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# 1999/24 Dossier

https://jungle.world/artikel/1999/24/die-welt-ist-zehn-jahre-alt Gegen den Malestream

Die Welt ist zehn Jahre alt

Von brigitte young

Der Prozeß der Globalisierung ist auch ein geschlechtsspezifischer Prozeß.

Ungeniert deklariert die Investment-Firma Merrill Lynch in den Foreign Affairs (1999): "Die Welt ist zehn Jahre alt." Sie wurde geboren, als 1989 die Mauer fiel, und mit ihr erblickte die weltweit jüngste Wirtschaft - der globale Markt - das Licht. Merrill Lynch ist mehr denn je überzeugt, daß die kommenden Jahre eine enttäuschende Zeit für Pessimisten sein werden.

Somit ist die Globalisierung das ökonomische Großereignis unserer Zeit. Technologie macht Globalisierung möglich. Liberalisierung macht sie zur Realität, und Liberalisierung ist die Realität. So einfach erklärt Martin Wolf, Mitglied der Chefredaktion der Financial Times das Großereignis.

Größer könnte der Kontrast zwischen der Euphorie derjenigen, die die Entfesselung der globalen Märkte feiern, und der Desillusionierung jener, die die destruktiven

Auswirkungen des deregulierten freien Marktes wahrnehmen, nicht sein. Ist der

Neoliberalismus in Wirklichkeit nur die praktische Umsetzung einer Utopie, fragt Pierre Bourdieu. Die Utopie einer grenzenlosen Ausbeutung wird Realität. Ein Programm zur Zerstörung kollektiver Strukturen, die noch in der Lage sind, der Logik des reinen Marktes zu widerstehen. Globalisierung hat die Welt auf einen darwinistischen Überlebenskampf reduziert, in dem jeder gegen jeden kämpft und in dem der Zynismus als oberstes Prinzip des Rechts des Stärkeren regiert. Die Befürworter der maximal markets haben den Staat zu ihrem ärgsten Feind erklärt.

In diesem Kampf um die Zukunft des Kapitalismus hat der "Washingtoner Konsens" - Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung - den Sieg davongetragen. Nur das dramatische und unerwartete Aufkommen der Finanzkrisen in so unterschiedlichen Regionen wie Asien, Rußland und Lateinamerika hat zu einem teilweisen

Vertrauensverlust unter den Anhängern des freien Marktes in ihre universellen Rezepte für makroökonomische Stabilität geführt. Der Washingtoner Konsens hat einen neuen transnationalen Staat (IWF, OECD, Weltbank, WTO) jenseits demokratischer Kontrolle

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geschaffen. Der Washingtoner Konsens widerspricht nicht nur wichtigen Lehrsätzen neoklassischer Ökonomie, seine Rezepturen für die Dritte Welt sind zudem

kontraproduktiv.

Der Washingtoner Konsens

Der Washingtoner Konsens entstand in Reaktion auf die lateinamerikanische

Schuldenkrise in den achtziger Jahren als Übereinkommen zwischen IWF, Bankern und Regierungen. Um diese makroökonomischen Instabilitäten zu überwinden, verschrieben US-Wirtschaftsexperten, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank eine Kur, die massive Dosen an Handelsliberalisierung, finanzieller Deregulierung und Privatisierung vorsah. Es wurde angenommen, daß die hohe Verschuldung der öffentlichen Hand und hohe, variable Inflationsraten das Ergebnis fehlgeleiteter Staatspolitik seien. Wäre die Regierung erstmal "aus dem Wege geräumt", würde der Markt eine effiziente

Ressourcenallokation gewährleisten und somit zu einem robusten Wachstum führen.

Die Antwort auf die wirtschaftlichen Probleme der Dritte-Welt-Länder war ein doktrinärer Glaube an die selbstregulierenden Kräfte des Marktes. Der maximale Markt und minimale Staat wurden zur goldenen Regel, um Stabilität wiederherzustellen. Dieser Übergang von staatlicher Regulierung der Schuldenkrise zum autonomen Markt bedeutete auch eine Veränderung der Funktionsweise des Bretton-Woods-Systems. Während der IWF vor 1973 noch Verwalter des internationalen Finanzsystems war, ist die Post-Bretton-Woods-

Institution heute Wächter der Finanzmärkte.

