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Fitness- und Gesundheitsbewegung

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Academic year: 2022

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Silja Luft-Steidl

Fitness- und Gesundheits- bewegung –

Neuauflage der Diätetik?

Untersuchungen zu einer Philosophie der Gesundheit

VERLAG KARL ALBER B

und Leben

Band 32

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Fitness- und Gesundheitsbewegung – Neuauflage der Diätetik?

VERLAG KARL ALBER A

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Seele, Existenz und Leben

Band 32

Herausgegeben von

Silja Luft-Steidl und Frédéric Seyler

Forschungsstelle für jüngere französische Religionsphilosophie, Forschungskreis Lebensphänomenologie, Universität Freiburg i. Br und

Department of Philosophy DePaul University, Chicago

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Silja Luft-Steidl

Fitness- und Gesundheits- bewegung –

Neuauflage der Diätetik?

Untersuchungen zu einer Philosophie der Gesundheit

Verlag Karl Alber Freiburg / München

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Is Dietetics reemerging with today’s Fitness and Health Movement?

Studies on a philosophy of health

Conceptually forgotten or restricted to the food sector, dietetics re- ferred to people’s deliberations, behaviour, and worries concerning their well-being and health for more than two millennia. In the ex- change of the lay, savvy and scholars, the dietary paradigm was con- cerned with the consciousness of fragile life and the means that pro- vided for integration into the natural and spiritual world. People experienced themselves as a body within the cosmos.

Over the past forty years, there has been a change in the beha- viour towards one’s health. While it was chiefly the elderly, the sick or those with a particular interest who took care of their own health in the course of the emergence of modern care, now a „fitness and health movement“ is all-present. But the universal sciences of philo- sophy and theology hardly paid attention to this mass phenomenon and even voiced prejudices against it. The subject deals with the con- cept of the body or people in their life relationships.

Silja Luft-Steidl examines which elements of the fitness move- ment can and cannot be considered as a continuation of dietetics. This movement, which promises good health, can affect people who suffer negatively by excluding them, as self-reports show. Even more than an admonition to integrate those who require support, this work re- presents a vision for the healing of the modern breach between mind and nature, thought and life.

The Author:

Silja Luft-Steidl holds a doctorate in philosophy and is a registered Protestant theologian. Her specialist areas are corporeality, nature, healing, and curing. Lectureships at the Universities of Erlangen, Freiburg i. Br. as well as freelance educational work.

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Fitness- und Gesundheitsbewegung – Neuauflage der Diätetik?

Untersuchungen zu einer Philosophie der Gesundheit

Begrifflich vergessen oder auf das Ernährungsgebiet beschränkt, meinte Diätetik mehr als zwei Jahrtausende jedes Bedenken, Verhal- ten und die Sorgen der Menschen um ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit. Im Austausch von Laien, Kundigen und Gelehrten ging es nach dem diätetischen Paradigma um das Bewusstsein des fragilen Lebens sowie um Mittel, die eine Einbindung in die natürliche und geistige Welt gaben. Der Mensch erfuhr sich als Leib im Kosmos.

In den letzten vierzig Jahren ist ein Wandel des Gesundheitsver- haltens eingetreten. Sorgten sich im Zuge moderner Versorgung nur noch Ältere, Kranke oder speziell Interessierte um ihr Gesundheits- wohl, ist jetzt eine »Fitness- und Gesundheitsbewegung« allpräsent.

Doch die Universalwissenschaften Philosophie und Theologie beach- teten dieses Massenphänomen kaum oder verbreiteten sogar Vor- urteile darüber. Fachlich geht es um die Begriffe von Leib und Körper bzw. den Menschen in seinen Lebensbeziehungen.

Silja Luft-Steidl untersucht, welche Elemente der Fitnessbewe- gung als Fortsetzung der Diätetik angesehen werden können und welche nicht. Ausgrenzend kann diese Bewegung, die Gesundheit verspricht, auf leidende Menschen wirken, wie es Selbstberichte er- hellen. Noch mehr als eine Mahnung zur Integration Bedürftiger stellt diese Arbeit eine Vision dar zur Heilung des modernen Bruches von Geist und Natur, Denken und Leben.

Die Autorin:

Silja Luft-Steidl ist promovierte Philosophin und magistrierte evan- gelische Theologin. Ihre fachlichen Schwerpunkte sind Leiblichkeit, Natur, Heilung, Heil. Lehraufträge an den Universitäten Erlangen, Freiburg i. Br. sowie in der freiberuflichen Bildungsarbeit tätig.

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© VERLAG KARL ALBER

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten

www.verlag-alber.de

Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN (Buch) 978-3-495-49006-8 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81719-3

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1 Zielstellung der Arbeit . . . 11

2 Material und Methode . . . 19

3 Gesundheitsverhalten früher . . . 31

3.1 Was ist Diätetik? . . . 31

3.1.1 Die Anfänge . . . 31

3.1.2 Maimonides: Diätetik für den Körper und die Seele 51 3.1.3 Das Mittelalter: Von Kräutern, Kirche, Kräften und Weisen . . . 64

3.1.4 Hildegard von Bingen:Scivias . . . 100

3.1.5 Paracelsus: Die Dosis macht’s . . . 116

3.1.6 Baden und Fasten: Diätetik zwischen Spektakel und Neurose . . . 128

3.1.7 Die Diätetik der Aufklärung und Goethes »Werther« . . . 155

3.1.8 Friedrich Nietzsche: Von den Verächtern des Leibes 174 3.1.9 Turnvater Jahn: Frisch, frei, fröhlich und fromm . 191 3.2 Abschließende Gedanken zum Wesen der Diätetik . . . . 201

4 Gesundheitsaktivitäten heute . . . 211

4.1 Beschreibung und Interpretation der Befragungsdaten . . 211

4.1.1 Gesunde Ernährung . . . 212

4.1.2 Fitnesssport . . . 241

4.1.3 Jogging und Walking . . . 271

4.1.4 Yoga . . . 292

4.2 Resümee zur Fitness- und Gesundheitsbewegung . . . . 310

(9)

5 Offene Fragen der Untersuchung . . . 322

5.1 Therapeutische Phänomenologie und Einzelfallberichte . 322 5.1.1 Verrückt wird zur Normalität – E-Mail einer Frau. 333 5.1.2 Halbierte Ganzheit – Erzählung eines 65-jährigen Mannes . . . 334

5.1.3 Gesundheit oder Wellness – Erzählung eines ca. 50-jährigen Mannes . . . 335

5.1.4 Vom Autositz – E-Mail eines Mannes . . . 336

5.1.5 Natur und Knoblauch – E-Mail eines ca. 25-jährigen Mannes . . . 336

5.1.6 Natürlich glutenfrei – Erzählung einer Ende 20-jährigen Frau . . . 337

5.1.7 Verwirrende Haarwäsche – Brief einer Mitte 30-jährigen Frau . . . 338

5.1.8 Vom Ziegenkäse – Erzählung einer ca. 50-jährigen Frau . . . 340

5.1.9 Wohlgefühl mit Reizstoffen? – Erzählung einer jüngeren Frau . . . 341

5.1.10 Hygiene oderhygieia– Erzählung einer ca. 45-jährigen Frau . . . 342

5.1.11 Von Zittern, Hungern und Stärke – Brief einer ca. 40-jährigen Frau . . . 343

5.1.12 Von den Inhaltsstoffen gesunder Nahrungsprodukte – E-Mail-Wechsel mit einer 51-jährigen Frau . . . 344

5.2 Beurteilung der Fitness- und Gesundheitsbewegung gegenüber der Diätetik . . . 353

5.3 Gesamtergebnis der Studie . . . 359

6 Ausblick . . . 362

7 Zusammenfassung . . . 380

Literaturverzeichnis . . . 388

Personenregiser . . . 409

Sachregister . . . 412

Anhang . . . 419

Fragebögen . . . 419

Die Antwortdaten in Diagramm-Darstellung . . . 436

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wir nicht hinaus wirken können noch wollen, sie hat uns die Steine geschnitzt, deren Wert, Bewegung und Ver- mögen nach und nach bekannt werden: nun ist es an uns, Züge zu tun, von denen wir uns Gewinn versprechen.«

Goethe im Briefwechsel an seinen Freund Zelter

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(12)

Ein Wandel zum Bewusstsein einer allgemeinen Bedrohung der Ge- sundheit vollzog sich vorrangig ab Ende der 1970er-Jahre aufgrund der zunehmenden Gefahren aus der verschmutzten Umwelt sowie der Probleme durch die industrialisierte Ernährung und die oft unge- sunde Lebensweise. Kinder wurden mit Allergien geboren, Vielsitzer in Büros erlitten Obstipationen, Vollkorn und Dinkel vollzogen eine Renaissance, »Joggen« wurde zum neuen Individualsport. Staub- sauger-Vertreter schürten Angst vor Partikeln, Begriffe wie »Schad- stoffe« und »Emission« wurden weitbekannt, manches Brot verlor seine Konservierungsstoffe, und Reformhäuser, vorher eher Anlauf- stellen für ältere und kranke Menschen, lockten nun mit pfiffig ver- packtem, »gesundem« Knusperwerk. Die ersten Bioläden entstanden und damit überhaupt, anfangs erst zaghaft, eine Vorstellung vom Be- griff »bio«. Noch eineinhalb Jahrzehnte vergingen bis zur Breiten- akzeptanz von Gesundheitsverhalten im Hinblick auf »richtige« Er- nährung und Bewegung.

Natürlich gab es schon in früheren Zeiten Sportliebhaber, die turnten, Fußball spielten oder, eher landschaftsbezogen, in Nord- deutschland Wassersport trieben und im Süden Ski liefen, sowie die spezifische deutsche Sportvereinskultur. Während aber rückblickend das Sporttreiben früher ganz bestimmten Menschen aus Begabung und Hobby zugeschrieben wurde, so wie andere musizierten, bastel- ten oder Briefmarken sammelten, entwickelte es sich mehr und mehr zu einem Lebensstil, den gegenwärtig auch die zunächst Unsport- lichsten als Notwendigkeit akzeptieren, annehmen und in unter- schiedlichster Weise praktizieren.

