übersetzte
Vella diesen nach seinem Fundort genannten „Codex Martinianus".'' Diese
mit einer ambitionierten Publikation, dem sechsbändigen Codice diplo-
matico di Sicilia sotto il governo degli Arabi dall'anno DCCCXXVII al
MLXXII (Palermo 1788-1792), abgeschlossene Tätigkeit brachte Vella
große internationale Reputation als Experte der altarabischen und kufischen
Sprache und sozialen Aufstieg. Noch berühmter wurde der mittlerweile
zum reich bepfründeten Abt beförderte Malteser mit seiner Übersetzung
des sogenannten Libro del Consiglio di Egitto^ - angeblich die Korrespon-
■* Vgl. den Zeitzeugen Domenico Scinä: „La voce di questa scoperta corse per l'Eu- ropa nei pubblici fogli ..." Domenico Scinä: Prospetto della Storia letteraria di Sicilia nel secolo decimottavo. 3 Bde. Palermo 1824-1827, hier Bd. 3, S. 315. Vgl. auch Camilla Maria Cederna: Imposture litteraire et strategies politiques: Le Conseil d'Egypte des Lumieres siciliennes a Leonardo Sciascia. Paris 1999, S. 67f.
' Joseph Hager: Reise von Warschau über Wien nacb der Hauptstadt von Sicilien.
Breslau/Leipzig 1795, S. 195L; vgl. auch Joseph Hager: Gemälde von Palermo. Berlin
1799a, S. 150. Zu dieser internationalen Aufmerksamkeit vgl. auch Carlo Ruta: Viagga¬
tori in Sicilia. L'immagine dell'isola nel secolo dei lumi. Palermo 1998, S. 42fl., 69ff.
' Zur Reise Ibn Uthmäns siehe Thomas Freller: „ ,The Shining of the Moon' - The
Mediterranean Tour of Muhammad Ibn Uthmän, envoy of Morocco, in 1782." In: Journal of Mediterranean Studies 12, 2 (2002), S. 307-326.
' Die von Vella als kuflsche Dokumente zur sizilianischen Geschichte bezeichneten
Dokumente, unter ihnen eine Vita des Propheten Mohammeds, befinden sich heute in der
Biblioteca Comunale von Palermo.
denz zwischen den normannischen Herrschern Siziliens des 11. und 12. Jahr¬
hunderts und den Kalifen in Kairo. Die in letzteren Schriftstücken schein¬
bar dokumentierte absolute Macht der mittelalterlichen Herrscher über die
Rechte des Adels wurde zu einem wichtigen Instrument des Vizekönigs von
Sizilien, Caramanico - energischer Anhänger eines „filo-assolutismo" - und
seines Beamtenapparats im Versuch, Prärogative und Einfluss der mächti¬
gen sizilianischen Barone zurückzudrängen. Ein spektakulärer Prozess
entlarvte schließlich 1795 den größten Teil der Übersetzungen des Abts
als Fälschungen.' Inwieweit Vella bei diesen Fälschungen im Auftrag
des vizeköniglichen Sekretärs Carelli handelte, kann im Rahmen dieses
Beitrags nicht diskutiert werden.'° Siziliens führender kritischer Autor des
20. Jahrhunderts, Leonardo Sciascia, hat die Ereignisse um Vella 1963 in
seinem Roman // Consiglio d'Egitto kunstvoll mit Parallelen zur modernen
sizilianischen Geschichtsbewältigung verarbeitet.''
Während sich die Wissenschaft in unregelmäßigen Abständen immer
wieder mit den Fälschungen Vellas zur arabischen und normannischen
Geschichte Süditaliens, Siziliens und Maltas beschäftigt hat,'^ blieben
seine am Ende des 18. Jahrhunderts noch größeres Aufsehen erregenden
„Funde" der arabischen Übersetzungen der verlorenen Bücher des Livius
seitens der modernen Forschung weitgehend unbeachtet. Anhand der
Quellen des Archivio di Stato und der Biblioteca Comunale von Palermo
sowie des Kathedralarchivs und der National Library von Malta sollen die
* Libro del Consiglio di Egitto tradotto da Giuseppe Vella capellano del sacra ordine gerosolimitano, Abate diS. Pancrazio. Palermo 1793.
Die Dokumente und Protokolle dieses Prozesses befinden sich in der Biblioteca
Comunale (Qq E 110; 3, Qq E 15) und im Archivio di Stato von Palermo (Bibl. 11. n. 1
(= Subitiones dell'Abate Vella), Protonotaro del Regno, Ceremoniali, Reg. 1066, R. Se- gretaria di Sicilia, Incartamenti 5291. Vgl. die Auswertung der Dokumente bei Thomas Freller: The rise and fall of Abate Giuseppe Vella. Maha 2001, S. 199ff.
'0 Vgl. ausführlich Th. Freller 2001, S. 129ff.
" Zu einer gründlichen Analyse der literarischen Verarbeitung des Falles Vella durch
Sciascia vgl. CM. Cederna 1999.
Adelaide Baviera Albanese: L'arabica impostura. Palermo 1978; Guze Cassar
PuLLiciNO: „Ancora sull'impostura benefica dell'Abate Vella." In: La Crocieta Jahr¬
gang 1, Nr. 5 (August 1949), S. 141-148; CM. Cederna 1999; Charles L. Dessoulavy:
„Mikiel Antoni Vassalli and the Vella Case." In: The Sundial (Malta) 2 (März 1936), S. 404-407; Th. Freller 2001; Bartolomeo Lagumina: „II falso codice arabo-siculo."
In: Archivio Storico Siciliano Neue Serie V (1880), S. 233-314; Arturo Mercieca: „Un' Impostura Benefica." In: La Crociata Jahrgang 1, Nr. 2 (Mai 1949), S. 33-37; S. Pelle¬
grini: „Giuseppe Vella e i suoi falsi documenti d'antichissimo volgare." In: Bollettino del Centro di studi filologici siciliani 3 (1955), S. 299-304; Pietro Varvaro: „Giuseppe Vella e i suoi falsi codici arabi. Con un documento inedito." In: Archivio Storico Siciliano Neue Serie 30 (1905), S. 321-332.
Hintergründe und Konsequenzen dieser „Entdeckungen" der Bücher des
Livius hier näher rekonstruiert werden.
Doch zunächst scheint es angebracht, noch kurz einige Rahmenbedin¬
gungen der Geschehnisse zu skizzieren. Dass es Vella gelang, am Ende
des 18. Jahrhunderts für einige Zeit zu einer der berühmtesten Figuren der
europäischen Gelehrtenwelt zu werden, hat einen langen und komplexen
Vorlauf. Die eher zufällige Entdeckung und die archäologische Freilegung
der verschütteten Städte Pompeji und Herculaneum in der ersten Hälfte des
18. Jahrhunderts verschafften den gebildeten Schichten Europas nicht allein
Zugang zu Werken, von denen verschiedene Künstlerzirkel und Theoretiker
glaubten, dass sie den „modernen" Arbeiten überlegen seien, sondern auch zu
einer ganzen Kultur, die bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts nur durch ihre
Beschreibung in der Literatur bekannt war. Eine nicht zu unterschätzende
Wirkung in der internationalen Verbreitung antiken Gedankenguts und an¬
tiker Ästhetik ging von den großen Sammlern aus. Gerade die zweite Hälfte
des 18. Jahrhunderts bezeugte eine außergewöhnlich vielfältige publizisti¬
sche Tätigkeit zur Erschließung dieser archäologischen Sammlungen sowie
der aktuellen Funde. So gehören etwa Sir William Hamiltons Veröffentli¬
chung Antiquites etrusques, grecques et romaines (1766-1767), die Recueil des
antiquites egyptiennes, etrusques, grecques, romaines et gauloises (1752-1765)
des Comte de Caylus oder die Edition Siciliae et ohjacentium insularum
veterum inscriptionum nova collectio prologemenis et notis illustrata (1769/
1784) des Fürsten von Torremuzza zu den aufwendigsten Buchprodukti¬
onen des 18. Jahrhunderts. Die Werke, welche die wichtigsten Fundstücke der
Sammlungen und Kabinette illustrierten und beschrieben, halfen wesentlich
bei der Entstehung der Form der modernen archäologischen Abhandlung. Es
gab kaum einen Aspekt der bildenden Kunst, der nicht in irgendeiner Form
auf die Elemente dieser neuen Formensprache reagierte. Der Reisebericht
und die historische Literatur antworteten mit einer wachsenden Zahl von
Illustrationen von Fundstücken, antiken Monumenten und Veduten histori¬
scher Szenerien. Sämtliche dieser ambitionierten, erst durch die Anschauung
und Sammeltätigkeit auf ausgedehnten Reisen ermöglichten antiquarischen
Publikationen eines Philipp D'Orville,'' Ignazio Paternö, Fürst von
BiscARi,''* Gabriele Lancelotto, Fürst von Torremuzza,'' William
" J. Philippe D'Orville: Sicula, quibus Siciliae veteris rudera, additis antiquitatum tabulis, illustratur 2 Bde. Amsterdam 1764.
Ignazio Paternö, Fürst von Biscari: Viaggio per tutte le anticbitä di Sicilia. Nea¬
pel 1781.