In der Tat hörte die ursprüngliche Aufgabe des IWF durch den Kollaps des festen

Wechselkurssystems in den frühen siebziger Jahren auf zu existieren. Heute ist der IWF gemeinsam mit der Weltbank dafür verantwortlich, daß Schuldnerländer - ungeachtet ihrer ernsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten - ihren internationalen

Darlehensverpflichtungen nachkommen. Der IWF wurde so zum lender of last resort, der letzte Ausweg für Schuldnerländer, noch einen Kredit zu erhalten.

Doch die Kredite des IWF dienen nicht dem Zweck, den betroffenen Ländern auf die eigenen Füße zu helfen. Vielmehr versichert ein IWF-Kredit den Gläubigern, daß die Darlehenszinsen ungeachtet ihrer sozialen Kosten und des damit einhergehenden

menschlichen Leidens entrichtet werden. Im Zentrum des monetaristischen Diktates von IWF und Weltbank stehen die starke Zurücknahme der öffentlichen Ausgaben, strenge Sparprogramme, die Reduzierung von Krediten und Geldversorgung und die drastische Senkung der Reallöhne. Dadurch wird die Bedienung internationaler Kredite zur

wichtigsten innen- und außenpolitischen Aufgabe verschuldeter Dritte-Welt-Länder.

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Wenig Aufmerksamkeit wird den sozialen Kosten monetaristischer Disziplinarmaßnahmen geschenkt, ebensowenig wie der Schaffung notwendiger Voraussetzungen, um diese Ökonomien auf dem globalen Markt wettbewerbsfähig zu machen. Die Ausstattung des IWF ermöglicht keine Lösung der Bank- und Zahlungsbilanzkrisen der Dritten Welt oder die Gewährleistung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten. Das universelle Rezept für alle Länder, die sich gezwungen sahen, beim IWF finanzielle Hilfsleistungen zu erbitten, lautet Angebotsorientierung und Deflation.

Es läßt sich nicht nachweisen, daß sich die wirtschaftliche Situation einzelner Staaten durch den Washingtoner Konsens gebessert hätte. Die freie globale Zirkulation des

Kapitals hat ebenso zu schweren antidemokratischen Auswirkungen geführt. Die globalen Finanzmärkte werden zu einer neuen supranationalen Weltordnung transformiert.

Nationale Finanztransaktionen nehmen ab, während einige ausgewählte global cities ein globales Netzwerk von Finanzzentren bilden. Diese supranationale Ordnung, mit ihren eigenen institutionellen Strukturen, Kommunikationsnetzwerken und ihrer eigenen Aktionslogik hat einen technokratischen transnationalen Staat ohne Bürger geschaffen - mit den Worten von Ignacio Ramonet, "ein Machtzentrum ohne Zivilgesellschaft".

Kapitalmärkte und transnationale Unternehmen sind die transnationalen Bürger dieses neuen Staates. Die Gefahr, die von dieser supranationalen Ordnung ausgeht, besteht nicht so sehr in der Schwächung des Nationalstaates, sondern in der Erosion sozialer und politischer Rechte der nationalen Staatsbürger. Die geheimen Verhandlungen der OECD- Staaten über das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI), ohne die Berücksichtigung von Dritte-Welt-Ländern oder Staatsbürgern der Ersten Welt, ist nur ein Beispiel der herrschenden Logik der globalen Wirtschaftsordnung.

Die gegenwärtigen Empfehlungen des IWF zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise reflektieren die Interessen des Finanzkapitals: Deregulierung der Märkte, Senkung der Inflationsrate durch hohe Realzinssätze, Verkleinerung des Regierungsapparates und die Beseitigung von Bilanzdefiziten. Die Kur ist für alle Länder identisch, ungeachtet ihrer geographischen Größe, ihrer politischen Kultur und kulturellen Tradition, ihres

Wirtschaftssystems und des Niveaus der wirtschaftlichen Entwicklung. Gerät ein Land mit seinen internationalen Schuldendienstverpflichtungen in Verzug und ersucht die Hilfe des IWF, muß ein letter of intend, eine Absichtserklärung unterschrieben werden, daß

Strukturanpassungsprogramme vorgenommen werden. Durch dieses Schriftstück erklären diese Länder praktisch ihre Kapitulation gegenüber dem IWF-Diktat.