Inzwischen fungiert Gesundheitsverhalten weit über das Indivi- duelle hinaus als Politikum, oft im Zusammenhang mit ökologischen Normierungen und begleitet von ethischen Appellen. Aber nicht nur das: Gesundheitsverhalten ist ein dominierender Bereich des Kon- sumverhaltens geworden. Konsum hat in Folge zeitgenössischer

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Wirtschaftsstrukturen nahezu alle Lebensformen durchdrungen; die Marktstrategien der Angebotsseite halten mit stets »gesunden«

Anpreisungen den Prozess am Laufen bzw. den Kunden am Kaufen.

Fitness- und Gesundheitsverhalten ist ein Kulturphänomen der west- lichen Welt geworden.1 Viele Vorbilder des Westens, von Enter- tainern über Sportler, Politiker bis zu Monarchen, versuchen, ihre Attraktivität damit zu erhöhen, Fehlgebrauch eingeschlossen. Ein medienträchtiger Meilenstein etwa war der Lauf des deutschen Bun- desministers Joschka Fischer gegen das Übergewicht Mitte der 1990er-Jahre.

Hans-Georg Gadamer beschreibt Gesundheit in einem pro- minenten Aufsatz so: »Trotz aller Verborgenheit kommt sie in einer Art Wohlgefühl zutage und mehr noch darin, dass wir vor lauter Wohlgefühl unternehmungsfreudig, erkenntnisoffen und selbstver- gessen sind und selbst Strapazen und Anstrengungen kaum spüren – das ist Gesundheit.«2Hier kommt zum Ausdruck, dass Gesundheits- und Fitnessverhalten nicht nur allein auf die Unversehrtheit und das tadellose Funktionieren des eigenen Körpers zielt, sondern die eigene Haltung zur Welt und das Streben nach sozialem Austausch, nach Lebensfreude mit einschließt.

Möglicherweise hat das alles direkt und indirekt auch mit der immer stärker problematisierten Beziehung des Menschen zur Natur zu tun, mit dem Bewusstsein ihrer massiven Bedrohung durch die Technik und unserer eigenen Bedrohung durch die Wechselwirkun- gen von Technik und Natur. Fakt bleibt: Fitness- und Gesundheits- verhalten, ein Breitenphänomen und gleichzeitig eine mediale Meta- pher, spricht heute zahlreiche Menschengruppen an. Unzählige Gebrauchsprodukte des Alltags, vom Autositz bis zum Ziegenkäse, empfehlen sich mit Gesundheitsattributen. Dass aber alle Sport-Trei- benden, Bio-Esser und Saunierenden zu bloßen Mitläufern manipu- liert werden, wie es die Kritiker im Ergebnis implizieren, ist damit nicht gesagt. Der Satz: »Meine Gesundheit ist mir wichtig« klingt heute als selbstverständlicher, eigenverantwortlich-vorausblickender Ausspruch und Anspruch.

Die Philosophie, Kultur- und Geisteswissenschaften haben sich

1Interessantes Beispiel: In einem Langenscheidt-Französisch-Lehrbuch, Mittelstufe, für Volkshochschulen, wird ein ganzes Kapitel der Gesundheitspflege für Groß und Klein gewidmet. In früheren Sprachlehrbüchern war das nicht üblich.

2Gadamer, Hans-Georg: Verborgenheit, S. 144.

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nach Erfahrungen der Verfasserin in ihren Überschneidungen zu Me- dizin und Psychologie dem Gesundheits- und Fitness-Phänomen bis- her nicht ernsthaft zugewandt.3Sie ignorieren es entweder oder kri- tisieren es abwertend. Einige Beispiele sollen das zeigen: Bekannt wurde der Arzt, katholische Theologe und Schriftsteller Manfred Lütz durch Kritik in seinen Bestsellern. Sportler und Ernährungs- bewusste werden bei ihm durchweg zu neurotischen Masochisten er- klärt mit einem gestörten Lebensverhältnis. Von religionsgleicher Quälerei wie bei den »Büßer- und Geißlerbewegungen des Mittel- alters« ist bei Lütz die Rede.4Auch seriösere Schriften urteilen scharf.

Der philosophische Anthropologe Gernot Böhme behandelt unter den zahlreichen Facetten des Bodybuildings nur die ästhetische Sei- te.5Peter Koslowski, philosophischer Ethiker, unterstellt der Fitness- und Gesundheitsbewegung etwas kulturell Degeneratives, ohne of- fensichtlich Kontakte zu Beteiligten gepflegt zu haben.6 Im Essay einer vielgelesenen Tageszeitung unterstellt der soeben wie auch im Artikel zitierte Manfred Lütz sogar, die Ausübenden würden nach absehbarer Zeit des Trainings selbst begreifen, dass dieses sinnlos sei.

Daher wolle er die Welle nicht ernst nehmen.7 Im Textzusammen- hang der genannten Fundstellen werden den Aktiven pauschal sinist- re Motive untergeschoben, ohne auch nur den Beweis ihrer Existenz vorzulegen. Es kommt dabei in den Sinn, ob nicht auch vernünftige Seiten in dem neuen Trend gefunden werden können sowie vernünf- tige Motive bei den einzelnen Beteiligten. So kann z. B. die wechsel-

3 Dagegen liegt eine umfangreiche sportwissenschaftliche Arbeit vor: Dilger, Erika:

Die Fitnessbewegung in Deutschland. Wurzeln, Einflüsse und Entwicklungen, Schorndorf 2008. Hier geht es um den Sport, dabei insbesondere den Fitness-Sport als Synonym für Bodybuilding, aber nicht um das breite Fitness- und Gesundheits- angebot und -verhalten, das z. B. auch die Ernährung, die Qualität verschiedenster Alltagsprodukte u. a. betrifft, S. 37. Die Ausweitung zur Volksbewegung wird von E. Dilger entsprechend konstatiert. Ihr zufolge war in Deutschland die Zunahme der Zivilisationskrankheiten ab den 1950er-Jahren erster Auslöser einer öffentlichen Kampagne »Sport für alle« z. B. mit Volksläufen, Trimm-dich-Pfaden, aus der sich der kommerzielle Markt heutiger Größenordnung allmählich (und rasant ab den 90ern) entwickelt hat: S. 357. Weiterhin gibt es kulturwissenschaftliche Monografien zum Sportbereich von Bernd Wedemeyer (auch: Wedemeyer-Kolwe), der in dieser Arbeit mehrfach zitiert werden wird.

4 Lütz, Manfred: Lebenslust, insbes. S. 11–14, Zitat S. 49.

5 Vgl. Böhme, Gernot: Leibsein, S. 199–202 sowie S. 272–274.

6 Vgl. Koslowski, Peter: Postmoderne Kultur, S. 45–49.

7 Zit. in Scherfenberg, Evelyn: Dein Body wird super, in: NZ 24. 9. 2011, hier Inter- netversion, S. 2.

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seitige Durchdringung medizinischer und unternehmerischer Stan- dards bzw. Praktiken, wie sie sich in der Fitness- und Gesundheits- bewegung offen zeigt, auch eine Chance zur wirksamen Kostendämp- fung im Gesundheitswesen sein. Sie kann aber auch die Gefahr eines Sinnverlusts des gesundheitlichen Handelns beinhalten.

Eine historische Übersicht über das moderne Sportverhalten schreibt der Sportwissenschaftler Bernd Wedemeyer in dem nam- haften anthropologischen Kompendium »Entdeckung des Ich«. Auch hier wird aus kritischer Distanz geurteilt, überwiegend psycho- logisch. Kein Wort fällt darüber, dass die Betroffenen gesundheitliche Gründe oder positive gesundheitliche Erfahrungen haben könnten.

Zu seinem Thema »Individualisierung« würde das aber maßgeblich dazugehören. Am Schluss wird als Problem eingeräumt, dass die In- nenperspektive ihre Sache normalerweise anders sieht.8Damit bliebe aber zu fragen, warum der Autor nicht die teilnehmende Außenper- spektive einnimmt, womit vielleicht auch Beteiligte mit ernsthafter, reflektierender Innenperspektive gefunden werden könnten.

Zu konstatieren ist vielfach eine Tendenz in einschlägigen Stu- dien, die menschlichen Dinge distanziert zu behandeln. Gesundheits- verhalten in seiner vielfältigen Ausübung und deren Wirkung ist ein weitgehendes Tabuthema der Geisteswissenschaften.9Wer in diesem Inhaltsfeld publiziert, tut es oft aus eingleisiger Sichtweise. Im Ergeb- nis, auf die gesundheitsbewussten Aktivisten bezogen, wird diesen dabei die Persönlichkeit abgesprochen und ein reines Manipuliert- Sein unterstellt. Vor allem individuell gesehen kommen plausible Gründe des neuen Gesundheitsbewusstseins in den Sinn, z. B. dass der berufliche Leistungsdruck hoch ist und eine gute gesundheitliche Verfassung verlangt, dass die Menschen älter werden und die staat- liche Versorgung Brüche bekommt. So liefe es auf individuelle Vor- beugung gegen Krankheit und Verfall hinaus, was als etwas höchst Vernünftiges und gesellschaftlich Wertvolles zu betrachten wäre und vielleicht differenziert zu behandeln wäre gegenüber den offen- sichtlichen Kehrseiten der Medaille, über die noch zu sprechen sein wird.10

8Vgl. Wedemeyer, Bernd: Sport und Körper, S. 517–540.