Gabriele Lancelotto, Fürst von Torremuzza: Siciliae et objacentium insula¬
rum veterum inscriptionum nova collectio prologemenis et notis illustrata. Palermo 1769
Hamilton,'^ Comte de Choiseul-Gouffier,'^ Saverio Landolina-
Nava,'^ Friedrich Münter" oder des Comte de Caylus^° beinhalten
umfangreiche Beschreibungen von eigenhändig gefundenen oder durch Ge¬
lehrtenaustausch zur Kenntnis gebrachten Objekte aus Sizilien und riefen die
Insel wieder vermehrt in das Gedächtnis der europäischen Öffentlichkeit.
Diese in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzende neue Aus¬
einandersetzung mit den Relikten alter Kulturen, mit historischen Traditi¬
onen und Legenden in den Beschreibungen Süditaliens und Siziliens, besaß
einen mehr oder weniger ausgeprägten autoritätskritischen Ansatz. Kano¬
nisierte Lehrmeinungen wurden zu Objekten kritischer Hinterfragung. Bei
allem erkenntnistheoretischen Optimismus der Aufklärung stieß diese kri¬
tische Haltung dennoch häufig manchmal an Grenzen. Auch die Bewegung
der „klassischen" und archäologischen Wissenschaft unterlag Momenten der
Täuschung. In diesem Kontext aussagekräftige und damals international be¬
rühmte Beispiele sind die oben angesprochenen Funde von mittelalterlichen
arabisch-kufischen Manuskripten und der „verlorenen" Bücher des Livius
und ihre Übersetzungen durch den maltesischen Abate Giuseppe Vella.
Schon in den Jahrhunderten und Jahrzehnten vor der Epoche der „Clas¬
sical Tour" waren Reisende, Künstler, Schriftsteller, Gelehrte, Adelige und
Bildungshungrige nach Italien gepilgert, um sich von antiken Bauwerken be¬
ziehungsweise deren Ruinen auf vielfältigste Weise anregen zu lassen. Eine
europaweite Faszination begann sich jedoch erst einzustellen, als im Verlauf
des 18. Jahrhunderts sukzessive ein vielfältig interpretierbarer ideologisch¬
philosophischer Apparat um dieses antike Erbe errichtet wurde. Die Palette
dieser Beschäftigung reichte von der oberflächlichen Adaption antiker Mode
bis zur historisch-philosophischen und staatstheoretischen Auseinanderset¬
zung mit römisch-griechischen und sogar angeblich ägyptischen Denk- und
Staatsmodellen. Im Gefolge der Schriften Winckelmanns, Barthelemys
(auch Palermo 1784). Vgl. auch ders.: Siciliae populär. Urbium etc. numi, Saracenorum epocham antercedentes. Palermo 1767 (auch Palermo 1781).
William Hamilton: Antiquites etrusques, grecques et romaines. Neapel 1766-1767.
G.F.A., Comte de Choiseul-Gouffier: Reise des Grafen von Choiseul-Gouffier
durch Griechenland. 2 Bde. Gotha 1780-1784; ders: Voyage pittoresque de la Grece.
3 Bde. Paris 1787-1822.
Saverio Landolina-Nava: Gli Antichi Monumenti di Siracusa, Relazione della Rivo- luzione Accaduta in Marzo 1790 nelle Terre vicine a S. Maria di Niscemi. Hamburg 1792.
" Vgl. Friedrich Münter: Die Religion der Karthager. Kopenhagen 1816; ders.:
Nachrichten von Neapel und Sicilien, auf einer Reise in den Jahren 1785 und 1786. Kopen¬
hagen 1790; DERS.: „Spuren aegyptischer Religionsbegriffe in Sicilien und den benach¬
barten Inseln." In: Antiquarische Abhandlungen (1816), S. 151-180.
^° Cl.Ph.A. de Thubieres, Comte de Caylus: Recueil des antiquites egyptiennes,
etrusques, grecques, romaines et gauloises. 7 Bde. Paris 1752-1765.
oder des Comte de Caylus erlagen nicht allein Künstler der Faszination
der Antike, für die ein Aufenthalt in Rom oder Neapel und ein Studium der
Antike und Renaissance ab der Mitte des 18. Jahrhunderts nahezu obliga¬
torisch wurden. Nun bewegte sich, angezogen von den „neuen" ästhetisch¬
geistigen Kriterien der Antike, auch eine große Zahl von kunstsinnigen und
gebildeten Reisenden von Rom und Neapel nach Sizilien.
Am Ende des Jahrhunderts eröffneten sich noch einmal neue Horizonte.
In den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, mit einem neuen kom¬
plexen wissenschaftlichen sowie romantisch-ästhetischem Interesse für
den Orient und Arabien, geriet auch die mittelalterliche arabische Kultur
Siziliens vermehrt in das Zentrum historischer, linguistischer und volks¬
kundlicher Studien. Die Sprach- und Geschichtsfälschungen des hier be¬
handelten Giuseppe Vella und die „seriösen" Veröffentlichungen Rosario
Gregorios, Johann Georg Christian Adlers, Simone Assemanis, des
Fürsten von Torremuzza und Mikiel Anton Vassallis mögen dazu
im besonderen Maß beigetragen haben. Dieses europäische Interesse an der
sizilianischen Sprache, Volkskultur und arabischen Geschichte blieb nicht
nur auf oben genannte Gelehrte beschränkt, sondern erfasste im ausgehen¬
den 18. Jahrhundert auch eine Vielzahl von Laien. Besagtes Phänomen hatte
keine monokausalen Ursachen. Gründe waren neben dem bereits angespro¬
chenen verstärktem Interesse an den alten orientalischen Kulturen und der
klassischen Geschichte des Mittelmeers auch eine erwachende Sensibilisie¬
rung für die nationale Identitätsbildung fremder Völker. Gerade letzteres
Moment beinhaltete eine starke Verflechtung der Diskussion linguistischer,
historischer und ideologisch-politischer Themen. Gleichzeitig erfolgte erst¬
mals eine grundlegende, auf neuen historischen Erkenntnissen aufbauende,
kritische, - wenngleich nicht ideologieferne - Erforschung der die Insel so
nachhaltig prägenden arabischen Periode.
Auch das Arabische geriet damit in den Fokus der Wahrnehmung der
sizilianischen Geschichte und Bevölkerung. Ausgehend von primär wissen¬
schaftlichen Motiven entwickelte sich diese Beschäftigung mit der arabischen
Sprache und ihrer Verknüpfung mit Elementen des „modernen" Sizilianisch
um 1800 zu einem wesentlichen Moment der Diskussion nationaler Identität.
Ein italienischer Sprachwissenschaftler hat insofern nicht zu Unrecht für das
von steter Fremdherrschaft bestimmte Sizilien im 18. und 19. Jahrhundert
den Begriff von einer „Nation ohne Sprache" geprägt.^' Diese Entwicklung
einer vorsichtigen Besinnung auf die arabische Epoche Südeuropas traf nicht
nur auf Sizilien sondern auch auf Andalusien zu. Die Affäre Vella ist daher
S. Vecchio: Una nazione senza lingua. II sicilianismo linguistico del primo otto- cento. Palermo 1988.
nicht der einzige berühmte Fall arabischer Fälschungen und Manipulationen
in einer Zeit, die sich mehr und mehr von der Faszination orientalischer Ge¬
schichte und Kultur berührt zeigte. Der hartnäckigste Detektiv auf den Spu¬
ren Vellas, der Wiener Orientalist Joseph Hager, stellte 1795 sein Opfer
selbst in diesen größeren Zusammenhang der philologischen Betrügereien
und Fälschungen von arabischen und orientalischen Dokumenten: In seiner
1799 publizierten Monographie Nachricht von einer merkwürdigen litterari¬
schen Betrügerey^^ und seinen, dem neapolitanischen Hof 1794 und 1795 vor¬
gelegten Gutachten zu Vellas kufischen und arabischen Übersetzungen,^'
vergleicht er dessen Aktivitäten mit den nach 1588 am Fuß des ehemaligen
Stadtviertels der Mauren, dem Albaicin von Granada, und später am Sacro-
monte aufgefundenen und von dem königlichen Dolmetscher Miguel de
Luna in das Spanische übersetzten arabischen Dokumenten - den sogenann¬
ten Bleibüchern (Los libros plümheos) - über die christlichen und arabischen
Wurzeln Spaniens.^'' Der Moriske Luna beließ es nicht bei dieser Fälschung.
Wenige Jahre später entwarf er eine, angeblich aus verschiedenen arabischen
Manuskripten kompilierte, Vita des legendären westgotischen König Rode¬
rich. Bis 1650 erfolgten sechs weitere Editionen dieser Historia verdadera
del Rey Don Rodrigo, en la quai se trata la causa principal de la perdida de
Espana, y la conquista, que della hizo Miramamolin Almansor, Rey que fue
de Africa & c. compuesta por el Sabio Alcalde Abulcacim Tarif Abentacique,
de nacion Arabe?^ 1660 wurde das Werk auch in Italienisch veröffentlicht.
Joseph Hager: Nacbricht von einer merkwürdigen litterarischen Betrügerey. Leip¬
zig 1799b.
Siehe Archivio di Stato, Palermo; R. Segretaria di Sicilia, Incartamenti 5291, keine Seitenzählung.
„... della severa critica del secolo 18, resa ormai avvedute dopo le falsificazione della storia arabica del Re Rodrigo, dopo i monumenti apocrifi di Grenada, la descrizioni del¬
l'isola di Formosa, e tanti altri prodotti di simil' tempora, che per lungo tempo sedussero anche soggetti i piü rispettabili." Siehe Hagers Gutachten vom 7. Februar 1795, adressiert an König Ferdinand IV. Archivio di Stato, Palermo; R. Segretaria di Sicilia; Incartamenti 5291, keine Seitenzählung. Über die Funde in Granada siehe Miguel de Luna/Alonso
DE Castillo: Los libros plümbeos del Sacromonte. Hrsg. von Miguel Jose Hagerty.