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Der IWF vernachlässigt dabei die strukturellen, angebotsbedingten Ursachen von Zahlungsschwierigkeiten. Hier kann ein Vergleich zum Deutschland nach 1945 aufschlußreich sein. Es wurde besonderes Gewicht auf Produktion, Investitionen, Innovationen und Handel gelegt, auf das soziale Wohlfahrtssystem als Gegensatz zu kapitalistischen Märkten und ein internationales politisches System, das politische Koordination und Kooperation lieferte. Finanzmärkte standen gegenüber den

Warenmärkten an zweiter Stelle. Heutzutage haben wir das Gegenteil: Der Schwerpunkt liegt bei den Finanzinvestitionen, insbesondere spekulativen Transaktionen wie Derivaten.

Deckungsgeschäfte werden mit Hilfe von Derivaten abgeschlossen und basieren auf sehr komplizierten, mathematisch errechneten Einsätzen, je nachdem ob die Wechselkurse, Zinsraten oder Aktien-Portfolios steigen oder fallen. Bei diesen Einsätzen müssen Spekulanten zunächst sehr wenig Geld bereitstellen. Doch die Einsätze gehen oft

verloren, und irgendwann kommt der Tag X, an dem das Geld aufgebracht werden muß, um die verlorenen Einsätze zu decken. Viele Banken und Investitionshäuser können die hohen Summen, die ihre Börsenmakler in diese "Deckungsgeschäfte" der sogenannten Finanzderivate investieren, nicht mehr kontrollieren.

Der Beinahe-Bankrott des US Long-Term Capital Management Fund (LTCM) ist nur ein besonders krasses Beispiel für vollkommen unkontrollierte Finanzzirkulationen. Die in dieser Spekulation gehandelte Geldsumme entsprach dem Bruttosozialprodukt

Deutschlands Ende der achtziger Jahre oder dem gesamten Welthandelsvolumen in den Siebzigern. Das Ergebnis war nicht nur, daß die US Federal Reserve LTCM retten mußte, auch Schweizer und andere Banken verloren große Summen. Mehr als tausend solcher Investitionsfonds operieren weltweit, und keine internationale Vereinbarung ermöglicht die Kontrolle der globalen Zirkulation dieses heißen Geldes.

Die Welthandelsorganisation (WTO) ist vor allem ein Instrument, um die Gesetze, die die Freiheit des Handels gefährden, außer Kraft zu setzen. Solche Gesetzüberschreitungen sind auch nationale Gesetze zum Schutz der Umwelt, Gesundheitsvorschriften und Arbeitsrechte. Die WTO ist zur bedeutendsten Umsetzungsorganisation der neoliberalen Agenda von IWF und Weltbank geworden. Rita Hayes, amerikanische Botschafterin bei der WTO, hat diesen Zweck der Washingtoner Agenda dieser Institutionen offen

eingeräumt: "Da die globale Währungs- und Finanzkrise multidimensional ist, unterstützt die WTO den IWF und die Weltbank zur Erreichung makroökonomischer, struktureller und finanzpolitischer Ziele."

Bei ihrer Betonung der Handels- und Kapitalliberalisierungen schenken die Architekten der neoliberalen globalen Ordnung sozialen Belangen tatsächlich existierender Menschen keinerlei Beachtung. Es bedurfte der Pionierarbeit von Diane Elson, Caroline Moser, Lourdes Bener'a und vieler anderer EntwicklungsspezialistInnen und feministischer Ökonominnen, um herauszustellen, daß die Bedürfnisse der heimischen Bevölkerungen sich nicht einfach in Luft auflösen. Im Gegenteil, diese Aufgaben werden auf den privaten Haushaltsbereich verschoben, mit anderen Worten: Soziale Aufgaben werden zur

privatisierten Last der Frauen. Dieser Verschiebung liegt die Annahme zugrunde, daß

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Frauenarbeit unendlich dehnbar ist. Aber wir wissen von vielen Entwicklungsstudien, daß Welthandel und Finanzliberalisierung zu Lasten von Frauen und Kindern gehen und die Ungleichheit der sozialen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Männern und Frauen verstärken.

