Antisemitismus und
alttestamentliche Wissenschaft:
Gegenbewegungen
Prof. Dr. Rainer Kessler, Universität Marburg Marburg, 14. April 2021
Seniorenkolleg - Online-Veranstaltung
Martin Luther (1483-1546):
„Das Evangelium ist der
Schlüssel, der die alte Schrift öffnet …
Folglich ist den Juden die Schrift noch verborgen, uns aber ist sie zugänglich.“
Predigt am Ostermontage Nachmittags (2. Apr. 1526), in: WA 20
Johann Salomo Semler
1725-1791
Abhandlung von freier Untersuchung des Canon [1771-1776] – Vier Motive
1.) Das Christentum ist dem Judentum überlegen
„Sobald z.E. nachdenkende verständigere Juden über den Inhalt dieser Bücher … und über die Lehre Jesu eine
Vergleichung der gelehrten Sachen anstellen, so lassen sie ihre bisherigen Lehrer und Rabbinen fahren und ziehen einen
bessern Unterricht von einer viel bessern vollkommenern Religion vor …“
2.) Das Judentum ist partikular und nicht universal
Bei der Frage der Kanonizität von Schriften ist auszugehen
„von der Göttlichkeit des Inhalts oder der Wahrheiten, welche wirklich die eigene vollkommenere Religion eines Christen jetzt ausmachen und ihr zugleich einen erweislichen Vorzug geben, sowohl vor der gemeinen viel geringern und bloß particulären Religion der Juden, als auch der sogenannten bloß natürlichen
…“
3.) Das Judentum ist eine fremde orientalische Religion
„Ein gesunder Auszug aus den Büchern alten Testaments, worin die kleinen unfruchtbaren Erzählungen und die Stellen weggelassen werden, welche nur für jene Juden gehörten und den Stempel der Zeit oder der Provinz so deutlich vorzeigen, würde die christliche bessere Lehre und Religion viel leichter überzeugend und durch Erfahrung empfehlen als die kalten Wiederholungen der Beschreibungen von Begebenheiten, die ganz und gar ausländisch, ganz fremd und unbekannt für uns und unsern ganz andern Geschmack in der Erkenntnis und Moral sind und bleiben.“
4.) Die rabbinische Auslegung ist irrational
Charakterisierung der „Rabbinen bei den entstandenen tausend unnützen Fragen, Streitigkeiten, Einfällen und widrigen
Aussprüchen“.
Johann Gottfried Herder
(1744-1803)
»Herder, Bekehrung der Juden [1802]
„Auch über die Grundsätze der Jüdischen Grammatik und
Auslegungskunst, die von der christlichen so verschieden ist, hinweggesehen; ... ist es ausgemacht, daß diese
Vorhersagungen, als sie gesagt wurden, größtentheils eine Zeit- und Ortmäßige Veranlassung und Anwendung hatten, durch das vermehrte Lichte fortgehender Zeiten aber, zuletzt durch die ganze Sammlung der Schriften selbst einen immer geistigern Sinn erhalten haben. Alles hängt an diesem geistigen Sinn symbolisch-ausgesprochener Hoffnungen und Wünsche.
Wer an solchem keinen Geschmack hat, sondern die goldnen Becken und Schüsseln am neuen Opferaltar … haben und
erwarten will, dem kann man nichts sagen, als: warte! Sinnliche Begierden, zumal auf National-Stolz gegründet, lassen sich
selten wegdisputiren ...“
Herder, Vom Geist der Ebräischen Poesie [1782-83], S. 669
„Von der Kindheit und Jugend des menschlichen Geschlechts läßt sich mit Kindern, mit Jünglingen am besten sprechen;
Zeiten vor dem Mosaischen Knechtsdienst fühlen die am
besten, die noch kein Joch der Regeln erdrückt hat, denen die Morgenröte der Welt Morgenröte der Seele sein soll.“
Gotthold Ephraim Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts [1780]
§ 1. Was die Erziehung bei dem einzeln Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte.