Madrid 1980; Carlos Alonso: Los Apocrifos del Sacromonte. (Granada). Estudio his¬
törico. Valladolid 1979; Dario Cabanelas Rodriguez: „Intento de supervivencia en el
ocaso de una cultura: los libros plümbeos de Granada." In: Nueva Revista de Filologia
Hispanica 30, 2 (1981), S. 335-358; L.P. Harvey/G.A. Wiegers: „The translation from
Arabic of the Sacromonte tablets and the archbishop of Granda: An illuminating corre¬
spondence." In: Qurtuba. Estudios Andalusies (1996), S. 59-79.
Zu Miguel de Lunas Rodrigo-Buch siehe Francisco Märquez Villanueva: „La
voluntad de leyenda de Miguel de Luna." In: Nueva Revista de Filologia Hispanica 30, 2 (1981), S. 359-395; Ramön Menendez Pidal: Floresta de leyendas beroicas espanolas.
Rodrigo, el ültimo godo. Madrid 1942-1944, Bd. 2, S. XLIIl-XLVIll.
Gleichzeitig begannen seitens der Kurie erste Ermittlungen bezüglich der
Authentizität der Funde von Granada. Die Kurie bildete eine von dem Je¬
suiten und Universalgelehrten Athanasius Kircher geleitete Kommission,
die jedoch zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangte. Ebenfalls in Granada,
diesmal auf der Alhambra, kam es 1764 zu einem weiteren aufsehenerregen¬
den Fund. Dabei handelte es sich um „eine Menge auf Erz, Bley und Stein
gegrabene Inschriften".^^ Der Fund erregte in ganz Europa Aufsehen, allein
man „zerbrach sich das Gehirn über die seltenen Schriftarten, wie Court de
Gebelin bey dem Gekritzel des Berges Sinai, bis sie ImJahre 1777 insgesamt
für falsch erklärt wurden".^^ Die meisten dieser Aktionen hatten handfeste
politische Gründe. Der Moriske Miguel de Luna und seine Genossen woll¬
ten mit ihren Fälschungen eine „uralte" Legitimation der maurischen Prä¬
senz in Spanien präsentieren und „beweisen", dass es erst mit dem Eintreffen
der Araber zu einer wirklichen Kultivierung der iberischen Halbinsel kam.
Betrachten wir nun vor diesem Hintergrund die folgenden Geschehnisse.
Einmal geebnet, schien für Vella mit der so erfolgreichen Arbeit an dem
„Codex Martinianus" zur arabischen Geschichte Süditaliens und Sizili¬
ens die Straße des Erfolgs bei weitem nicht zu Ende. Wie war das bereits
Erreichte zu übertreffen? Spätestens seit den Ausgrabungen von Hercula¬
neum und Pompeji und den Schriften Winckelmanns und des Comte de
Caylus war die Begeisterung Europas für seine klassischen römischen und
griechischen Wurzeln kaum zu bremsen. Griechische und römische Kunst
und Literatur wurden zu neuen Maßstäben des guten Geschmacks und der
Geisteskultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Mehr noch als arabische
Themen müssten daher Entdeckungen zur klassischen Antike großes in¬
ternationales Aufsehen erregen. Vella war weder Lateiner oder Gräzist,
dennoch liess sich ein derartiges Thema mit seinem Spezialgebiet, den
altarabischen Schriften, verbinden. Noch vor der Drucklegung der Uber¬
setzungen des „Codex Martinianus" kam es zu Gerüchten über weitere
sensationelle Entdeckungen Vellas. 1787^* konkretisierte sich die von ihm
2' J. Hager 1799b, S. 39.
" J. Hager 1799b, S. 39f.; 78.
Das „Auftauchen" der Manusltripte des Titus Livius datiert eindeutig nach dem De¬
zember 1785. Der ansonsten so gut informierte Friedrich Münter erwähnte damals auf
seiner Sizilienreise zwar den „Codex Martinianus", aber noch nicht die Bücher des Livius.
Auch als er sich Anfang Dezember in Agrigent aufhielt - wo nach den ersten Gerüchten die Livius-Manuskripte herstammen sollten - sprach er über angeblich in der örtlichen
Bischofsbibliothek aufbewahrte Manuskripte von Diodor, aber nicht von Titus Livius.
Siehe Tagebucheintrag vom 2. Dezember 1785. Friedrich Münter: Aus den Tagebu¬
chern Friedrich Münters. Wander- und Lehrjahre eines dänischen Gelehrten. Hrsg. von
Ojvind Andreasen. 3 Bde. Kopenhagen/Leipzig 1937, hier Bd. 2, S. 69f.
selbst lancierte Geschichte, er sei im Besitz einer arabischen Übersetzung
von siebzehn verlorenen Büchern (Buch 60 bis 77) des Titus Livius.^' Am
17. Januar 1788 teilte Gabriele Lancellotto, Fürst von Torremuzza in
einem Schreiben an Kardinal Garampi in Rom näheres mit. Garampi gestat¬
tete einige Monate später der von Olaf Gerhard Tychsen und Arnold
H.L. Heeren herausgegebenen Zeitschrift Bibliothek der alten Litteratur
und Kunst den Abdruck einer deutschen Übersetzung bereits eingangs zi¬
tierter aufsehenerregender Meldung.
Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, scheint die „Idee" der Entdeckung
der Livius-Manuskripte allein von Vella zu stammen. Der sogenannte
Fund der Livius-Bücher besaß nicht die politische Brisanz wie der Codice
diplomatico und die kurz nach den Livius-Manuskripten angekündigte
Arbeit an dem „normannischen Kodex" mit seiner Infragestellung vieler
feudalaristokratischer Vorrechte und Traditionen des sizilianischen Adels.
Nimmt man eine Fiktionalität der Behauptungen Vellas bezüglich der
Livius-Manuskripte an, bleibt die Frage, was den Malteser auf die Idee
brachte, einen derartigen Fund vorzutäuschen. Interessanterweise fiel Vel¬
las Ankündigung zeitlich mit der Publikation der ersten Editionen von
Nicolas Savarys Lettres sur la Grece, faisant suite de celles sur l'Egypte
zusammen, in denen der französische Orient-Reisende behauptet, nicht
allein Livius, sondern auch Tacitus und Diodorus seien bereits im siebten
und achten Jahrhundert in das Arabische übersetzt worden.'" Vella mag
darüber in den intellektuellen Salons von Palermo gehört haben.
Die Öffentlichkeit erwartete, dass sich Vella nach der Fertigstellung
der Übersetzung des „Codex Martinianus" umgehend an die Arbeit ma¬
chen würde, die Livius-Bücher einem neugierigen Publikum vorzustellen.
Doch der Abate zögerte. Dieses Zögern ist nicht schwer zu erklären. So
erfolgreich seine spontane Entscheidung war, aus seiner Bekanntschaft
mit dem marokkanischen Botschafter Ibn Uthmän 1782 Kapital zu schla¬
gen, so gefährlich musste ihm nach sorgfältigerem Nachdenken seine neue
Ankündigung erscheinen. Wie bereits erwähnt, wurde die zuvor als „terra
incognita" des europäischen Reiseverkehrs ignorierte Insel Sizilien in den
1780er Jahren zu einem der Hauptziele der Grand Tour. Die Begeisterung
für die klassischen Altertümer und Schätze der Insel brachte neben den
^' „Der verlornen Bücher des Livius sind fünf und neunzig; nämlich vom sechs und
vierzigsten an, bis zum hundert und vierzigsten. Vella gibt vor, siebzehn von den verlor¬
nen zu besitzen, und zwar vom sechzigsten Buche an, bis zum sieben und siebzigsten." J.
Hager 1795, S. 199 Anmerkung. Zu den verlorenen Büchern des Livius vgl. auch D. Scinä 1827, Bd. 3, S.306, 315.
^° Nicolas Savary: Lettres sur la Grece, faisant suite de celles sur l'Egypte. 3 Bde. Paris 1788, hier Bd. 3, Brief 79.
typischen Grand Touristen auch eine große Zahl von internationalen Ge¬
lehrten nach Palermo. Neben den lokalen Experten war Vella also von
einer Vielzahl von Koryphäen auf dem Gebiet der Literatur des klassischen
Altertums umgeben. Diese Situation ließ die Fälschung oder Manipulation
der angeblichen Livius-Bücher als zu riskant erscheinen. Noch dazu war
dies eine Arbeit auf einem thematischen Feld, in dem sich der Abate nicht
zu Hause fühlte. Diese Unkenntnis der klassischen Geschichte wurde auch
von verschiedenen Reisenden - die an die Qualitäten Vellas als Arabisten
glaubten - zu seiner Entschuldigung angenommen.'' Wie die Angaben der
historischen und philologischen Laien, die Vellas Künsten positiv gegen¬
überstanden, etwa jene von Carl Ulysses von Salis und Marschlin, zu
gewichten sind, bleibt schwierig. Der Schweizer beteuerte anlässlich seines
Besuches von Palermo im Juli 1788:
„Was es für eine Bewandniß mit dieser Handschrift habe, weiß ich nicht, aber
so viel habe ich, von einer sehr angesehenen Person erfahren, daß sie vom
Abate Vela [sic] eine Probe dieses Livius verlangt hätte, und zwar sollte er
eine Periode vor ihren Augen übersetzen. Dies geschah, und sie fand, daß zum
wenigsten der Fall, der daselbst erzehlt wurde, mit andern Schriftstellern voll¬
kommen übereinstimmte. Aus der Uebersetzung, die Vela bald versprochen
hat, werden wir hoffentlich die Wahrheit erkennen."'^
Der Schweizer Literat Georg Arnold Jacobi, der Palermo 1792 besuchte,
berichtet, keiner der gebildeten Palermitaner, mit denen er gesprochen habe,
hätte Zweifel an der Echtheit der Livius-Manuskripte gehabt, einzig der Bi¬
bliothekar Sterzinger glaube, „daß vielleicht blos ein Auszug des Livius in
dem Buche enthalten seyn möchte"."