Der Post-Washington- Konsens

Die Kritik am neoliberalen Washingtoner Konsens ist so laut, daß sie selbst innerhalb der Finanzinstitutionen gehört wird. Joseph Stiglitz, Vize-Präsident und Chefökonom bei der Weltbank, hat zum Übergang zu einem Post-Washingtoner Konsens aufgerufen, der die Diktate von Washington hinter sich läßt. Sollen politische Maßnahmen nachhaltig sein, so müssen Dritte-Welt-Länder ihren Anspruch auf deren Verwirklichung durchsetzen. Um dem Dogma der Liberalisierung etwas entgegenzusetzen, empfiehlt er drei Korrektive zu gegenwärtigen politischen Maßnahmen:

1. Der Schwerpunkt sollte nicht länger auf Liberalisierung oder Deregulierung liegen, sondern auf der Bildung eines "regulativen Rahmens", der ein effizientes Finanzsystem sichert.

2. Finanzielle Regulierung sollte an die Bildung einer "korporativen Kontrollstruktur"

gekoppelt sein, die mehr Transparenz erlaubt und ausgedehnte Kapital-Mißallokationen vermeidet.

3. Ein geeigneter rechtlicher Rahmen und Anreizstrukturen zur "Selbstkontrolle" der Wirtschaftsakteure sollten geschaffen werden.

Stiglitz steht mit seinem Ruf nach einem neuen Konsens nicht allein. Der Domino-Effekt der Finanzkrisen in Asien, der erst Rußland, dann Brasilien und andere

lateinamerikanische Länder berührte, hat endlich auch die Aufmerksamkeit der mächtigsten Global Players erheischt. Das Thema, das im Februar 1999 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos behandelt wurde, hieß "Verantwortungsvolle Globalisierung". Schließlich haben die neunziger Jahre die größte Zunahme von Einkommensunterschieden erlebt.

Das Verhältnis der obersten zu den untersten 20 Prozent der Einkommen ist bereits auf 150 zu 1 gestiegen. Zunehmende Spannungen zwischen Demokratie und freiem Markt haben zu gewissen Zweifeln an den bis dahin unhinterfragten Erfolgen des neoliberalen Credos geführt.

Unglücklicherweise stieß der Ruf Oskar Lafontaines nach einer globalen Stabilisierung der Wechselkurse, der Koordination der europäischen Geldpolitik und nach der Stimulierung des Wirtschaftswachstums durch antizyklischen Euro-Keynesianismus auf heftigen Widerstand der Finanzgemeinschaft. Sein Rücktritt signalisierte die Niederlage einer regionalen europäisch/ deutschen neokeynesianischen Alternative zum Neoliberalismus.

Lafontaine stand mit seinem Ruf nach europäischen Zinssenkungen, um die

Arbeitslosigkeit zu senken, allein. Selbst Frankreich war dagegen, die Zinssätze des Euro, Yen und Dollar einander anzugleichen, während die Deutsche Bundesbank und die USA

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signalisierten, daß sie kein Interesse an einem weltweiten Stabilisierungssystem der Wechselkurse haben.

Hans Tietmeyer, Präsident der Deutschen Bundesbank, glaubt weiterhin, daß die freie Bewegung des Kapitals zu einer optimalen Allokation der Ressourcen führt. Tietmeyer zufolge sind die gegenwärtigen Maßnahmen des IWF zur Kapitalliberalisierung noch immer der einzig mögliche Ausweg aus der aktuellen Krise. Der britische Schatzkanzler gibt die Notwendigkeit neuer Spielregeln zu.

Dennoch befand er, als er gemeinsam mit anderen Bankiers Schuldzuweisungen wegen der globalen Finanzkrise machte, den IWF und die Weltbank als unschuldig. Wegen dieser Verwirrung bemängeln Vertreter der internationalen Finanzgemeinschaft weiterhin die wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen einzelner Länder, die unterentwickelten Finanzsektoren der neuen Märkte, das ineffektives Kontroll- und Krisenmanagement und unzureichende soziale Schutzmaßnahmen.