9Auf den Punkt gebracht, müsste bei den wenig differenzierenden Kritikern der Ge- sundheitsmotive jeweils erst ein eigenes Krankheitserlebnis wirken, damit mehr Ver- ständnis für das Leiden aufkäme.

10 Vgl. Kapitel 4.

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Von den gängigen geisteswissenschaftlichen Bewertungen kann konstatiert werden, dass eine wirkliche Beschäftigung mit dem Phä- nomen Fitness- und Gesundheitsverhalten bisher ausgeblieben ist. In einer der schon oben zitierten Textstellen wird sogar erst aus vierter Hand geurteilt. Nämlich in einer journalistischen Abhandlung für eine Tageszeitung, als Internetartikel im Ausdruck eineinhalb Seiten lang, geht es um die Untersuchung von Wellness- und Fitnesszeit- schriften (zweite Stufe). Diese Zeitschriften beobachteten und beur- teilten die Ausübenden (erste Stufe), wobei außerdem Kommentare von Fachleuten wie dem oben angeführten Manfred Lütz (dritte Stu- fe) hinzugezogen wurden.11Außerdem war es mitunter methodisch falsch und fachlich unangemessen, ohne Untersuchungen Ergebnisse, d. h. einfach Meinungen, zu äußern. Besonders schließlich ist es of- fenbar ungerecht und ungenau, mit Pauschalurteilen die in der Regel differenzierten Motive und Erfahrungen von Individuen zu überge- hen. So wurde die Idee zu einer philosophischen Untersuchung von Fitness- und Gesundheitsverhalten geboren. Die vorliegende Arbeit soll dem genannten Desiderat begegnen, indem sie die begrifflichen und begriffstopologischen Grundlagen dieser Bewegung untersucht.

Die nun folgenden Betrachtungen dieses Einleitungsteils sollen den diätetischen Gegenstand der Arbeit würdigen. Um eine Unter- suchung jener Grundlagen in Gang zu bringen, wird in vorliegender Arbeit die Vergleichsgröße der Diätetik gewählt. Somit geht es phi- losophisch auch dezidiert um einen ideengeschichtlichen Zugriff, denn »Diätetik« wirkte für zwei Jahrtausende bestimmend auf die abendländische Gesundheitskultur. Dass die heutige Allgemeinheit sie in Inhalten und Begriffsbedeutungen kaum mehr kennt, schmä- lert ihren Einfluss nicht. Der Verlust ist offensichtlich, da schon das Wort »Diätetik« nicht mehr bekannt und nur noch als »Diät« auf den Ernährungsplan bezogen ist, und das in der Regel »unter erhobenem Zeigefinger«. Geprüft werden soll, ob trotzdem Grundhaltungen der alten Diätetik fortbestehen, heute in modernisierter Form – und ob insofern von »Neuauflage« zu sprechen wäre. Im Gegensatz zur all- gemein geringen Berücksichtigung im Alltag ist die Diätetik immer noch ein vielbeachtetes Sujet der Kultur- und Geisteswissenschaften (mit exponiertem Vertreter Heinrich Schipperges, der noch zitiert

11 Vgl. Scherfenberg, Evelyn: Dein Body wird super, in: NZ 24. 9. 2011, Internetver- sion.

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werden wird). Damit offenbart sich ein Widerspruch: Die Diätetik als Vergangenheitsparadigma wird reichlich behandelt, sogar gelobt. Die Fitness- und Gesundheitsbewegung dagegen, die aufgrund von Ge- genwärtigkeit z. B. empirisch leicht und gründlich behandelbar wäre, wird ignoriert und mitunter sogar pauschal abgelehnt.

Es sieht so aus, als seien die heutigen Fitness- und Gesundheits- aktivitäten aus dem traditionellen diätetischen Verhalten hervor- gegangen. Diätetisches Verhalten galt über Epochen hinweg als Ge- sundheitskultur schlechthin, wie der diätetische Abriss12es kenntlich machen wird. Dabei verleiht noch die Tatsache der Gesundheitskultur besonderen Wert, dass das Sorgen um das menschliche Wohl den ältesten und stärksten Motivator aller Kulturleistungen überhaupt darstellt. Michel Foucalt spricht in Anlehnung an die altgriechische Gesinnung von der »Sorge um sich« als einer freiheitlichen »Ethik des Subjekts«, die er epemeleia nennt.13Schon die Tiere vererbten uns die einfachsten Formen von Vorbeugung und Gesundheitspflege, etwa den Körper durch Spiel zu ertüchtigen oder Verletzungen zu versorgen. Der Mensch ist also, wie noch genauer ausgeführt werden wird, in natürliche Prozesse eng eingebunden. Evolutionsgeschicht- lich geht es bei der Gesundheitspflege sicher darum, das Leben zu schützen und zu fördern. Es erscheint daher notwendig, zu ermitteln, wie sich die heutige Fitness- und Gesundheitsbewegung vor dem Hintergrund der diätetischen Tradition versteht. In der damit sich ergebenden Verbindung einer philosophischen (bzw., wie sich zeigen wird, auch philosophisch-theologischen) Seite mit einer empirisch- medizinischen Seite wird es in dieser Arbeit zugleich um die Verbin- dung von Ideengeschichte und Begriffstopologie gehen bis hin zu einer empirisch begründeten Phänomenologie.

Im engeren Rahmen der begriffs- und begriffstopologischen Klärungen fällt schon in der sich erst annähernden Perspektive einer Einleitung wie dieser auf, dass die Fitness- und Gesundheitsbewe- gung und die Diätetik offenbar mit unterschiedlichen Begriffen, also anderen Vorstellungen von Gesundheitsverhalten der Menschen, sprechen. Zum Beispiel legt die ganz einfache Beachtung der Namen aktueller Fitnesseinrichtungen (sie heißen etwa »Corpus«, »Body- Fit« u. ä.) nahe, dass sich hier alles um den menschlichen Körper

12 Vgl. Teil 3.

13 Foucault, Michel, hier insbes.: Sorge um sich, in: Sexualität und Wahrheit Bd. 3, S. 26.

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dreht. Wird damit eigentlich erreicht, was der sorgende Ausspruch manches Zeitgenossen ausdrückt, dass ihm seine Gesundheit wichtig sei (vgl. S. 6)? Oder kann einer solchen Motivation nicht vielleicht besser durch Anschauungen Genüge getan werden, wie sie in den vorangegangenen Absätzen Philosophen wie Hans-Georg Gadamer oder Michel Foucault äußerten? Hiernach umfasst Gesundheit Hal- tungen wie eine Welteinstellung oder eine ethische Ausrichtung, spielt sich also im organischen Verbundensein mit einer »Mitwelt«14 ab und betrifft folglich das, was die Philosophie als »Leib« bezeichnet.

Dabei geht es zwischen Leib und Körper nicht um Gegenbegriffe, was mit der klassisch gewordenen Wendung Helmuth Plessners, einen Körper »habe« man, Leib »sei« man15, deutlich ausgedrückt ist, ebenso wenig wie beide nicht gegenständlich voneinander abgrenzbar sind, sondern nur perspektivisch. Das menschliche Leben, das mit Merkmalen wie Subjektivität, Identitätsempfindung und -bildung im Stoffaustausch mit der Umwelt sowie der Kommunikation mit ihr in den mechanischen Parametern eines »Körpers« allein nicht ausgedrückt werden kann16, verlangt nach einer entsprechenden Per- spektive, ebenso wie solches »Leibliche« an die biologische Ausstat- tung des »Körpers« gebunden ist.17 Verschiebt sich die Perspektive zur Überbetonung (oder praktisch: Überversorgung) des Körper- lichen, so läge das auf der Linie einer »Verdinglichung«, wie sie für die philosophische und kulturgeschichtliche Rezeption der nachcarte- sianischen Zeit paradigmatisch geworden ist. René Descartes (1596–

1650), der, selber zunächst im philosophischen, ja meditativen Ansatz

14 Meyer-Abich, Klaus M.: Mensch etwas Besonderes?, in: Oldenburger Universitäts- reden Nr. 113, S. 18. Durch den Begriff »Mitwelt« möchte Meyer-Abich den eigent- lichen Sinn treffen, wie er durch Jakob von Uexküll, Pionier der ökologischen Bewe- gung, im Begriff »Umwelt« gemeint war. Uexkülls Begriff aus den 1970er-Jahren sei inzwischen anthropozentrisch verschoben worden. – In der phänomenologischen Tra- dition bringt eine solche Entgrenzung des Individuums Paul Ricoeur zum Ausdruck, vgl.: Selbst als Anderer, bes. deutlich S. 182–188.

15 Vgl. zum Doppelaspekt des menschlichen Lebens Plessner, Helmuth: Augen, S. 12.

Zitiert hier auch bei Fuchs, Thomas: Leib und Körper, in: Hähnel, Martin / Knaup, Marcus (Hg.): Leib und Leben – Perspektiven, S. 84.

16 Vgl. Kather, Regine: Der menschliche Leib, ebd., S. 21–25. Vgl. auch dies.: Leben, S. 153–164.

17 Die Phänomenologie seit Merleau-Ponty weist die Verschränkung von Leib und Körper gerne am markanten Beispiel des Phantomgliedes auf, betonend aufgenom- men in der gegenwärtigen Phänomenologie durch Waldenfels, Bernhard: Leibliches Selbst, S. 22–30.