§ 8. Da er [sc. Gott] aber einem jeden einzeln Menschen sich nicht mehr
offenbaren konnte, noch wollte: so wählte er sich ein einzelnes Volk zu seiner besondern Erziehung …
§ 20. Während daß Gott sein erwähltes Volk durch alle Staffeln einer kindischen Erziehung führte; waren die anderen Völker des Erdbodens bei dem Lichte der Vernunft ihren Weg fortgegangen. Die meisten derselben waren weit hinter dem erwählten Volke zurückgeblieben: nur einige waren ihm zuvorgekommen.
Wilhelm Martin Leberecht de Wette
(1780-1849)
Die Zweiteilung der jüdischen Geschichte in Hebraismus und Judentum
de Wette, Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments.
Oder kritische Darstellung der Religionslehre des Hebraismus, des Judenthums und Urchristenthums, Berlin 11813; 21818
Als wesentliche Momente des Hebraismus muss man hervorheben: „den Mosaischen Hebraismus – theokratisch-symbolischen
Monotheismus“ und „den idealen, unsymboli-
schen Hebraismus der Propheten und Dichter.“
de Wette:
„Die neue Anhänglichkeit an das Mosaische Gesetz
wurde daher Anhänglichkeit an den Buchstaben, womit auf alle Selbstständigkeit und Freyheit Verzicht
geleistet wurde, weshalb auch bald das Prophetenthum unterging.“
„Das Judenthum ist die verunglückte Wieder-
herstellung des Hebraismus … Die charakteristischen Merkmale sind: 1) Statt der sittlichen Richtung meta- physisches Nachdenken … 2) Neben der miß-
verstandenen Symbolik eine schriftliche Religions- autorität, ohne selbständige Hervorbringungskraft.
Daher 3) während der Hebraismus Sache des Lebens
und der Begeisterung war, ist das Judenthum Sache
des Begriffs und des Buchstabenwesens.“
de Wette:
„Zum Mosaismus verhält sich das, was Jesus unter die Menschen
einführen wollte, wie das volle Licht zum Schimmer, die vollkommne Idee zum unvollkommnen Bild. Nur gegen die einseitige symbolische Dar-
stellung und die fixirte Ansicht jener
Religion ist Jesus im Gegensatz, mit
dem ursprünglichen ahnungsvollen
Geist derselben aber in Harmonie.“
de Wette: Über den Verfall der protestantischen Kirche in Deutschland, und die Mittel, ihr wieder aufzuhelfen,
in: Reformations Almanach 1817, S. 296ff, Zitat S. 332
„Aus dem Gegensatze mit dem Judenthume ist das Christenthum hervor gegangen; beide dulden sich nicht neben einander, ihre Grundideen, ihr innerstes Wesen sind von einander verschieden;
und doch – sollte man es glauben – streiten eine große Menge
Christen dafür, den Juden das deutsche Bürgerrecht zu verschaffen.
Selbst Theologen treten für sie in die Schranken. … Den
Pharisäismus … will jetzt eine angebliche christliche Milde und Liebe nicht nur dulden, sondern der Lehre des Glaubens gleich
stellen. … Und man reißt solchen Verächtern und Spöttern nicht den entweihten geistlichen Ornat ab, erklärt sie nicht der theologischen Doktorwürde für verlustig, wehrt ihnen nicht, die Kanzel zu
besteigen? O Schande über unsere Zeit!“
Johann David Michaelis
1717-1791
Das Hebräische als tote Sprache
Johann David Michaelis, Beurtheilung der Mittel,
welche man anwendet, die ausgestorbene hebräische Sprache zu verstehen [1757]
„... wie unzuverlässig das ist, was die Juden nach einer so langen Zerstreuung unter andere Völker, und
nachdem das Hebräische schon seit ein Paar tausend Jahren ihre Muttersprache nicht ist, von der Bedeutung Hebräischer Wörter, sonderlich der in die
Naturgeschichte gehörigen sagen, daß wir das beste davon wirklich schon in den gelehrten Büchern der Rabbinen haben ...“
Aus: Orientalische und exegetische Bibliothek 4 (1773)
Wilhelm Gesenius (1786-1842)
Hebräisches und chaldäisches Hand- wörterbuch über das Alte Testament,
3. Auflage 1828 (18. Aufl. 2012)
S. III: „Forschen wir den letzten Quellen unserer Kenntniss der hebräischen
Wortbedeutungen nach, so lassen sich diese auf folgende drey zurückführen:
1) der Sprachgebrauch des A.T. selbst … 2) die traditionelle Kenntniss der
hebräischen Sprache, welche sich bey den Juden erhalten hat ...