Trotz dieser wohlwollenden Einschätzungen zögerte Vella also weiter
mit einer Veröffentlichung. Eventuell war es auch bereits die Reaktion eini¬
ger Experten auf unter der Hand zirkulierende Kopien der Fragmente des
angeblichen Livius, die Vella zum Bremsen zwangen. Dass einige siziliani¬
sche Gelehrte seit längerem Verdacht hinsichtlich der Kompetenz Vellas als
Arabisten geschöpft hatten, musste dem Malteser bekannt sein. Doch diese
wagten nicht öffentlich gegen den Günstling Bischof Alfonso Airoldis, dem
geachteten „Giudice della monarchia", aufzutreten. Doch auch das Ausland
Johann Heinrich Bartels: Briefe über Kalabrien und Sizilien. 3 Bde. Göttingen 1787-1791, hier Bd. 3, S. 673, Anm.
" Carl Ulysses von Salis und Marschlin: Beiträge zur natürlichen und ökonomi¬
schen Kenntniß des Königreichs beider Sicilien. Zürich 1790, Bd. 1, S. 120f. Vgl. kritisch gegenüber Salis, J. Hager 1799b, S. 63.
Georg Arnold Jacobi: Briefe aus der Schweiz und Italien. 2 Bde. Lübeck/Leipzig 1796-1797, hier Bd.2, S. 229.
wurde heimlich über diese Zweifel informiert. Am 10. Juni 1788 schrieb der
Historiker Saverio Landolina Nava aus Palermo an seinen Freund, den
dänischen Altphilologen Friedrich Münter:
„...dei Tito Livio, vi dico in confidenza, che il Vella e ignorantissimo di Storia, crede che sia Tito Livio, e lo fa credere con mille bugie che inventa: ma non ha
voluto ancora accordarmi il favore di leggermi un pezzo che ha fatto di tra¬
duzione. Avendo parlato io coirAbate Salavignini,''' che ne lesse un capitolo, crede che sia traduzione Araba de' libri di Flore. [...] Vi prego a forlo chiamara
in dubio da mia parte; perche l'Abate Vella ne fa un mistero, e la sua puoca
fede fa sospettare di ciö che dice. Egli e un uomo pleno di veritä, perche non ne lascia uscire una dalla sua bocca."-'^
Die von Landolina Nava geäußerte Vermutung, dass es sich bei Vellas
angeblichem Livius um nichts anderes als um einen zusammengefassten
Text der „Epitome" des Florus handelte, hielt sich in den folgenden Jahren
hartnäckig.'* Der Wiener Orientalist Joseph Hager wird im Frühjahr 1794
tatsächlich anhand von Vergleichen zwischen dem Werk des Florus mit
Vellas Übersetzungen die Fälschung aufklären. Wir werden im Folgenden
diese Entlarvung näher beleuchten.
Nachdem er die Informationen Landolina Navas erhalten hatte, schloss
Friedrich Münter im Oktober 1788 das Manuskript seiner Nachrichten von
Sicilien und Neapel ab und resümierte bezüglich der Livius-Manuskripte:
„Abate Vella scheint ein anderer Annius Viterbiensis [zu] seyn und die Lük-
ken in der Litteratur mit seinen eigenen Erdichtungen ausfüllen zu wollen: so
behauptete er auch [...] eine arabische Uebersetzung verschiedener von den
verlorenen Büchern des Livius, nemlich von 66ten (sie) bis zum 77ten Buch
gefunden zu haben. Allein dies ist höchstwahrscheinlich eine Betrügerei..."'''
Auch die anfängliche Begeisterung der Herausgeber der Göttinger Biblio¬
thek der alten Litteratur und Kunst verflog bereits Ende 1788:
„Ein so eben erhaltener Brief aus Rom meldet uns, daß es von dem Livius
ganz stille geworden sey, und also wohl schwerlich etwas zu erwarten stehe
[...]. Diese Nachricht benimmt der ohnehin sehr verdächtigen Sage von einem
Abt Salavignini aus Syrakus war ein enger Vertrauter Landolina Navas.
Friedrich Münter: Aus dem Briefwechsel Friedrich Münters. Europäische Be¬
ziehungen eines dänischen Gelehrten 1780-1830. Hrsg. von Ojvind Andreasen. 5 Bde.
Kopenhagen/Leipzig 1944, hier Bd. 2, S. 6f.
Vgl. Carlo Castone della Torre di Rezzonico: Opere de Cavaliere Carlo Cas¬
tone Conte della Torre di Rezzonico. Hrsg. von Francesco Mocchetti. 5 Bde. Como
1817, hier Bd. 5, S. 100.
Friedrich Münter: Nachrichten von Neapel und Sicilien, auf einer Reise in den
Jahren 1785 und 1786. Kopenhagen 1790, S. 203.
Arabischen Livius vollends alle Glaubwürdigkeit. Nicht zu gedenken, daß eine
Arabische Uebersetzung aus dem Lateinischen ohne Beyspiel ist, muß es jedem
der mit Arabischer Litteratur irgend bekannt ist, unglaublich vorkommen, daß
Araber sollten die Geschichte eines republikanischen Staats übersetzt haben.
Wenn man aber auch die Uebersetzung von einem Arabischen Christen wollte
verfertigen lassen, was doch in jenen Zeiten wenig Wahrscheinlich war, so sind
die Ausflüchte, womit sich die Sieilischen Gelehrten der Untersuchung entzie¬
hen. Beweis genug, daß der angebliche Titel bloß errathen oder die ganze Sache
ein Figment sey, wie das von den Büchern des Tacitus, die neulich in Corvey
sollten gefunden seyn ..."'^
Eine ähnliche Uberzeugung wurde von dem bekannten französischen
Hellenisten Gaspard d'Ansse de Villoison geteilt, der etwa zur gleichen
Zeit in einem Schreiben an den Fürsten von Torremuzza seine Zweifel
mitteilte.''
Von der Öffentlichkeit weiter unter Druck gesetzt, gab Vella schließlich
1789 ein kurzes Resümee des Inhalts des angeblichen sechzigsten Band des
Livius bekannt. Es wurde 1790 in einer deutschen Ubersetzung im Maga¬
zin für morgenländische Litteratur abgedruckt.''" Die skeptischen Stimmen
konnten dadurch nicht zum Schweigen gebracht werden. Vella vertröstete
die Öffentlichkeit mit dem Hinweis auf einen späteren Termin der Veröffent¬
lichung. Tatsächlich ließ das begierige Publikum nicht locker. Besonders
interessierten die Geschichten, wie die Manuskripte in die Hand Vellas ge¬
raten seien. Zunächst schwieg sich Vella darüber aus. So kamen Gerüchte
auf, die Manuskripte seien aus der Bibliothek des Bischofs von Agrigento,
Monsignor Lucchese, auf Befehl Bischof Airoldis nach Palermo transportiert
worden.'" Friedrich Münter, der im Dezember 1785 selbst diese Biblio¬
thek besucht hatte, bestätigte: „Es gehören zur Bibliothek verschiedene ara¬
bische Ms. die alle auf Befehl des Vicekönigs, u. Mgr. della Monarchia nach
Palermo an den Canonicus de Gregorio geschickt sind.'"'^ Im Frühjahr 1794
schienen diese Manuskripte wieder nach Agrigento zurückerstattet worden
zu sein. Laut Joseph Hager enthielten sie jedoch keine Bezüge zur siziliani¬
schen Geschichte oder gar zu den Schriften des Titus Livius:
„Übrigens besitzt die bischöfliche Bibliothek von Girgenti gegen 30 arabische
Handschriften; allein sie kamen ebenfalls aus Spanien mit den fünf bereits
angemerkten, und wurden von dem Marquis von Madonia, dem damaligen
Bibliothek der alten Litteratur und Kunst 4 (1788), S. 128.
Siehe CM. Cederna 1999, S. 68.
Siehe Magazin für morgenländiscbe Litteratur (1790), Dritte Lieferung, S. 133.
Vgl. auch D. Scinä 1827, Bd. 3, S. 315.
Tagebucheintrag vom 2. Dezember 1785. Fr. Münter 1937, Bd. 2, S. 69.
Bischoffe Luchesi verehrt. Ich habe solche auf meiner Reise um die Küste von Sizilien eilig durchgesehen, allein ich fand nichts, das auf die Geschichte dieses Eilands einigen Bezug hatte."""
Nach und nach wurde Vella bezüglich der Herkunft der arabischen Über¬
setzungen des Livius präziser. Im Juli 1788 erfuhr der sich damals in Pa¬
lermo aufhaltende Graf Carl Ulysses von Salis und Marschlin:
„Abate Vela [sic] hat noch ein anderes arabisches Manuscript, mit welchen er sehr
behutsam umgeht, und welches er vorgibt von einem Maler bekommen zu haben.