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aufgrund der Erschütterungen des Dreißigjährigen Krieges, seinen Leib als Gliedermaschine wahrnahm, ihn mit einem »Leichnam« ver- glich und als »Körper« bezeichnete, der außerdem die gesamte Welt- anschauung in nur zwei Kategorien, betrachtenden Verstand und be- handeltes Ding, fasste, leitete, gespeist vom naturwissenschaftlichen Fortschritt der Folgezeit, einen ganzen kulturgeschichtlichen Prozess ein, der für das moderne Bewusstsein und Handeln bestimmend ge- worden ist.18

Mit dem cartesianischen Paradigma geht eine Instrumentalisier- barkeit aller Lebensgüter einher, wobei fraglich ist, ob das Gesund- heitliche, das immer von Kontingenzerfahrungen (entsprechend den von Viktor von Weizsäcker so genannten »pathischen« Kategorien) begleitet wird19, instrumentell überhaupt zu behandeln ist oder nicht besser im traditionellen Leibesbegriff angesiedelt bliebe. Wenn dem so wäre, dass Gesundheit und die Bemühungen um sie eng mit dem Leibesbegriff korrelieren, dann hätte die Philosophie viel Wesent- licheres zur Fitness- und Gesundheitsbewegung zu sagen als margi- nale Pauschalurteile. Dann käme sie als Sachwalterin einer lange andauernden Ideengeschichte zum Einsatz, und dann möchte die vor- liegende Arbeit einen Beitrag dazu leisten.

18 Vgl. hier bei Fuchs, Thomas: Leib und Körper, in: Hähnel, Martin / Knaup, Marcus (Hg.): Leib und Leben – Perspektiven, S. 84.

19 Vgl. ebd., S. 84–87. – Der Arzt und Philosoph Viktor von Weizsäcker (1886–1957) gilt als Einführer des »Subjekts« in die moderne Medizin, d. h. er steht für die Rück- besinnung auf das Individuum als von Natur, Kultur und normativen Voraussetzun- gen Abhängiges. Das Leben als Abhängiges trage immer »pathische« Züge, auch Ka- tegorien der Stärke. Z. B. jedem »Wollen«, das als starker Lebensausdruck gilt, wohnt ein Mangel inne: Pathosophie (GS 10), insbes. S. 78–84.

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Die geisteswissenschaftlichen Fehlurteile über die Fitness- und Ge- sundheitsbewegung legen es nahe, dass hier massive Vorurteile vor- liegen, und zwar jeweils in Bezug auf die Motive der an der genann- ten Bewegung beteiligten Menschen. Daher ist es geraten, bei einer begrifflichen Untersuchung auch und gerade diese Motive in den Blick zu nehmen. Dazu sind gezielt Menschen zu befragen, idealer- weise durch eine statistische Erhebung. Dieses Verfahren ist unüblich in den Universalwissenschaften bzw. wird von ihnen in der Regel bei Bedarf anderweitig entliehen oder delegiert. Doch hat seit alters her die Philosophie eine große Affinität zur Zahl. Die ersten Philosophen waren in ihrer Naturbezogenheit zumeist auch Mathematiker (z. B.

Thales von Milet); für die menschenbezogenen Fragen im Gefolge der Sokratiker galt als Hauptthema die fundierte Erkenntnissuche.

Das heißt nach Platon, der das gesicherte Wissen von bloßen Mei- nungen zu trennen lehrte (vgl. das oben definierte Problem), was mithin Wesen und Methodik abendländischer Philosophie und Wis- senschaft schlechthin bestimmte, es sollten Parameter wie Existenz, Anzahl, Identität, Unterschied usw. gleichermaßen erfasst werden.1

Nun liegt aber zwischen dem altgriechischen Zahlenverständnis und der modernen Statistik ein weiter Weg. Angeschnitten wurde am Ende des vorangegangenen Kapitels die moderne Wendung zu einer Erfahrungswissenschaft, die aus der absolut unbeteiligten Außenper- spektive erfolgt und eine Objektivität in Form statisch-unveränder- licher Messgrößen anstrebt. Die lebensweltliche Erfahrung mit sinn- lich wahrnehmbaren Phänomenen bliebe danach unberücksichtigt.2

1 Vgl. Platon: Theaitetos, insbes. zum Zahlenverhältnis 204c-208b. Heute hat sich die Experimentelle Philosophie zum Ziel gesetzt, Vorurteile durch quantitative Metho- den wie etwa Befragungen zu korrigieren. Vgl. dazu: Overgaard, Sören / Gilbert, Paul / Burwood, Stephen: Introduction, S. 87–93.

2 Die Entwicklung zur reinen Erfahrungswissenschaft erfolgte schon seit Beginn der Neuzeit im 15. Jh., mehr als ein Jahrhundert vor Descartes, durch Forscher wie Niko-

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Genau in diesem Sinne aber wurde am Ende des Teils 1 für den Ge- sundheitsbereich, der immer mit dem Leibesbegriff zusammen- zuhängen scheint, der instrumentelle Zugriff, wie ihn die statistische Methode nahelegt, in Frage gestellt. Doch muss man sehen, dass die erst relativ spät, nämlich in Verbindung mit den bürgerlichen Gesell- schaftsformen des 18./19. Jh. aufgekommenen, modernen Sozial- wissenschaften, die die empirisch-naturwissenschaftliche Grund- einstellung übernahmen, thematisch das Grenzfeld zu sinnlich wahrnehmbaren Fragen und geistigen Überzeugungen eng berühren.

Der prinzipielle Unterschied zu Geisteswissenschaften, dass diese eher Sinn und Verstehen der Lebensäußerungen anstreben, dagegen Sozialwissenschaften deren Erklärung, war von Anfang an mehr eine graduelle als eine kategoriale Differenz. In der Gegenwart weicht die- se Differenz durch die allgemeine Ausrichtung ins Interdisziplinäre und das verstärkte Interesse an Fragen der Grenzgebiete zunehmend auf.3

In der empirischen Sozialforschung trägt man seit den letzten zwanzig Jahren der Tatsache Rechnung, dass es die rein objektive Untersuchung nicht gibt und dass die interessantesten Studien z. B.

aus einer gewissen Involviertheit der Studien-Initiatoren zustande kommen oder aus einer Tiefenschürfung in persönlichen Parametern wie Motiven, Neigungen und Befindlichkeiten der Zielpersonen. Er- hebungen im Bereich der Medizin, Psychologie, Heilkunde oder Seel- sorge verwenden solche Parameter heute gerne.4So wurde der Begriff der empirisch-personenbezogenen Studie geschaffen, um die unhalt- bare Vorgabe des strikt Objektiven verlassen zu können und dabei trotzdem intersubjektiv vermittelbar zu bleiben.5Für die vorliegende Arbeit käme von diesen Voraussetzungen her die empirisch-per-

laus Cusanus und später Francis Bacon, die allerdings eine Eigenständigkeit der natür- lichen und lebendigen Sphäre noch anerkannten. Motiviert von der Verbesserung der Lebensumstände, merkte Bacon gleichwohl, »Wissen ist Macht«, ein Postulat, das sicher in Abhängigkeit zum Umgang mit dem Wissen steht. Vgl. zu den geistes- geschichtlichen Grundlagen sowie zur Macht des Wissens in der aktuellen Biotechnik (z. B. deren Veränderungen am pflanzlichen Erbgut, das Firmen Patente sichert und damit irreversibel biologische Gefüge umformt): Kather, Regine: Leben, S. 44–47, 204–213.

3Vgl. Acham, Karl: Sozialwissenschaften I.1., in: TRE Bd. XXXI, S. 572 f.

4Vgl. Bühner, Markus: Einführung, S. 46.

5»Empirisch« meint dabei, dass theoretische Vorannahmen an der Wirklichkeit über- prüft werden nach bestimmten Regeln – im Gegensatz zu »empiristisch«, welches Regeln ignoriert. Vgl. Attesländer, Peter: Methoden, S. 4–6.

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sonenbezogene, statistische Untersuchung in Frage. Dabei steht auch in Überlegung, bei der Auswertung der Daten ein strikt numerisches Vorgehen im ursprünglichen Sinne mehr ins Interpretative zu erwei- chen durch Berücksichtigung von Begleitwahrnehmungen und -ge- danken. Was die Menge des verwendbaren Datenmaterials anbetrifft, so würde allein zum Widerlegen der eingangs von Teil 1 beschriebe- nen Vorurteile nach den Regeln der Logik eine einzige Gegenstimme genügen.6Jedoch wirkt zahlreiches Datenmaterial bei einer Breiten- erscheinung wie der Fitness- und Gesundheitsbewegung als äußerst verlockend. Man kann damit das Gewicht der Antwortdaten besser vergleichen als mit weniger Material, wie es durch phänomenologisch ermittelte Daten verfügbar wäre. Letztere hätten natürlich die Stärke, nicht durch Fragestellungen vorgeformt zu sein, wohingegen sich aber in einer Arbeit wie dieser enge Grenzen in der Anzahl der Be- fragungen ergäben.

Die Verfasserin kam schließlich zu der Entscheidung, die Unter- suchung in der Art einer empirisch-personenbezogenen Studie durchzuführen. Für manche Geisteswissenschaftler, die unbeteiligte Zeitpunkt-Erhebungen aus Gründen ihres oben angeschnittenen Methodikverständnisses ablehnen, dürfte die empirisch-personen- bezogene Studie eine Brücke in Richtung Sozialforschung schlagen.

In dieser Arbeit kann sie vielleicht sogar eine Möglichkeit sein, be- sondere Lebensnähe zu gewinnen, wie sie bei den bisherigen Pau- schalurteilen nicht erkennbar war. Ob die Methode wirklich für die gestellte Thematik taugt oder nicht bzw. im Rahmen philosophischer Fragestellungen Grenzen erweist, kann sich nach allen diesen Über- legungen erst in oder nach ihrem Vollzug ergeben.