3) die Vergleichung der
stammverwandten Sprachen ...“
S. XXVII: „Dem biblischen Hebraismus am nächsten verwandt ist das
talmudische Idiom ...“
Julius Fürst (1805-1873)
Zitat Heinrich Ewald 1835:
„... halte das Buch von Julius Fürst für ein elendes, aus nichts als
Nachahmung der Verschiedensten entstandenes Werk ...“ Weiter:
„... und daß er vom Talmud etwas
weiß, ist nicht wunder, da er ein
Jude aus Kalisch ist, Namens
Rabbi Josef, denn Fürst ist
angenommener Name. Dies
Beispiel zeigt wieder, daß die
Juden leicht fassen, aber nichts
Rückhaltiges haben.“
Franz Delitzsch (1813-1890) und das Institutum
Iudaicum
● Schüler von Julius Fürst
● Zitiert zeitgenössische jüdische Kommentare
● Tritt dem aggressiver werdenden rassistischen Antisemitismus entgegen
● Sein oberstes Ziel ist die Judenmission.
Zur Ausbildung von Judenmissionaren gründet er 1886 das Institutum
Iudaicum.
Der Bibel-Babel-Streit seit 1902
Drei Vorträge des Assyriologen Friedrich Delitzsch.
These: Die Bibel ist weder originell noch offenbart.
Alles war vorher schon in der assyrisch-babylonischen Kultur vorhanden.
„Im großen und ganzen bleibt es dabei, daß das
Judentum unter die heidnischen Religionen gehört …, daß zum mindesten … Judentum und Christentum
durch eine hohe Scheidewand getrennt sind ...“
„Das sog. 'Alte Testament' ist für die christliche Kirche
und damit auch für die christliche Familie vollkommen
entbehrlich.“ (Aus: Die große Täuschung, 1921)
Karl Budde (von 1900-1921 Professor für Altes Testament in Marburg)
Was soll die Gemeinde aus dem Streit um Babel und Bibel lernen? Ein Vortrag, 1903
● „unser Altes Testament“ ist „... das heilige Buch der jüdischen Gemeinde...“
● Die Bibel ist nicht Wort für Wort inspiriert; gleichwohl ist in der Schrift Offenbarung zu finden.
● Gott hat sich immer und überall offenbart, nicht nur in Christus, sondern vorzüglich im Alten Testament.
● Das Alte Testament ist nicht zu streichen.
Die Offenbarung im Neuen Testament steht allerdings auf
einer höheren Stufe.
Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft
gegründet 1881 von B. Stade, dann hg. v. K. Marti bis 1924;
ab 1925 hg. v. Hugo Greßmann (1877-1927): Ergänzung des Titels „... und die Kunde des nachbiblischen Judentums“.