Dieser als er in Constantinopel die grosse Moschee abzeichnen wollte, verlangte
von den umstehenden ein Buch, um darauf arbeiten zu können. Man höhlte ihm
dieses, und als er es gebraucht hatte, so hielte er für gut es zu behalten. Dieses
Manuscript nun enthäh nichts weniger als 17 Bücher, nämlich vom 60sten bis
77sten Buch, der Geschichte des Titus Livius, die uns mangeln. [...] Die Ge¬
schichte, wie dieses Manuscript ist erhalten worden, wird verschiedentlich er¬
zehlt, allein an der Aechtheit desselben ist nicht mehr zu zweifeln."'*''
Ein anonymer Malteserritter, der Vella 1791 besuchte und 1796 seine
Voyage de Sicile et de quelques parties de la Calabre publizierte, enthüllte
als erster der Öffentlichkeit den Namen dieses Malers, der das Manuskript
von Istanbul nach Malta brachte: Antoine Favray (1706-1798):
„Mr. l'abbe Vella est proprietaire du manuscrit du soixantieme livre de Tite Live, qui etoit perdu, et qu, il tient du Grand Maitre de Malte, Pinto. Le Chevalier
Favray avoit trouve ce manuscrit, et plusieurs autres, su la Corniche de S. So¬
phie ä Constantinople: il les apporta ä Malte, et en fit un present au Grand Mai¬
tre, qui donna celui de Tite Live ä l'abbe Vella, Commandeur Ecclesiastique del 'ordre de Malte, et Historiographe de S. M. le Roi de Naples. Ce manuscrit precieux a trois eens pages.'"*^
Gleichzeitig kam die Figur des Großmeisters Manoel Pinto de Fonseca
(1681-1773) hinzu, aus dessen Hand das Manuskript angeblich in den Besitz
Vellas gelangte. Joseph Hager hörte im Frühjahr 1794 aus dem Mund
Vellas die Geschichte wie folgt:
„Vella erzählte, daß ein französischer Zeichner, Fabre [sie] genannt, als er die
Zeichnung der Sophien-Kirche zu Constantinopel entwarf, dieses Manuscript
auf einem Gesimse dieser prächtigen Kirche gefunden, und dem Großmeister
Pinto nach Malta überbracht habe. Dieser habe es ihm, Vella, seinem Lieblinge, vor seinem Tode geschenkt.'""
J. Hager 1799b, S. 50.
CU. VON Salis und Marschlin 1790, Bd. 1, S. 120.
Voyage de Sicile et de quelques parties de la Calabre. Wien 1796, S. 155.
J. Hager 1795, S. 200f.
Demgegenüber erscheint im unpubhzierten Reisetagebuch („Notes
rapportees d'un voyage en Sicile fait par lui en 1789") des französischen
Architekten Leon Dufourny, der zwischen 1789 und 1793 zu Vellas
engen Bekannten in Palermo gehörte, ein „Chevalier Favras" als Finder
des Manuskripts.'*'' In Hagers vielgelesener Beschreibung von Palermo
(Gemälde von Palermo) erschien eine noch farbigere Version. Nun wurden
dem betagten Großmeister Pinto noch prophetische Fähigkeiten angedich¬
tet: „[Pinto] habe sie Vella, seinem Lieblinge, mit den Worten übergeben:
Nehmen Sie dieses Buch, es wird sie einst berühmt machen!"'*^
Diese Geschichte ist aus mehreren Gründen mysteriös. Großmeister
Pinto war seit 1773 tot und konnte daher nicht mehr befragt werden, aber
der genannte Überbringer der Manuskripte, der französische Maler An¬
toine Favray, „servant d'armes" des Malteserordens, war 1794 noch am
Leben.'" Vellas Erzählung war insofern geschickt gesponnen, als Favray
ab Dezember 1761 tatsächlich lange Jahre in Istanbul zubrachte, bevor er im
September 1771 wieder nach Malta zurückkehrte. Favray arbeitete in Istan¬
bul vor allem für die französischen Botschafter Vergennes und Saint Priest.
Wahrscheinlich hatte der französische Maler tatsächlich einige arabische
Manuskripte nach Malta mitgebracht - wenn auch nicht die Übersetzun¬
gen der verlorenen Bücher des Livius. Sollte also Favray - der kein arabisch
beherrschte - bezüglich der arabischen Manuskripte gefragt worden sein,
konnte er Vellas Angaben über den Titus Livius kaum widerlegen.
Die Diskussion um diese Geschichten riss nicht ab. Ein gutes Beispiel
dafür sind die Notizen des Dichters und Philologen Friedrich Leopold
Graf zu Stolberg. Anfang Juni 1792 traf Graf Stolberg in Palermo
Abate Vella und berichtete ausführlich über dessen Funde und Überset¬
zungsarbeit. Speziell über die abenteuerliche „Entdeckung" der verscholle¬
nen Werke des Livius notierte der Graf:
„Aber wie gespannt wird deine Erwartung werden, wenn ich dir sage, daß eben die¬
ser Abate Vella eine arabische Uebersetzung von siebzehn uns fehlenden Büchern des Livius besitzen soll! Es sind die Bücher 60 bis 76. Nur im letzten sollen einige
'*'' „Ce manuscrit fut trouve avec un autre dans un grammaire (dit l'abbe Vella) sur un entablement de l'interieur de Ste. Sophie ä Constantinople par le Chevalier Favras, lorsqu'il dessinait cette mosquee par ordre de la Cour de France. A son retour il le donna ä Pinto ainsi que plusieurs autres manuscrits. Et Pinto, plusieurs annees apres le donna ä l'abbe Vella pour s'en faire honneur." Hier zitiert bei CM. Cederna 1999, S. 67. Über diese Auffindung vgl. auch J. G. Eichhorn (Hrsg.) 1799, S. 192.
^« J. Hager 1799a, S. 151.
Über Favray in Istanbul vgl. A. Boppe: Le Peintres du Bosphore. Paris 1911,
S. 80-100; Antoine de Favray (1706-1798), Catalogue of an Exhibition of Paintings and Drawings. Malta 1982.
Lücken sein. Wie ist dieses Manuskript in seine Hände gekommen? Das erzählt er auf folgende Art: Ein französischer Maler Favray, welcher cavaliere servente des Malteser-Ordens war, erhielt durch Fürsprache des französischen Botschafters
in Konstantinopel Erlaubniß, die Selims-Moschee [...] zu messen und einen Riß
davon aufzunehmen. Indem er, mit dieser Arbeit beschäftigt, auf einem Gesimse
ging, stieß er mit dem Fuß auf eine Rolle, sah sie an, fand, daß es eine Handschrift
wäre, und steckte sie in die Tasche. Als er zurück nach Malta kam, verehrte er
sie dem damaligen Großmeister, dieser dem Abate, mit den Worten: Nehmen Sie
dieses Buch, es wird Sie einst berühmt machen! Vella staunte, als er den Inhalt des Buches erkannte. Seiner schwachen Brust wegen reiste er nach Sicilien. Ungern,
aber auf Befehl des Großmeisters, an den der König sich gewendet hatte, über¬
nahm er den Auftrag, die beiden arabischen Geschichtsbücher zu übersetzen, eine Arbeit, welche ihn bis jetzt an der Ausgabe des Livius verhindert hat."^°
Für Stolberg blieb die Geschichte um die Auffindung des Manuskripts
zweifelhaft, die faktische Authentizität der Schrift wurde von ihm jedoch
nicht angezweifelt:
„Verschiedene Personen halten dieses Geschichtchen für einen Roman und
beschuldigen Vella, die Handschrift aus einer Klosterbibliothek in Girgenti
entwendet zu haben. Sie sagen: Man hätte, als er mit seiner Uebersetzung der
arabischen Geschichte beschäftigt gewesen, den Mönchen in Girgenti befohlen,
ihm alle arabische Handschriften ihrer Bibliothek mitzutheilen. Unter diesen
hätte er dieses große Fragment von der übersetzten Geschichte des Livius ge¬
funden, für sich behalten und das Mährchen von Favray, welcher sowohl als
jener Großmeister gestorben ist, ersonnen. Sie fügen hinzu: Dieses Manuscript
sei auf eben die Art gebunden, wie man verschiedene andere Handschriften
aus dieser Zeit in Sicilien gebunden sähe. Auch ist bekannt, daß die gelehrten
Araber jener Zeit der griechischen Literatur kundiger als der römischen waren
und philosophische Kenntnisse, besonders Natur- und Heilkunde, sehr hoch
schätzten, aber die Geschichte der alten Völker, ihre eigene ausgenommen, we¬
nig achteten. Dem sei, wie ihm wolle, Vella gibt Hoffnung, das sechzigste Buch
in italienischer Uebersetzung bald öffentlich bekannt zu machen."^'
Einem anderen Besucher erzählte Vella, das Original und die Übersetzung
dieses sechzigsten Buches mittlerweile an Professor Olaf Gerhard Tych¬
sen nach Rostock zur Examinierung gesandt zu haben.'^
^° Hier zitiert nach Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Reise in Deutschland,
der Schweiz, Italien und Sicilien. 2 Bde. Mainz 1877, hier Bd. 1, S. 204f. Zu Stolbergs Sizilienreise vgl. ausführlich Harro Zimmermann: „Der Antiquar und die Revolution.