Die »empirisch-personenbezogene Untersuchung« erlaubt die Einbringung menschlicher Seiten auch der Fragesteller, in diesem Fall die Tatsache, dass die Verfasserin sachlich involviert ist. Zur Formu- lierung möglichst sachdienlicher Fragen, wie es der Erfolg des Vor- habens sowie die Regeln verlangen, ist wiederum Vorkenntnis der Materie wichtig. Auf die sozialwissenschaftlichen Anforderungen soll aber erst weiter unten eingegangen werden. Zunächst, nach dem Entschluss, diese Arbeit auf eine statistische Erhebung zu stützen, taten sich durchführungstechnische Fragen auf:

6 Vgl. Popper, Karl: Vermutungen, S. 348–350.

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1. Jede statistische Erhebung muss aus praktischen und finanziel- len Gründen im Vorfeld eingeschränkt werden. Im Fall dieser Arbeit war klar, dass sie sich national auf Deutschland beschrän- ken musste und regional auf die Heimatregion der Verfasserin, Mittelfranken, insbesondere den Großraum Nürnberg-Fürth- Erlangen sowie die Landkreise Roth und Erlangen-Höchstadt.

Dass dieses Gebiet eng und sozial vielfältig bevölkert ist sowie dicht ausgestattet mit Gesundheits- und Fitnesseinrichtungen, kommt einer breiten Streuung in Bezug auf die zu befragenden Personen entgegen.

2. Weitere Fragen stellten sich im Vorfeld, noch unabhängig von den wissenschaftlich-methodischen Vorschriften. Welche Ak- teure sollten befragt werden, d. h. welche Bereiche erscheinen sinnvoll, insofern sie als auffällig für das neue Fitness- und Ge- sundheitsverhalten erscheinen – und ist deren Untersuchung praktisch durchführbar? Bei diesen Überlegungen und darauf bezogenen Recherchen wurde beschlossen, den typischen Ver- einssport außen vor zu lassen, weil hier in der Regel die Fitness- und Gesundheitsorientierung nicht Primärmotiv für Beitritt und Teilnahme ist, sondern es sind vielmehr Wechselbeziehungen aus persönlicher Neigung, sozialer Identifizierung und Erlebnis- trieb zu vermuten.7 Dass heute manche auf Fitness- und Ge- sundheit ausgerichtete Aktivitäten ebenfalls in Vereinen oder Vereinssparten eingerichtet sind, folgt überwiegend organisato- rischen Gründen. Im Fall von Praktiken wie dem Jogging, das man als anhaltenden Klassiker der Fitness-Bewegung dieser Stu- die unterziehen sollte (mitsamt der aktuellen Form des »Wal- king«), ist unbedingt eine vereinsartige Organisation für die Be- fragung aufzusuchen, denn wie erreicht man sonst Jogger?

Gesunde Ernährungals weiterer Bereich sollte ebenfalls unter- sucht werden. Sie präsentiert sich heute als Thema für alle. Die Praktizierenden sind leicht zu finden und anzusprechen – beim Einkaufen in Bioläden und Reformhäusern. Ferner erschien das Bodybuilding als wichtig, eine relativ neue und inzwischen höchst auffällige Einrichtung des Individualsports. Mittlerweile handelt es sich um einen Wirtschaftszweig mit spezifischen Qualitätsmanagement-Normen.

7Vgl. Buhl, Johannes: Identität und Verein, S. 4–8.

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Interessant hierzu, wie das Wort »Fitness(sport)« ein Synonym allein für Bodybuilding geworden ist: »Fitnessbekleidung«, »Fit- nessgeräte«, »Fitnessdrinks« – sie beziehen sich in der Regel auf das Bodybuilding. Heute zählen auch begleitende Disziplinen aus dem Cardiobereich dazu. Außerdem markiert das Fitnessstu- dio wie kein anderes die Wende zur Volksbewegung, seit Body- building ein gängiger Frauensport geworden ist, während dies vorher im Amateurbereich verpönt war. Überhaupt wurde die muskulöse Erscheinung früher nur Arbeitertypen zuerkannt.8 Somit waren Ernährung, ein Konditionssport und ein Kraftsport als Untersuchungsfelder entschieden – ein »sanfter Sport« mit Berührung des Psychisch-Mentalen erschien in der Unter- suchungsanlage ebenfalls als notwendig, da beliebt im heutigen Fitnessverhalten.9Hier bot sich Yogaan, erreichbar in zahlrei- chen Yogakursen allerorten.

Die vier Gruppen von Fitness- und Gesundheitsverhalten, die zur Untersuchung nunmehr ausgewählt wurden, werden nach- folgend aufgelistet (Reihenfolge entsprechend der Behandlung in 4.1 ff. und der Diagramme im Anhang):

• Gesunde Ernährung

• Fitnessstudio (Sportart Bodybuilding)

• Jogging und Walking

• Yoga

3. Wie viele Personen sollten interviewt werden? Nach Vorüber- legungen wäre eine Befragungskapazität von maximal 500 Per- sonen möglich gewesen. Nun, mit den 4 Gruppen, erschien eine Struktur von je 100 Befragten, also 400 insgesamt, für eine über- schau- und bewältigbare Größenordnung.10

8 Vgl. Dilger, Erika: Fitnessbewegung, S. 106, auch 406 f. Interessant noch, dass der Buchmarkt heute überwiegend Frauen anspricht mit Bodybuilding-Ratgebern. Dies ist auch ein gutes Beispiel dafür, wie die erwähnte Angebotsdurchdringung mit »Ge- sundem« darauf beruht, dass Fitnessverhalten anschlussfähig wird. Akteure brauchen plötzlich oder sollten brauchen: Ratgeber zum Thema, vitaminschonendes Koch- geschirr, ergonomische Sitzmöbel, harmonische Leuchtmittel usw. – so viel nochmals zur kommerziellen Seite.

9 »Fitness« ist hier wieder im weiteren Sinn gemeint wie überall, wenn nicht anders betont. Zum neuen Sporterleben »auf die sanfte Tour« vgl. Dilger, Erika: Fitnessbewe- gung, S. 378.

10 Es ist eine vergleichsweise hohe Anzahl in einer Untersuchung wie dieser, vgl.:

Bortz, Jürgen / Schuster, Christof: Statistik, S. 9 f.

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Im oben beschriebenen örtlichen Umkreis sind Einrichtungen dieser Gruppen reichlich zu finden, sodass für jede Gruppierung mehrere Orte besucht werden konnten. In Auflistung waren es:

– Bioläden und Reformhäuser in Nürnberg, in Erlangen, in 90530 Wendelstein, in 91154 Roth;

– Fitnessstudios in Nürnberg, in Erlangen, in Wendelstein, in 91161 Hilpoltstein, in 91180 Heideck;

– Jogging-Organisationen in Nürnberg, in Erlangen, in Roth, in 90584 Allersberg;

– Yogakurse in Erlangen, in 91074 Herzogenaurach, in Allers- berg, in Hilpoltstein.

Genaueres zur Kontaktierung und Befragung wird weiter unten er- klärt werden. Angestrebt wurde eine möglichst breite Ortsstreuung, dies auch in Vermutung unterschiedlicher Ansichten zum eigenen Fitnessverhalten je nach städtischer oder ländlicher Umgebung.

Denkbar waren Unterschiede z. B. wegen anderer Lebensmittel- oder Atemluftqualität. Daher wurde jede Gruppe in »Land«-Befragte und

»Stadt«-Befragte aufgeteilt, eingeschlossen die Annahme, dass die betreffenden Aktivitäten möglichst wohnortnah ausgeübt werden.

Jede Einrichtung erhielt möglichst die gleiche Anzahl von Fragebögen bzw. die Stadt-Land-Verteilung wurde genau hälftig vorgenommen.

Technisch folgt die Stadt-Land-Unterteilung der gebräuchlichen Anschauung in Bezug auf Einwohnerzahl, Infrastruktur, Verkehrs- aufkommen, Industrie oder Landwirtschaft. Kleinstädte wie Hilpolt- stein, Heideck oder die Marktgemeinde Allersberg wurden danach dem Land zugeordnet.11

Die Fragebögen mit einander entsprechenden Fragen zu jeder Fitness- Gruppe wurden in einem Mitarbeiterstab (vier Personen, darunter ein Sozialwissenschaftler) nach den Regeln der Sozialwissenschaften vorbereitet. Als solche können gelten:

• Problemformulierung – Ein wissenschaftliches Problem (hier Hintergründe und Motive der Fitness- und Gesundheitsakteure) wird identifiziert, in theoretische Zusammenhänge eingeordnet (Vorgespräche mit Praktikern bzw. hier auch Vorkenntnis der

11 Vgl. Häussermann, Hartmut / Stiebel, Walter: Stadtsoziologie, S. 22.

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Verfasserin, Gesetzes- und Literaturrecherche usw.) und mög- lichst präzise und ausführlich formuliert.

• Operationalisierung – Die Begriffe und Variablen, die mit der Problemklärung verbunden sind (z. B. hier die vier genannten Sparten, mögliches zusätzliches Fitness- und Gesundheitsver- halten, die Stadt-Land-Unterteilung usw.) werden herausge- arbeitet und definiert.

• Bereitstellung des Instrumentariums zur Durchführung (z. B.