Dazu Greßmann S. 1f: „Darum darf es mit besonderer Freude begrüßt werden, wenn jetzt auch jüdische Gelehrte anfangen, 'die Zeit, das Leben und die Lehre des Jesu von Nazareth' – das ist der Titel eines Buches in hebräischer Sprache, das 1922 von Joseph Klausner in Jerusalem veröffentlicht worden ist – nicht unter dem Gesichtspunkt der Mission oder der Polemik, sondern unter dem der Wissenschaft … zu untersuchen. Wir Theologen sind … gern bereit, von ihnen zu lernen …“
[Anm.: Joseph Klausner ist der Großonkel von Amos Oz, vgl. Eine Geschichte von Licht und Finsternis]
Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft
Nach Gressmanns Tod Herausgabe durch Johannes Hempel Streichung des Untertitels ab 1936, ohne Kommentar
Hempels Chronik in der Ausgabe 1942/43, S. 210-211
„Der politische Existenzkampf des deutschen Volkes …“ „Je stärker das rassische und völkische Erwachen sich durchsetzt und je energischer in der politischen Lage der Gegensatz zwischen dem Dritten Reiche und dem Judentum als ein Kampf auf Leben und Tod hervortritt, desto schärfer wird auch der Blick für den politischen Gehalt der Religion des AT …“
Hempel in der Chronik 1945/48, S. 231f „Ich hätte jene, mir damals um der Zukunft der ZAW willen notwendig erscheinenden, Sätze nicht geschrieben, wenn ich
gewußt hätte, was bereits geschehen war, und bis zu welchen Dingen sich der
Antisemitismus mit der Verschärfung der Kriegslage steigern würde. … Wenn man
… damals das jüdische Problem überhaupt anrührte, wäre eine Warnung vor den Auswüchsen des Antisemitismus erforderlich gewesen, der sich durch seine
Konsequenzen als Geisteshaltung abendländischer und erst recht christlicher Menschen unmöglich gemacht hat.“
● 1939 Gründung des „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ (Entjudungsinstitut),
Sitz in Eisenach
● Geistige Vorläufer, die das Alte Testament aus dem Kanon ausscheiden wollen: Semler, Schleiermacher, von Harnack, Friedrich Delitzsch u.a.
● Verbindet sich mit NS-Rassenideologie. Wie Jüdinnen und Juden seit 1941 physisch „ausgemerzt“ wurden, tat das das „Entjudungsinstitut“ mit dem „jüdischen Einfluss“: Beseitigung des Alten Testaments,
„Reinigung“ des Neuen Testaments („arischer Jesus“),
„Reinigung“ des Gesangbuchs.
Fazit von Prof. Dr. Shimon Gesundheit, Jerusalem, Vortrag:
Christlich-historische Literarkritik versus judisch- rabbinischer Exegese der Tora. Ein Versuch, zwei
gegensätzliche Methoden miteinander ins Gespräch zu bringen (Hofgeismar, 15. Januar 2021)
Vor der Shoah fand kein Dialog zwischen jüdischer und historisch-kritischer
christlicher Bibelauslegung statt.
Auf jüdischer Seite gab es nur
1. eine (fast) unkritische Rezeption, oder
2. eine vehemente Ablehnung.
Und nach 1945?
Gerhard von Rad (1901-1971), Theologie des Alten Testaments I, 1957, 104f:
„... nachdem es (sc. Israel) Jahwes Willen so zeitlos absolut zu verstehen begann, mußte die Heilsgeschichte über ihm stillstehen. Dieses Israel hatte keine Geschichte mehr, jedenfalls keine Geschichte mit Jahwe.“ „So war es
… der Solidarität mit den anderen Völkern endgültig entnommen“. „Durch diese radikale Separation wurde es den anderen Völkern unheimlich, ja verhaßt ...“.
Hans Walter Wolff (1911-1993), Zur Hermeneutik des Alten Testaments, EvTh 16, 1956, 337-370 (= Gesammelte Studien, 251-288)
„In der Tat muß die Synagoge mit ihrer Bibel Zeuge dafür sein, daß Gott zu Israel geredet hat wie zu keinem geschichtlichen Volk sonst. Aber ist das Alte Testament in der Synagoge wirklich zu seinem Ziel gekommen?“ (260).
„Während die Synagoge den Weg Gottes zum Leben verläßt, den er im alten Bunde begonnen hat, … weist das Neue Testament die echte
Entsprechung zum alttestamentlichen Kerygma auf“ (266).
Rolf Rendtorff (1925-2014)
seit 1963 Professor für Altes Testament in Heidelberg
Der Titel der Festschrift zu seinem 75. Geburtstag (1990) ist Programm:
„Die Hebräische Bibel und ihre zweifache Nachgeschichte“
Frank Crüsemann (geb. 1938)
seit 1980 Professor für Altes Testament an der Kirchlichen Hochschule Bethel in Bielefeld Das wegweisende Buch erschien 2011.