Friedrich Leopold von Stolbergs , Reise in Deutschland, die Schweiz, Italien und Sizi¬
lien'." In: W. Griep/H. W. Jäger (Hrsg.): Reise und soziale Realität am Ende des 18. Jahr¬
hunderts. Heidelberg 1983 (Neue Bremer Beiträge. 1), S. 94-126.
5' Fr. L. Graf zu Stolberg 1877, Bd. 1, S. 205.
" Vgl. J. Hager 1795, S. 199.
Stolberg war einer der wenigen, denen Vella erlaubte, die angeblichen
Livius-Manuskripte mit eigenen Augen zu betrachten. OfTensichtlich hielt
er den deutschen Grafen für ungefährlich, eventuelle Fälschungen oder den
wirklichen Inhalt zu erkennen. Andere Besucher Vellas, wie ein Schüler
des Orientalisten Adler oder der maltesische Gelehrte Mikiel Anton
Vassalli, erhielten keinen Einblick in die Manuskripte." Stolberg selbst
gab seine Unkenntnis zu, sparte aber nicht mit guten Ratschlägen für die
VeröfTentlichung:
„Ich habe die Handschrift gesehen, da ich aber nicht einmal die arabischen
Buchstaben kenne, kann ich kein Urtheil darüber fällen. Ich rieth ihm, die
italienische Uebersetzung zuvörderst herauszugeben, und dann das arabische
Manuscript an einen Fürsten oder an eine öffentliche Bibliothek zu verkaufen.
Er schien unschlüssig."^''
Bereits im Sommer 1789 hatte der Abate seinem Bekannten, dem Franzo¬
sen Dufourny, einen Blick auf das Manuskript gestattet: „Je vis encore
le manuscrit, lequel est comme la continuation du premier et traite des af¬
faires etrangeres de Sicile et de la cöte de Barberie."" Der Dichter Carlo
Castone Torre di Rezzonico, ein Bekannter Vellas, war ein anderer
Augenzeuge der „Arbeit" an den Livius-Manuskripten. Durch seinen bis¬
her von der einschlägigen Forschung ignorierten Bericht einer Sizilienreise
vom Sommer 1793 besitzen wir erstmals einen guten Einblick in das dama¬
lige häusliche Umfeld des Abate. Torre di Rezzonico kannte Vella von
Begegnungen in Neapel („... in casa del generale Salio.")'* und genoss daher
anscheinend das besondere Vertrauen des Maltesers. Am M.September
1793 erhielt der Poet aus Bergamo eine Privatführung durch die Villa Vel¬
las. Der Abt zeigte ihm seine umfangreiche Sammlung an arabischen Mün¬
zen, Vasen, Broschen, Spangen, erklärte ihre Aufschriften'^ und berichtete.
" Vgl. den Zehzeugen D. Scinä 1827, Bd. 3, S. 347, Anmerkung.
" Fr.L. Graf zu Stolberg 1877, S. 206.
Vgl. Leon Dufournys Eintrag vom 20. Juli 1789 in seinen „Notes rapportees d'un voyage en Sicile fait par lui en 1789". Hier zitiert bei CM. Cederna 1999, S. 71.
CC della Torre di Rezzonico 1817, hier Bd. 5, S. 98.
„[Vella] mi moströ cortesemente varj cimelj arabeschi, e me ne spiegö le nodose iscrizioni. Si sta preparando un elenco di questi monumenti, e se ne icidono i rami. Os- servai molti vasi di bronzo con ornati sul grecanico stile, e i meandri, e le foglie di loto, e quella di persa, e le serpi jugate appoajono in vasi di terra cotta e di bronzo religiosamente, come su' vasi Italioti, e ben si vede, che i Saraceni imitavano i Greci, senza pero penetrare il mistico senso di quegli emblemi da me altrove indicate, [...]. Scorsi pure le medaglie in oro e in argento degli Emiri, e de' Regnanti siculi in caratteri saraceni, e non potei ammi- rare, che la bontä dell' oro, ignorando la lingua, in cui sono scritte le varie leggende." CG.
della Torre di Rezzonico 1817, Bd. 5, S. 98fL
demnächst eine Liste dieser Bestände mit Erklärungen herausgeben zu
wollen. Bereits 1788 hatte sein Gönner, Bischof Alfonso Airoldi, ange¬
kündigt, dass Vella Zeichnungen und Abbildungen der ihm aus Marokko
gesandten Münzen und Medaillen zu publizieren planen würde.'* Zur Zeit
von Torre di Rezzonicos Besuch beabsichtigte Vella diese reiche Samm¬
lung („museo cufico") seiner königlichen Majestät zu schenken." Torre di
Rezzonico erhielt volle Einsicht in die arabischen Originalmanuskripte
des „Codex Martinianus", des normannischen Kodex und auch in die ara¬
bischen Livius-Manuskripte:
„L'Abate Vella mi fe' poscia vedere il Codice Arabo, intorno a cui si addensano
da mohi scettici in Palermo medesimo grandissime nuvole di dubbietä, ch'io
non sono in grado di sciogliere, e che vorrei pur vedere trionfalmente disperse.
Vidi altresi il Codice del Concilio d'Egitto, che stampasi col testo arabo, e colla versione, e vidi eziando l'altro Codice, che contiene dal 60 fino al 67 [sie] libro di Tito Livio. Quel poco di versione, che lessi, altro non e che l'epitome a tutti nota di L. Floro; resta a vedere, se vi siano interi que' libri che a noi mancano, e che tanto desiderio di se lasciarono nella repüblica delle lettere..."''^
Im September 1793 befanden sich also noch alle Manuskripte im Besitz
Vellas.
Nach dem Erscheinen von Vellas Libro del Consiglio di Egitto 1793
dachten viele, nun endlich sei die Zeit reif für die Arbeit an den verlorenen
Büchern des Livius. Doch scheinbar hatte sich noch kein finanzkräftiger
Sponsor der Publikation gefunden. Angeblich waren es nun die Kosten
„Wir haben unsre zudringliche Bitten bei diesen Herren [Ibn Uthmän und seinen
Bruder Mustapha] noch weiter getrieben, und sie um die Denkmünzen der Groß-Emire
von Sicilien ersucht, nach welchen uns Inveges lüstern gemacht hatte, der in seiner Sara¬
cenischen Epoche zwei davon angeführt hat. Muhammed ben Ausman [= Ibn Uthmän]
hatte uns die Abbildungen davon überschickt; aber wir wünschten die Originalien zu be¬
sitzen, und unser gutes Glück machte, daß sie durch den Abbe Vella nach und nach anka¬
men, und zwar nicht nur die von den Groß-Emiren, sondern auch von den Aglabitischen Fürsten, über welche hinaus wir noch einige von den Fätimidischen Fürsten in Aegypten, und viele, die sich in Sicilien gefunden haben, doppelt besitzen. Alle diese Münzen werden bei uns sorgfähig aufbewahrt, und wir werden davon an schicklichen Stellen Abdrücke mittheilen, so wie wir auch, zu besserer Kenntniß der Oerter, deren hier Erwähnung geschieht, eine Charte zu geben gedenken, wozu uns eine Zählung der Menschen, Städte und Länder, die unter der Regierung der Fatimiten befohlen ward, in Stand setzt." Hier
zitiert in der deutschen Ubersetzung von Philipp Wilhelm Gottlieb Hausleutner
(Hrsg.): Geschichte der Araber in Sicilien. In gleichzeitigen Urkunden von diesem Volke seihst. 4 Bde. Königsberg 1791-1793, hier Bd. 1, „Vorbericht", S. XLVIIf.
Vgl. Archivio di Stato, Neapel, Ministero dell'ecclesiastico espedienti. Fs. 772. Siehe
auch A. Baviera Albanese 1978, S. 151.
'° C. C. DELLA Torre di Rezzonico 1817, hier Bd. 5, S. 98L
eines aufwendigen Druckes, die den Abate an der baldigen Publikation
des Livius hindern. Tatsächlich erzählte Vella im Juni 1792 dem Grafen
Stolberg, er wolle die „ganze Handschrift [...] nicht eher herausgeben, bis
er sich durch eine hinlängliche Anzahl von Subscribenten gegen Schaden [...]
gesichert hätte".*' Dieser Aufruf fiel nicht auf taube Ohren. Im Frühjahr
1794 erklärte sich die gerade in Neapel eintreffende Lady Spencer bereit, für
die Druckkosten aufzukommen, „daß doch einmahl der arabische Livius,
den ganz Europa mit Ungeduld erwartet, in Sicilien erscheinen möchte".*^
Doch während Lady Spencer ihr generöses Angebot einer Finanzierung
der Publikation der Manuskripte unterbreitete, bemühte sich der inkognito
nach Palermo gereiste Joseph Hager bereits dem Spuk der verlorenen Bü¬
cher des Livius ein Ende zu bereiten.