Checkliste oder Leitfaden für die Interviewer werden ange- fertigt).12

Insgesamt soll mit der geplanten Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit ein, wie es aussieht, erster Versuch einer Breitenerhebung an Individuen zum Thema des Fitness- und Gesundheitsverhaltens un- ternommen werden.13 Selbstverständlich wird die erste Unter- suchung eines Gebiets, zumal eines so komplexen, nur Annäherun- gen schaffen können. Vorgaben zu Untersuchungszwecken müssen sorgfältig gesetzt werden. Mit der Stadt-Land-Einteilung wurde das schon angedeutet. Für die in Teil 1 beschriebenen Phänomene des neueren Sport-, Freizeit- und Gesundheitsverhaltens, das bisher in der Fachwelt als nicht umfassend definiert vorgefunden wurde, wird mit dieser Arbeit das Wort »Fitness- und Gesundheitsbewegung« ge- setzt. Nach den sozialwissenschaftlichen Vorgaben würde diese Set- zung die o. g. Problemformulierung betreffen. Die Formulierung der Fragen in allen Details wurde schließlich ebenfalls nach den entspre- chenden Vorgaben und im Rahmen des Mitarbeiterstabes vorgenom- men.14

Sodann erfolgte die Befragung – und zwar alspersönlicheBe- fragung, wie sie von der Fachliteratur präferiert wird – durch mehrere unbeteiligte, gut unterwiesene Mitarbeiter (z. B. Studenten), was be- sonders wichtig erschien, um die ins Subjektive zielenden Fragen nicht durch gefärbte Rhetorik zu beeinflussen. Zeit und Hilfestellung waren, wie von der Fachliteratur gefordert bzw. im Leitfaden fest-

12 Vgl. Klammer, B.: Empirische Sozialforschung, S. 48 f.

13 Vgl. FN 3, wonach bisher nur ein Teilbereich dieses Verhaltens, nämlich der Sport- sektor, untersucht wurde.

14 Anerkannt zur Fragebogen-Formulierung bei aller Beschränktheit allgemeiner Re- geln sind die »10 Gebote nach Porst«, z. B. einfache Begriffe – möglichst kurze Fragen – keine hypothetischen Fragen –keine Stimuli und Suggestionen – keine Unterstel- lungen usw., vgl. Kallus, Wolfgang: Erstellung von Fragebogen(sic!), S. 20–22.

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gehalten, begrenzt, nämlich auf maximal 15 Minuten pro Fragebogen mit möglichst gering voneinander abweichenden Worten ggf. bei Erklärungen zu den Fragen. In der Praxis war beides leicht einzu- halten.15

Die Zahl 400, wie schon erwähnt, wurde aus arbeitsorganisato- rischen Gründen festgelegt, um möglichst viele Daten in einem über- schaubaren Zeitraum bearbeiten zu können. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich gemäß den Vorüberlegungen über ein knappes Jahr und umfasste damit alle Jahreszeiten, sodass die Aktivisten der ge- wählten Sparten möglichst zahlreich angetroffen werden konnten (z. B. Jogger eher in Zeiten angenehmen Wetters). Die örtliche Ein- grenzung wurde schon begründet. Es ist üblich, dass sich wissen- schaftliche und öffentliche Erhebungen im Vorfeld zeitlich möglichst sachdienlich festlegen sowie örtlich auf bestimmte Räume beschrän- ken, nicht zuletzt auch aus Gründen des Finanzrahmens.16

Die Kontaktierung und Befragung bei organisierten Aktivisten wurde folgendermaßen vorgenommen: Kontaktiert und informiert wurde zunächst die Leitung, z. B. eines Yogakurses. Nach deren Zu- stimmung zur Befragung, nach Terminierung und Information der Teilnehmer erfolgte die Befragung meistens am Ende einer Kursein- heit, indem bereitwillige Kursteilnehmer sich Zeit für das Interview nahmen. Die Bereitschaft dazu und die Akzeptanz der Sache waren insgesamt hoch; auch viel Neugier nach dem Ausgang der Studie war festzustellen.

Die Fragen der Bögen bestehen inhaltlich und der Studienabsicht zufolge (vgl. in Teil 1: »Warum machen die das eigentlich?«) schwer- punktmäßig aus Motivfragen. Andere Fragearten wie die nach Le- bensumständen (z. B. die formelle Bildung) dienen, wie schon an- geschnitten, der besonderen Erhellung der Antwortlage. Formell zielen die Fragen entweder auf die geschlossene Beantwortung (»Ja« /

»Nein«), selten auf die offene (freie) Beantwortung, auf Wahl-Items (was wie bei der freien Antwort eine nachträgliche Skalierung zur

15 Das zuletzt Genannte betrifft die Interpretationsobjektivität und die Durchfüh- rungsobjektivität einer Erhebung. Weitere, neben den Objektivitätskriterien gefor- derte und beachtete Kriterien in Bezug auf die gesamte Erhebung, von der Frage- bogenkonzeption bis zur Auswertung, (die sog. Hauptgütekriterien) sind: die Reliabi- lität (betrifft die Messgenauigkeit), die Validität (betrifft die Entsprechung von Konzeption zur Messabsicht).Vgl. Bühner, Markus: Einführung, S. 28–34. Vgl. auch:

Attesländer, Peter: Methoden, S. 6.

16 Vgl. Kirchhoff, Sabine et al.: Der Fragebogen, S. 15.

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Erfassung und Darstellung notwendig macht), auf vorgegebene Items, auf skalierte Items (beides technisch ohne nachträgliche Ein- wirkung zu lösen) sowie auf Restwertfragen (»Was außer dem Ge- nannten?«). Die nachträgliche Einwirkung durch Skalierung stellt einen Eingriff in die Antwortinhalte dar, insofern bei der Auswertung Zuordnungen vorgenommen werden, die Abstraktionen erfordern.

Sachliche Vorkenntnis war dabei hilfreich. Im Fall dieser Arbeit war auch hieran der Mitarbeiterstab beteiligt. Eine vorgegebene Skalie- rung muss, besonders für die zu Befragenden, einleuchtend sein. Hier wurden für Aussagen von »trifft nicht zu« bis »trifft stark zu« Skalen von 1 bis 6 gewählt gemäß allgemein vertrautem Muster z. B. der schulischen Benotung.17

Zur Erfassung und Darstellung: Die Studie wurde mit gebräuch- licher Excel-Software in Tabellen erfasst und in Diagrammen abge- bildet. Auf die Auswertung mittels spezieller Statistik-Software wur- de verzichtet. Solche Software ermöglicht insbesondere die multiple Vergleichsbetrachtung. Die Vielzahl der Fragearten, von der Sach- komplexität wiederum gefordert, erlaubt hier aber keine beliebige Verknüpfung der Antwortinhalte. So kann z. B. nicht jeder Antwort das Geschlecht der Antwortperson zugeordnet werden, weil dies im Vorfeld sachlich als irrelevant empfunden wurde. Lediglich die Stadt- Land-Unterteilung durchläuft die gesamte Erhebung als vermuteter inhaltlicher Marker für Mentalitätsunterschiede. Mit diesen Unter- gruppen ergibt sich die Darstellung als Doppelbalken-Säulendia- gramm. Aufgrund der von vornherein gefassten Absicht, dass jede Antwortkategorie / jedes Diagrammfür sichgelesen werden soll als Inhalt-Zahlenrelation, wurde mit den Excel-Diagrammen in Säulen- form eine überschaubare Abbildungsform gewählt.

Die Auswertung der Daten als »Interpretation«, wie im Voraus überlegt, stellt formell die Verbindung her zum Vergleich mit der Diätetik, so wie es den Erhebungspart in diese Studie als geisteswis- senschaftliche Arbeit einbindet. Offengelegt wird hier, dass in die In- terpretation des statistischen Materials für wertvoll gehaltene spon- tane Beobachtungen aus der Befragungssituation seitens der unvoreingenommenen Befrager einflossen und als solche kenntlich gemacht wurden.

Insgesamt trägt diese Arbeit mit einem Methodenmix zwischen Deduktion und Induktion zur Ergebnisfindung bei, um der komple-

17 Vgl. zu Fragearten und Skalierung Bühner, Markus: Einführung, S. 51–68.

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xen Materie möglichst gut gerecht werden zu können. Darin liegt methodisch eine Besonderheit dieser Arbeit. Das Pendel bewegt sich schließlich bis zu einem phänomenologischen Teil, dessen Beitrag zur Arbeit aus der unbeabsichtigten, unvoreingenommenen Beobachtung thematisch Betroffener besteht. Die Funktion des phänomenologi- schen Teils wird an späterer Stelle genauer erklärt werden, weil sich seine Funktion erst aus dem Arbeitsgang selbst ergab. Der Teil war ursprünglich nicht geplant, und seiner Entdeckung in Sinn und Wert soll an dieser Stelle noch nichts vorweggenommen werden.

Nun soll auf die Methodik des Diätetik-Hauptteils eingegangen wer- den. Hierbei handelt es sich um mentalitätsgeschichtliches Recher- chieren. Dazu werden markante und schließlich wesentliche Züge dieser Form von Gesundheitspflege aus Quellen erforscht und her- meneutisch dargelegt bzw. ermittelt. Es sind Primär- und Sekundär- quellen aus dem Fundus des bisher fachlich Beigetragenen. Die mit diesen Quellen überlieferten Denk- und Handlungsmuster, insofern sie kulturgeschichtliche Prägekraft erwiesen, werden als Teilparadig- men des diätetischen Paradigmas herausgearbeitet, nämlich folgende:

• die antike Grundlegung und Ausstrahlung der Diätetik

• Maimonides

• das Mittelalter und seine Ausstrahlung

• Hildegard von Bingen

• Paracelsus

• das Baden und das Fasten

• J. W. v. Goethe

• Friedrich Nietzsche

• Turnvater Jahn

Anzumerken ist dabei, dass die wirkliche Prägekraft von Denk- und Handlungsmustern, etwa im Blick auf die zahlenmäßige Teilhabe der Bevölkerung, heute nur noch schlussfolgernd aus dem Material er- mittelbar ist. Insofern kann es gegenwärtig dem Potenzial der Phi- losophie zugutekommen, wenn sie wie mit dieser Arbeit durch Er- gebnisse der Demoskopie aufwarten kann, was früher kaum möglich war (vgl. das zahlenmäßige Missverständnis zur demokratischen Ver- fasstheit »der« altgriechischenpolis, in deren Genuss, wie wir heute wissen, aber nur ein Siebtel der Bevölkerung stand).