Hager beschrieb die mühevolle Jagd bis ihm Vella „nach verschiede¬
nen Ausflüchten, und beständiger Verzögerung, [...] endlich den Auszug
des 60sten Buches in italienischer Sprache"" zeigte. Nicht ohne Eigenlob
berichtete der Österreicher weiter, dass ihm
„der Inhalt sogleich bedenklich schien, weil ich in demselben Ausdrücke neue¬
rer Zeiten, antraf; auch daß mir die ganze Erzählung, in Betreff des auf dem
Gesimse der Sophienkirche gefundenen Manuskripts, verdächtig schien, weil
ich selbst in Constantinopel gewesen bin, diese sehenswürdige Moskee [sie]
besucht, und zugleich bemerkt habe, mit welcher Aufmerksamkeit, und sogar
Strenge man gegen die Christen dabey verfährt; endlich weil diese Moskee ihre
eigene Bibliothek hat, welcher man eine dergleichen Handschrift, falls sie sich
auf dem Gesimse befunden hätte, längst einverleibt haben würde; was aber
das Merkwürdigste ist, daß Monsignor Airoldi, und ich gefunden haben, daß
dieser Auszug nichts anderes, als die Epitome des Florus sey".'"*
Wie im Folgenden unschwer zu erkennen, war Vella längst über die wahre
Identität des Besuchers gewarnt. Während er anderen - wissenschaftlich
ungebildeten - Grand Touristen und Aristokraten bereitwillig und stolz
seine Schätze zeigte,*' trat er Hager sehr reserviert gegenüber. Obwohl
Hager in der Rolle eines der vielen auf den Spuren der Antike reisenden
Grand Touristen zunächst nur die arabischen Ubersetzungen der verlorenen
Bücher des Livius zu sehen wünschte, hatte er keinen Erfolg. Vella zeigte
dem Besucher seine umfangreiche Münzen- und Vasensammlung, mehr
Fr.L. Graf zu Stolberg 1877, Bd. 1, S. 205.
J. Hager 1795, S. 122; vgl. auch ders. 1799a, S. 152; ders. 1799b, S. 61.
J. Hager 1799b, S. 66f.
J. Hager 1799b, S. 66f.
Vgl. Fr.L. Graf zu Stolberg 1877, Bd. 1, S. 205fl.
aber nicht,** „was aber den Livius betrifft, so entschuldigte er sich, dass er
ihn nicht bey Händen habe; einer seiner Schüler (denn er ist Professor der
arabischen Sprache) sey mit dessen Abschreibung beschäftigt; jedoch wollte
er mir ihn ein anderes Mal weisen".*'' Nach weiteren beharrlichen Fragen
Hagers zeigte ihm Vella schließlich seine italienische Übersetzung, „aus
dem ersten der wieder gefundenen Bücher, welches das sechzigste im Livius
ist".** Hager gelang es, bevor er das Haus Vellas verließ, einige kurze
Auszüge dieser italienischen Übersetzung zu kopieren. Wieder in seinem
Quartier angelangt, studierte er diese Exzerpte. Schon während seiner Kon¬
versation mit Vella war ihm ein besonders haarsträubender Fehler aufge¬
fallen. Hager hatte bemerkt, dass „Franzosen (Francesi) darin [in Vellas
Übersetzung] vorkommen, die zu den Zeiten der Römer noch nicht bestan¬
den, denn sie wurden, wie man weiß, erst im fünften Jahrhundert unter dem
Namen Franken bekannt".*' Hager fragte Vella nach dem diesbezüglichen
Begriff in der Originalschrift. „Dieser sagte mir, daß daselbst Fransiz stehe.
Fransiz ist ein moderner Name, der nicht einmal den Arabern des mittleren
Zeitalters bekannt gewesen zu seyn scheint, die weiter nichts als Franken
(Frenk) aus den blutigen Kreuzzügen kannten."''" Auch gegenüber Hager
wiederholte Vella die abenteuerliche Geschichte des Manuskriptfundes in
der Hagia Sophia durch den französischen Maler Antoine Favray. Ohne es
Vella direkt zu sagen, hielt Hager diese Geschichte für äußerst unwahr¬
scheinlich, kannte er doch durch seinen zweijährigen Istanbul-Aufenthalt
den Schauplatz aus eigener Anschauung:
„Da ich die Sophien-Kirche selbst besucht habe; da ich mich ihrer innern
Beschaffenheit noch ziemlich erinnere, und zugleich weiß, welche Aufmerk¬
samkeit, und sogar Strenge die Türken gegen die Christen dabey beobachte¬
ten, so schien mir die ganze Erzählung ein Mährchen. [...] Auch würde diese
Handschrift schwerlich so lange auf dem Gesimse haben bleiben können, ohne
„Als ich diesen Abt bald darauf besuchte, entdeckte ich ihm mein Verlangen, und bath ihn in sehr höflichen Ausdrücken, mir die Ansicht des arabischen Livius zu gestatten.
Er zeigte mir seine Münzensammlung, welche über drey tausend kufische Münzen, und
hierunter dreyzehn hundert goldene enthält; dann seine Sammlung arabischer in Sicilien gefundener Gefäße, die er alle zu beschreiben Willens ist." J. Hager 1795, S. 197f. Der seine Informationen von seinem Freund Gregorio erhaltende SciNÄ schrieb: „Egli adun- que come ebbe in Palermo arrivato andossi difilato al Vella bramoso di vedere gli arabici manoscritti de' libri di Livio, e de' due famosi codici martiniano e normanno. Ma il Vella poco di lui si euro, un linguaggio misterioso gli tenne, ne gli diede ad osservare gl'invisi- bili suoi codici." D. Scinä 1827, Bd. 3, S. 343.
J. Hager 1795, S. 198f.
J. Hager 1795, S. 199.
" J. Hager 1795, S. 200.
^° J. Hager 1795, S.200.
daß sie von den abergläubisciien Muhammedanern entweder zerstört, oder der Bibhothek der Sophienkirche wäre einverleibt worden."^'
Zu weiteren diesbezüglichen Anfragen bei Vella kam es nicht. Ohne es zu
bemerken wurde Hager überwacht. So misslangen weitere Versuche des
Österreichers die Originalhandschriften zu sehen; „Vella war nie zu Hause
anzutreffen".''^
Hager wendete sich nun an den gelehrten Bischof Airoldi - nicht an den
vizeköniglichen Hof! - und weihte ihn in seine Entdeckungen ein.''' Diese
Wendung und die folgenden Ereignisse lassen die interessante Hypothese
zu, dass sich Vellas alter Vertrauter und Gönner Airoldi aufgrund der
„Zusammenarbeit" des Abates mit dem vizeköniglichen Sekretär Carelli
und Vertretern der progressiven und sekularistisch orientierten Regierung
Caramanico von seinem einstmaligen Schützling zumindest hinter der Fas¬
sade distanziert hatte. Diese Annahme wird um so mehr dadurch gestützt,
dass nun Vellas Gegner, der Arabist und Historiker Rosario Gregorio,
zu dem geheimen Gespräch zwischen Airoldi und Hager hinzugezogen
wurde. Gemeinsam begann die Entlarvung Vellas:
„Indessen brachte Airoldi aus seinem Bücherschranke die Epitome des Florus
herbey. Wir hielten beyde Auszüge gegen einander, und fanden im Beyseyn des
Domherrn Gregorio, daß der Inhalt des Vella nichts Anderes, als die wirkliche Ubersetzung der Epitome, sey."^''
Dass Hager die noch nicht publizierte Betrügerei der arabischen Bücher des
Livius aufklärt, konnte und wollte Airoldi anscheinend nicht verhindern.
Sollte Vella gestoppt werden, weiter seine offensichtlichen Fantasien über
den Livius zu verbreiten, mußte dies Airoldi nur recht sein. Dem Bischof
kam es darauf an, dass der von ihm edierte Codice diplomatico unangetastet
bleibt. Dass Airoldi mittlerweile begrifTen hatte, dass Vella bei weitem
nicht jener Experte des Arabischen und Kufischen war, wie er vorspielte,
ist offensichtlich. Darüber hinaus musste der Bischof darüber verärgert
sein, dass sich Vella mit dem Libro del Consiglio di Egitto in die Arme
der immer offensichtlicher die Vorrechte der Kirche beschneidenden Regie¬
rung Caramanico begeben hat. Sollte Vella wirklich einmal versuchen, mit
gefälschten Ubersetzungen des Livius an die Öffentlichkeit zu treten, war
ein Auffliegen der gesamten AfTäre zu befürchten. Wichtig war daher, die
Wahrheit über die ganze Affäre nicht an das Tageslicht treten zu lassen. Die
^' J. Hager 1795, S. 201.
J. Hager 1795, S. 199.
" J. Hager 1795, S. 199f.
J. Hager 1795, S.201f.
Ermittlungen bezüglich Vellas angeblichen Büchern des Livius konnten
in den Augen Airoldis daher heimlich weiterlaufen. Wahrscheinlich kam
es dabei zunächst zu einem geheimen Einvernehmen zwischen Airoldi und
Hager über zukünftige Aktionen. Interessanterweise versuchte Hager
später in seinem „Enthüllungsbuch" der VELLA-Affäre, Airoldi von jedem
Verdacht einer Mitwisserschaft an Vellas Fälschungen reinzuwaschen:
„Da er aber einestheils der arabischen Sprache unkundig war, anderntheils jenen Biedersinn auch bey andern anzutreffen glaubte, den er selbst in einem so hohen Grade besitzt, so dachte er weiter an keine Ränke, zumalen da er sich auf das Zeug¬
nis eines in der Sprache Arabiens erfahrnen Gelehrten des nördlichen Deutsch¬
lands verließ, der die ihm überschickten Probestücke für ächt erklärte."'"'