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Zum Aufbau der gesamten Arbeit sind folgende Teile vorgesehen:

1. Einführung als Themeneröffnung und Klärung der Problemstel- lung sowie der Forschungsfrage, 2. Material und Methodik, 3. und 4. Hauptteile als Beschreibung, Interpretation und Vergleich der zwei Formen von Gesundheitsverhalten, nämlich: 3. Diätetik, 4. Fitness- und Gesundheitsaktivitäten. Da die Hauptteile 3 und 4 inhaltlich und methodisch Fragen offen lassen werden, wobei sich Genaueres im Untersuchungsgang selbst eröffnen wird, fügt sich ein vertiefen- der phänomenologischer Teil 5.1 zwischen den Hauptteil 4 und den Schlussteil 5.2 und 5.3 der Arbeit ein. Im phänomenologischen Teil kommen Menschen mit authentischen Beiträgen zu Wort, die sich als sehr wichtig zum Thema erweisen. Das Gesamtergebnis am Ende von Teil 5 wird durch den phänomenologischen Teil inhaltlich deutlich beeinflusst werden. Dadurch motiviert, wird dem Gesamtergebnis der Arbeit ein perspektivischer Teil 6 angefügt, der zum Weiterfor- schen anregen will. Die Arbeit endet mit Teil 7, der Zusammenfas- sung. Es folgen das Literaturverzeichnis und ein Anhang. Dieser An- hang will das Material der statistischen Untersuchung anschaulich machen. Er kann parallel zum Fitness-Kapitel (Teil 4) gelesen werden, besonders die Antwort-Diagramme, die die Ausgangsbasis der Fit- ness-Beschreibungen und -Interpretation sind.

Zur sprachlichen Kenntlichmachung von Verweistexten: Unter- teilungen innerhalb der genannten sieben Teile (mit zwei- und mehr- stellig nummerierten Überschriften) nennt die Verfasserin an den Stellen, an denen darauf verwiesen wird, »Kapitel«. Zum phäno- menologischen Kapitel ist methodisch zu betonen, dass dessen Wort- beiträge, anders als die Erhebungsdaten, nicht abgefragt wurden. Sie ergeben sich typischerweise aus dem Leben, in diesem Fall aus der Korrespondenz mit Klienten in Ausübung der beruflichen Tätigkeit der Verfasserin als Ernährungs- und Gesundheitsberaterin.

Die benutzten Quellen: Zur Klärung statistisch-methodischer Fragen dienen aktuelle sozialwissenschaftliche Lehrbücher, wie sie schon zitiert wurden. Eine Verwendung von Quellen zum Inhalt ver- langt der Sache nach überwiegend der Diätetik-Part wie oben schon angesprochen.

Zur Sprachform: Im phänomenologischen Teil, in dem Men- schen selber zu Wort kommen, dominiert mit diesen Beiträgen die Umgangssprache. In Bezug auf die ganze Arbeit werden Begriffs-Ab- kürzungen trotz themenbedingter Wiederholungen nicht festgelegt.

Zur inhaltlichen und optischen Erkennbarkeit wurden nach aus-

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sagekräftigen Kapiteln Resümees gebildet und in Kursivschrift ab- gedruckt, ebenso wie übergeordnete Ergebnisse im Kursivdruck ge- halten sind. Auf spezifische Formalia in einzelnen Kapiteln wird an entsprechender Stelle hingewiesen.

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3.1 Was ist Diätetik?

3.1.1 Die Anfänge

Die Zielstellung der Arbeit, um diesen Gedanken aus Teil 1 hier zu wiederholen, besteht im philosophischen Zugriff sowie im themati- schen Blick auf menschliches Gesundheitsverhalten darin, begriff- liche und begriffstopologische Klärungen zu leisten bzw. ideen- geschichtliche Wurzeln freizulegen. Diese Zielsetzung möchte von vornherein das Missverständnis vermeiden, es ginge etwa um reine Geschichtsdarstellungen, die gar Anachronismen thematisieren oder zwanghafte Aktualisierungen vornehmen würden.

Was also ist Diätetik? Die Beantwortung erschließt sich im sorg- fältigen Gang durch die Medizingeschichte. Es gibt keine Einzelper- son, die ein Programm »Diätetik« verfasst hätte oder eine Definition zum Abschreiten; die Diätetik will ertastet werden. Die Geschichte der Diätetik ist seit ihren Anfängen im alten Griechenland fest mit der europäischen Medizingeschichte verbunden. Unterstand die Medizin des Altertums ihr als Paradigma der Lebensweise,diaita, ins- gesamt, so wirkten umgekehrt von den Erkenntnissen der Krank- heitserfahrung oder Krankenbehandlung her Impulse auf die gesund- erhaltende Lebensweise ein. Was ist das Besondere, da sich doch auch heute die Medizin der Vorbeugung öffnet bzw. schwere Leiden zur klugen Lebensführung anraten?

Wissenschaftliche und allgemein-informative Abhandlungen zum Thema nennen Namen und deren Ansichten, als zitierten sie eine altgriechische Lehrbuchsammlung. Der Arzt Galen wird immer genannt und Hippokrates, beide noch heute Vorbilder der Naturheil- kunde. In Wirklichkeit liegen die Wurzeln von Diätetik und Medizin sowie ihre Persönlichkeiten nicht so offen. »Diätetik« ist ein Sammel- bzw. ein paradigmatischer Begriff und drückt auch das Komplexe,

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Gewordene der Sache aus. Wer war Hippokrates? Ein erfolgreicher Heiler ganz bestimmt, denn anders gäbe es keine Legende, doch be- sitzen wir keinen authentischen Satz von ihm, nicht einmal jenen gerne zitierten, dass die Nahrungsmittel als Heilmittel fungieren sollten. Die folgenden Ausführungen wollen das historische Feld ab- schreiten und dabei vor allem die geistigen Wurzeln des Diätetischen ergründen.

Greifbar werden europäische Medizin und Gesundheitslehre erst mit zwei Namen aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert.

Der griechische Arzt und Naturforscher Pedanius Dioskorides und der römische Feldherr und Staatsmann Caius Plinius (d. Ä.) haben beide unabhängig voneinander auf Reisen das gesamte ihnen zugäng- liche wissenschaftliche Schrifttum der Vorgänger gesammelt und mitsamt eigenen Erkenntnissen kodifiziert.De materia medica des Dioskorides sowie Einzelschriften des Plinius bringen zuverlässig die Kenntnisse der Vorgänger näher. Sie zitieren Sammlungen aus der Spanne vom 4. bis zum 1. vorchristlichen Jahrhundert, die sich in- haltlich eng auf Hippokrates berufen.

Einen zweiten authentischen Strang bilden die Schriften des Ga- lenos (Galen), der im 2. Jh. n. Chr. lebte.1Galen selektierte fachlich die Kenntnisse seiner Vorgänger und machte sich selber auf dem Ge- biet der Medikamenten-Zubereitungsformen verdient (noch heute

»Galenik« genannt). Sein Modell von den vier bestimmenden Kör- persäften (auch von lat.humores – Säfte »Humoralpathologie« ge- nannt) ist zwar pathologisch schon lange überholt, doch die Grund- anschauung von der Beziehung zwischen Körper, seelisch-geistiger Verfassung und Außenwelt gilt prinzipiell unangefochten, wenn auch in heutiger Lebensweise kaum noch berücksichtigt. Gehalten hat sich das von der altgriechischen Unterscheidung in die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft abgeleitete Modell noch bis ins 17. Jahrhun- dert. Ausgehend von der Zuordnung bestimmter Organe zu Körper- säften und den jeweiligen Qualitäten der Elemente wurde mit ent- sprechend einflussgebenden Arzneien und Verhaltensanweisungen behandelt. Es ging therapeutisch und diätetisch um die Wiederher- stellung oder Bewahrung eines Gleichgewichts.

Wer verfasste die Vorgänger-Schriften? In den Sinn kommt vor allem der berühmte Corpus Hippocraticum aus dem 5. bis 3. vor- christlichen Jahrhundert, eine Sammlung verschiedener Werke, von

1Vgl. Gundert, Beate (Hg. u. Übers.): De symptomatis, S. 8 f.

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der niemand sagen kann, ob ein Satz vom Meister selber stammt. Als Sohn eines Arztes soll Hippokrates 460 v. Chr. auf der Insel Kos ge- boren worden sein. Er wurde durch seinen Vater und andere Lehrer unterrichtet, durchwanderte ganz Griechenland und soll aus Athen die Pest verbannt haben. Jedenfalls gelangte er zu Ruhm, und im Altertum war es üblich (auch noch im Mittelalter), einem Meister möglichst viele Schriften zuzuschreiben und sich darauf zu berufen, insofern als die Selbst-Bekanntmachung noch wenig Mittel und Möglichkeiten hatte. Angebliche Standbilder des Hippokrates oder briefliche Dienstgesuche an Königshöfe wurden nie gefunden. Er- forschbar und hierin von unschätzbarem Wert ist aber die Lehre des Corpus, an der sich der Paradigmenwandel des 5. Jahrhunderts vom magischen Handeln zur wissenschaftlichen Naturbeobachtung ab- lesen lässt. Dazu fällt deutlich auf, dass die Schriften von der aristote- lischen Natur- und Lebensauffassung geprägt sind. Gut möglich, dass Hippokrates durch Aristoteles’ Nachfolger Theophrast in der von bei- den gegründeten Schule Peripatos unterrichtet wurde. Medizinisch, so heißt es, entdecken die Schriften »den kranken Menschen«, also den Patienten als Person ganz spezifischer Bedürfnisse und Sensibili- täten.2 Auf übergeordnete Züge der aristotelischen Natur- und Le- bensphilosophie soll an späterer Stelle, in Kapitel 3.1.3, noch genauer eingegangen werden.

Viele der antiken Schriften wären verlorengegangen, hätten nicht die christlichen Klöster als Konservatoren gewirkt. War das christliche Mittelalter heilkundlich primär mit dem Einrichten einer Kräuterkunde beschäftigt, die die germanischen und keltischen Kenntnisse mit mediterranen Pflanzenimporten und der christlichen Lehre verband, außerdem mit dem Etablieren spezifischer spirituell seelsorgerlicher Ansichten zu Gesundheit und Krankheit (auch dies wird später, mit dem Christentum, noch behandelt werden), so erziel- ten die antiken medizinwissenschaftlichen Schriften erst wieder ab dem Spätmittelalter wirkliches Interesse. Das mittelalterliche Grund- problem einer zu zivilisierenden Lebensweise, wie es die Quellen der Herrscher (v. a. Karl der Große, Ludwig der Fromme) und der Klöster

2 Präzise medizingeschichtliche Abhandlungen finden sich in Kräuterführern, und es ist nicht unwissenschaftlich, daraus zu zitieren, wenn es sich um eine Koryphäe wie Apotheker Pahlow handelt. Hier: Pahlow, Mannifried: Heilpflanzen, S. 46 f. Pahlow verbindet wissenschaftliche Sorgfalt mit Leidenschaft; er ist heute einer der letzten professionellen Phytotherapeuten.

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überliefern (etwa das der Hildegard von Bingen), erhielt flammenden Zündstoff ab etwa 1000 n. Chr. mit der arabisch-lateinischen Scholas- tik und ihrer Aristoteles-Rezeption.3

Erst der Rückblick auf die antike Heilkunde erkannte diediaita als eine Kultur der Erziehung und Einübung –paideia–, die nicht wegzudenken war von den natürlichen Gegebenheiten –physis– als Matrix, der zu findenden Richtschnur – nomos–, dem kosmosals Bezugssystem der Welt im Ganzen, dermesotes, der Wahl der richti- gen, nicht zwingend arithmetischen Mitte, und derarete, der Tugend zum Nützlichen in allen Lebensdingen. Zu betonen ist das Aufeinan- der-Bezogen-Sein der ethischen Haltungen, wobei insbesondere die mesotesein Selbstverhältnis beschreibt, das die Ausübung tugend- hafter Haltungen anbetraf. Gerade das Tugendhandeln selbst und nicht nur dessen sachliche Ziele sollten vom rechten Maß bestimmt sein. Einige Seiten später soll dieser Gedanke genauer hergeleitet werden. Übergeordnet ging es bei den rezipierten Zügen der Heilkun- de um die aristotelische Konzeption von der mikro-makrokosmischen Einbindung des menschlichen Lebens in ein Höheres, von den Bezü- gen aller Lebenserscheinungen untereinander und zugleich von der Überzeugung um die Lenkbarkeit des eigenen Lebens zum Best-Ge- deihlichen. Einflussreiche Werke dieser Haltung sind das Lehrbuch der Medizin des arabischen Universalgelehrten Avicenna (arabisch Ibn Sina, um 1000) und die »Übersicht« des syrischen Arztes Ibn Butlan (gest. 1064).

Aus orientalischen, islamischen, auch jüdischen und christlichen Impulsen entstanden vom ausgehenden Mittelalter an bis zum Be- ginn der Neuzeit zahlreiche Gesundheitsbücher, die unter dem Na- menRegimina sanitatiszusammengefasst werden. Zu den bekann- testen zählen dasRegimen sanitas Salernitatum(ca. 12. Jh.) oder das Regimen sanitatisdes Maimonides (um 1200). Sie alle befassten sich vornehmlich mit der Erhaltung der Gesundheit mit Hilfe dersex res non naturales,d. h. sechs Bereichen der vom Menschen steuerbaren Verhaltensweisen und Umweltbedingungen, und hatten vor allem didaktische Funktion zum Zweck der selbstständigen Handhabe der Menschen.4

Der jüdische Arzt und Gelehrte Maimonides vertrat um die Mit-

3Vgl. ebd., S. 48. Vgl. auch Schipperges, Heinrich: Heilkunde als Gesundheitslehre, S. 33.

4Vgl. Schipperges, Heinrich: Heilkunde als Gesundheitslehre, S. 29–33.

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te des 12. Jh. daher die Ansicht, dass die Medizin mehr eine Kunst als eine Wissenschaft und diese von allen Menschen für sich selber aus- übbar sei. In der Neuzeit werden Heiler wie Paracelsus oder Denker wie Novalis solche Ansichten aufnehmen. Sie sind, wie in diesem Kapitel noch folgen wird, eigentlich aristotelisch und verweisen auf dielongue duréeder europäischen Heiltraditionen. Maimonides war der erste, der das Wort Diätetik programmreif machte mit seinem Regimen»Diätetik für die Seele und den Körper«. Er rezipiert und präzisiert darin, was arabische Gelehrter des 9. und 10. Jh. im aristo- telischen Sinn überliefert hatten: Menschen besitzen Verstand und sind für ihre Gesundheit verantwortlich; und hierbei sei besonders auf die sechs folgenden Bedingungen zu achten:

1. Licht und Luft(aer)

2. Speise und Trank(cibus et potus) 3. Arbeit und Ruhe(motus et quies) 4. Schlaf und Wachen(somnus et vigilia)

5. Absonderungen und Ausscheidungen(secreta et excreta) 6. Anregung des Gemüts(affectus animi).

Aus der antiken Verwurzelung wurde so die Medizin im ausgehenden Mittelalter in ein scholastisches System gebracht, das durch Umfas- sendheit, Einfachheit und Durchsichtigkeit besticht. Die sechs Bedin- gungen der Diätetik hielten sich jahrhundertelang in Literatur und Allgemeinwissen. Neben der gelehrten lateinischen Strömung dieser Werke gab es die ebenso populäre, bedeutende, in den verschiedenen Landessprachen verfasste Literatur, z. B. Thomas Eliots:The Castel of Health(1534) oder Castor Durantes:Il tesoro della sanità(1588). Bei beiden Linien waren oft bestimmte Berufs- oder Altersgruppen an- gesprochen, in der Frühen Neuzeit auch die Bewohner bestimmter Städte oder ein bestimmtes Verhalten (z. B. ab dem 17. Jh. der Um- gang mit Genussmitteln). Der Fokus auf die individuelle Person blieb aber stets erhalten, v. a. auch mit der prägenden Säftelehre. Über Ärz- te und Lesekundige, dann auch mündlich, besonders über Patienten, wurden die diätetischen Inhalte verbreitet.5

Die Diätetik betonte für alle Menschen die praktische Seite der Medizin (welcher neben der Diätetik die Chirurgie und die Pharmazie

5 Vgl. ebd., S. 34–36. Zur Verbreitung vgl. Gadebusch-Bondio, Mariacarla: Diätetik, in: Enzyklopädie der Neuzeit Bd. 2, Sp. 992.

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zugeteilt wurden) gegenüber den theoretischen Konstanten, die mit Physiologie und Pathologie das Grundwissen der Ärzte darstellten. Es war eine Systematik aus Theoretisch-Gegebenem und Praktisch-Be- einflussbarem, angelehnt an Aristoteles, denn dieser hatte »ge- trennt«, wie es gerne missverständlich formuliert wird, zwischen freier Natur und Menschen verfügbarer Nicht-Natur.6Die ganzheit- liche Lebensstilisierung bei den Griechen – als Fächerkanon waren hier Heilkunde, Gymnastik und Musik im Bunde – betraf allerdings immer auch das nicht mehr objektiv Erreichbare im spirituellen Be- wusstsein, dass die Grenzen einerseits durchlässig, andererseits zu achten wären. Die Beeinflussbarkeit des Lebens zum Guten und Ge- sunden, die antiken Schriften um Hippokrates und Galen, dieRegula vitaeder benediktinischen Lebenskultur, dieRegimina sanitatisder arabischen und lateinischen Scholastik sowie später das, was die Ro- mantik erkannte z. B. als »Makrobiotik« (Kunst, lange zu leben) oder Kalobiotik (Kunst, gut zu leben), sie alle prägten die europäische Kul- tur mit reichhaltigem Material zur Lebensführung und -schulung.

Diätetik umfasst somit alle selbstverantwortlichen Maßnahmen, die zur Heilung oder Gesunderhaltung beitragen, sowohl körperlich als auch seelisch-geistig sowie im Sinne einer geregelten Lebensweise.7

Der Kern ist die gute Lebensführung, die Maxime des rechten Maßes: nichts zu viel! Diese Richtung war im Grunde schon mit den vorsokratischen Naturbeobachtungen eingeschlagen worden, um an dieser Stelle noch einmal wesentlich zurückzublicken, eines Heraklit etwa, der den Begriff derharmonia– »Harmonie« prägte. Was sich für moderne Ohren nach »Sonntagsruhe« anhört, war bei Heraklit als Dynamik zwischen Extremen gemeint – die Musik hat bis heute diese Bedeutung noch erhalten – abgeschaut von der angespannten Holzstrebe eines Bogens oder auch einer Leier.8Später soll insbeson-

6Die Verbindung zwischen Natur und Nicht-Natur besteht in einer wesenhaft glei- chen Ursächlichkeit und Zielgerichtetheit. Der Arztsohn und naturwissenschaftlich geprägte Philosoph Aristoteles verfasste die Unterscheidung praktisch orientiert, aber dialektisch gemeint und keineswegs als Teilung. Wichtige Belegstellen finden sich in:

Phys. II 2, 194a-3, 195b.

7Vgl. Schipperges, Heinrich: Heilkunde als Gesundheitslehre, S. 25, 29–36.

8Heraklit, wenngleich nur fragmentarisch zugänglich, sollte reichhaltiger gewürdigt werden als nur mit der populären Formelpanta rhei– »Alles fließt«. Auch seine Formulierungphysis kryptestai philei– »Die Natur liebt sich zu verbergen« be- schreibt elementar das Wesen der Natur in ihrem Auf und Ab, Erkennbarem und Entzogenen. Dies verwahrt sich einem statisch-messenden Naturverständnis gegen- über. Zitate inPeri physeos, in: Fragmente, S. 152, 178. Zu Hippokrates vgl. Aphoris-

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