Airoldis Einfluss und Macht wurde deutlich, als es Hager auf einmal ge¬
lang, von Vella wieder empfangen zu werden und die begehrte Handschrift
zu Gesicht bekommen:
„Nach einigen Sträuben zog er [Vella] einen alten, schlecht geschriebenen ara¬
bischen Codex hervor, öffnete ihn, und sagte zu mir: Können Sie lesen? Ich sah
die arabische Schrift an, und der zu voreilige Vella glaubte vielleicht, daß ich
nichts davon verstehe. Gerade dieses, sagte er, ist der Livius! Nun wollte ich
ihn in meine Hände nehmen und untersuchen; allein umsonst; er gestattete mir
weder das Eine, noch das Andere; er gab das Buch gar nicht aus seinen Händen,
und zog es beständig zurück, als ich es ergreifen wollte."^*
Dennoch stand für den Wiener Professor fest,
„daß dieses kein Livius war. Erstlich, weil das erste Blatt, welches nach arabi¬
scher Schriftart zu Ende ist, halb vermodert war, also nicht gerade mit dem
sechzigsten Buche, wie Vella vorgab, anfängt; dann weil es mehrere sehr kleine
Kapitel enthält, dergleichen beym Livius nicht vorkommen; endlich weil jedes
Kapitel mit dem arabischen Kaie (dixit), wie Elmacin und andere arabische
Geschichten, beginnen, welches nicht der Styl des Livius ist."''''
Für handfestere Beweise benötigte Hager weitere schriftliche Beweise:
„Nun ersuchte ich den Vella, daß er selbst mir nur ein Paar Zeilen daraus in die
Feder dictieren möchte, da er es nicht zuließ, daß ich etwas heraus schriebe.
Ich sagte ihm, daß ich gesonnen sey, es abdrucken zu lassen, um indes dem
erwartenden Europa einen Vorgeschmack des wieder gefundenen Livius zu
geben. Allein er weigerte sich, mir etwas zu dictieren; er sagte, daß er mir fol¬
genden Tages ein Paar Zeilen ins Haus schicken würde."''*
" J. Hager 1799b, S. 7f.
J. Hager 1795, S. 203.
7' J. Hager 1795, S. 203.
^« J. Hager 1795, S. 203f.
Tatsächlich schickte Vella am folgenden Tag ein Exzerpt in Italienisch und
Arabisch. Hager überlieferte diese Exzerpte in seinem Reisebericht Reise
von Warschau [...] nach der Hauptstadt von Sicilien und übersetzte sie auch
in das Deutsche: „Lucius Aurelius Consul, nachdem er viele Schlachten ge¬
liefert hatte, unterjochte endlich mit großer Tapferkeit die Aufrührer von
Sardinien, ein sehr böses Volk. Aber die Insel ist fruchtbar u. s. w."''' Der
Wiener Gelehrte stellte fest: „Allein dieses ist wieder nichts Anderes, als die
erste Zeile der Epitome des Florus rhetorisch amplificirt."*"
Ein anderer Chronist der Affäre, der Zeitzeuge Domenico Scinä, war
hinsichtlich Hagers Ermittlungen während seines ersten Aufenthalts in
Palermo im Frühjahr 1794 nicht sehr präzise. So wurde Airoldi nicht von
Gregorio - wie Scinä schreibt - über Hagers Verdacht unterrichtet.*' Es war
Hager, der sich diesbezüglich als erster an Airoldi wandte. Scinäs größtes
Problem in seiner Beschreibung des VELLA-Falles war vor allem sein Versuch,
die Regierung Caramanico vom Verdacht jeder Beteiligung an den Aktivitäten
des Maltesers fernzuhalten. So beschrieb er Vizekönig Caramanico als völlig
überrascht von Hagers Enthüllungen.*^ Dass Caramanico nicht auf die ihm
persönlich von Hager offenbarten schweren Anschuldigungen gegen Vella
reagierte, kann aber auch Scinä nicht verschweigen. Caramanico äußerte le¬
diglich lapidar. Hager solle seine Zweifel Minister John („Giovanni") Acton
in Neapel vorbringen.*' Hager kam diesem umgehend nach.
Gemeinsam mit Gregorio verfasste der Wiener ein ausführliches
Gutachten,*'' welches Vellas Arbeiten - sowohl den Lihro di Consiglio di
J. Hager 1795, S. 204. Im Italienischen schrieb Vella: „Lucio Aurelio Console, dopo d'averdato molte battaglie, finalmente con gran valore foggio gö li ribelli della Sar¬
degna, gente assai perversa. Mä ITsola e fertile di etc." Zum arabischen Text siehe S. 206.
^'^ J. Hager 1795, S. 205.
*' Vgl. D. Scinä 1827, Bd. 3, S. 344.
^•^ D. Scinä 1827, Bd. 3, S. 344. Im Archivio di Stato, Palermo; R. Segretaria di Sicilia;
Incartamenti 5291, keine Seitenzählung, befindet sich eine an Caramanico („a son excel¬
lence Monsieur le Prince de Caramanico Grand Croix del Ordre Roial de S. Janvier, Vice- Roi du Royaume de Sicile ec. ec. ä Palerme") adressierte undatierte „rappresentazione di un Tedesco a S. Maesta sopra il Codice diplomatico di Sicilia".
" Vgl. D. Scinä 1827, Bd. 3, S. 344.
Hager sagte, er habe es auf seiner Rückreise von Palermo nach Neapel verfasst:
„Eine achttägige Windstille bey meiner Ueberfahrt nach dem festen Lande, bot mir die
Gelegenheit an die Hand, folgendes Memoire am Borde des Königl. Paquetboots aufzu¬
setzen, welches ich bey meiner Ankunft dem erstgedachten General (John Acton), und
dieser dem Könige überreichte". J. Hager 1799b, S. 68. Das in französischer Sprache ver¬
fasste Original von Hagers Gutachten vom Mai 1794 befindet sich im Archivio di Stato, Palermo; R. Segretaria di Sicilia; Incartamenti 5291, keine Seitenzählung. Dort befindet
sich auch eine italienische Ubersetzung. Eine überarbeitete deutsche Ubersetzung ist
abgedruckt in J. Hager 1799b, S. 68-78.
Egitto wie auch den Codice diplomatico als Fälschungen deklarierte.*' Doch
für genauere Beweise und Informationen müßte eine genauere Examinierung
der Originalmanuskripte erfolgen. Neapels allmächtiger Minister Acton
erhielt dieses Gutachten am 22. Mai 1794 und legte es König Ferdinand IV.
vor.** Bereits am 31. Mai wendete sich Acton im Namen König Ferdinands
diesbezüglich an Caramanico und Airoldi. In seinen Schreiben bekundete
er die Beunruhigung des Königs über die Andeutungen Hägers.*^ Doch
Carelli und Vizekönig Caramanico konnten für den Moment eine öffentli¬
che Diskreditierung Vellas und damit des für sie so nützlichen Libro del
Consiglio di Egitto verhindern.** So wurde Hager - der sich mittlerweile
auf den Rückweg nach Wien befand - von König Ferdinand IV. untersagt,
seine Schlüsse zu veröffentlichen.*'
Ungeachtet dieser sich weitgehend noch im geheimen abspielenden
Enthüllungen hielt sich in Italien und Sizilien bis zu Vellas Prozess die
Meinung, es handele sich um authentische arabische Ubersetzungen des
Livius. Noch im Sommer 1794 beteuerte der Bibliothekar der königlichen
Bibliothek von Neapel, Don Pasquale Baffi, gegenüber den Grand Touristen,
die Authentizität des Manuskripts.'" Dennoch war das Ende der Karriere
Vellas nicht aufzuhalten. Der endgültige Absturz kam nach dem überra¬
schenden Tod Vizekönigs Caramanico im Januar 1795. Vella war damit
seines letzten mächtigen Protektors beraubt. Joseph Hager und ein weite¬
rer Gelehrter, der damals im italienischen Exil lebende Germano Adami,
Erzbischof von Aleppo, wurden von König Ferdinand IV. zur weiteren
Klärung des Falles nach Palermo zurückgerufen. OfTensichtlich erachtete
Vgl. Gregorios „Carteggio" in der Biblioteca comunale di Palermo; Qq F. 60; V. Di Giovanni: Rosario Gregorio e le sue opere. Palermo 1871, S. 52ff.; D. Scinä 1827, Bd. 3, S. 359.
Vgl. D. Scinä 1827, Bd. 3, S. 344.
Vgl. den Brief Actons an Caramanico vom 31. Mai 1794, in dem er auf Hagers Zweifel an der mittelalterlichen Herkunft der arabischen Dokumente Vellas, die falschen Kalen¬
der- und Jahresberechnungen und die Parallelität zu den Werken von Inveges und Caruso hinweist, „sono tutti fondamenti secondo i quali crede il Sig. Hager (di poter asserire) che manchino i detto codici di autenticitä...". Alle diese Neuigkeiten „ha posto in qualche in- quietudine il suo Real animo". Archivio di Stato, Palermo; R. Segretaria di Sicilia; Incarta¬
menti 5291, keine Seitenzählung. Vgl. auch D. Scinä 1827, Bd. 3, S. 344f. Bezüglich dieser Schreiben Actons siehe auch (mit falschem Datum) A. Baviera Albanese 1978, S. 119.
Vgl. auch der vor allem Domenico Scinä folgende A.A. Caruana 1899, S. 45.
In seiner 1799 veröffentlichten „Nachricht von einer merkwürdigen literarischen Betrügerey" deutete Hager diese Zensur an, „durch deren Sorgfalt sie (seine Reisebe¬
schreibung von 1795) noch um ein merkliches kürzer ward". J. Hager 1799b, S. 66. Siehe auch Archivio di Stato, Palermo; R. Segretaria di Sicilia; Incartamenti 5291, keine Seiten¬
zählung; Schreiben Actons an Caramanico vom 31. Mai 1794.
J. Hager 1799b, S. 61.