In dem Tauziehen zwischen denjenigen, die strengere Kontrollen über die Finanzmärkte fordern, und jenen, die diesen Forderungen auf lange Sicht widerstehen wollen, konnte als einzige gemeinsame Vereinbarung der Bedarf an strengeren

"Transparenzmaßnahmen" festgestellt werden. Transparenz, so die Argumentation, würde als ein Warnsystem funktionieren, das Investoren genügend Informationen zur Verfügung stellt, um ein finanzielles Desaster zu vermeiden.

Die Demokratisierung des Post-Washington-Konsenses

Es ist unwahrscheinlich, daß die internationalen Finanzeliten die Verantwortung für die

"Schaffung einer sozial ausgerichteten Plattform" übernehmen, um die Demokratisierung der globalen Ökonomie zu ermöglichen. Zugegebenermaßen, Finanzminister und

politische Akteure haben endlich anerkannt, daß zum Funktionieren der Märkte mehr gehört als nur Inflationsbekämpfung. Mit den Worten von Joseph Stiglitz: "Es sind vernünftige Finanzierungsregelungen, Wettbewerbsbestimmungen und politische Maßnahmen erforderlich, um den Technologietransfer zu ermöglichen und die Transparenz zu verstärken."

Jedoch gibt es keine ernsthafte Diskussion darüber, wie man die Frage der Schuldenlast der Entwicklungsländer löst. Wegen dieses Mangels bedeutet die Wiederaufnahme der Entwicklungshilfe, daß diese Länder weiterhin ihre Ressourcen in die Erste Welt liefern.

Auch würde Lafontaines Euro-Keynesianismus die heutigen globalen Ungleichheiten nicht lindern. Ein globaler Keynesianismus wäre notwendig, um die heutigen

Deflationsmaßnahmen einzudämmen. Zum ersten Mal seit 1930 leidet die Welt unter der offensichtlichen Unfähigkeit der Regierungen, die Nachfrage anzukurbeln. Die Nachfrage kann in den von Krisen geschüttelten Ländern nicht gesteigert werden, da ein Einbruch der Zinsen die Währungen destabilisiert und ausländische Investoren abschreckt.

Ein Weg aus diesem Trilemma besteht in der Auflösung der Verbindung zwischen

nationalen Zinsen und dem Wechselkurs. Die Einschränkung der Kapitalströme mancher Entwicklungsländer, die Regulierung der Finanzmärkte und der Ausbau der Wirtschaft

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würde der heutigen Politik kurzfristiger Bilanzhilfen eine neue Richtung geben.

Kurzfristige Bilanzhilfen dienen allein dem Zweck, die Schuldenlast auf einem unerträglichen Niveau zu halten und die Schuldnerländer zu Spar- und

Deflationsmaßnahmen bei enormen sozialen und menschlichen Kosten zu zwingen.

Es wäre sinnvoll, sich Gedanken zu machen, ob der IWF, die Weltbank, die WTO und die OECD Relikte einer Wirtschaftsordnung des Kalten Krieges sind. Diese Institutionen haben bei der Bewältigung der Herausforderungen der Globalisierung mangelnde Flexibilität bewiesen und sind nicht dafür geeignet, Gleichheit und wirtschaftliche Entwicklung zu fördern.

Es fehlt jegliche Kenntnis der Wirkung von deflationären politischen Maßnahmen auf Frauen und Männer, selbst von der kritischen Schule des Washingtoner Konsenses. Nach einer Studie, die 1987 von den Regierungschefs des Commonwealth in Auftrag gegeben wurde, "haben die wirtschaftlichen Krisen der achtziger Jahre und als Antwort darauf die Stabilisierungs- und Anpassungsprogramme, die Fortschritte in der Gesundheits- und Ernährungsversorgung, im Bildungswesen und des Lohnniveaus von Frauen in

Entwicklungsländern der letzten drei Dekaden zum Anhalten gebracht und sogar rückgängig gemacht."

Die Situation hat sich in den neunziger Jahren verschlechtert. Sparmaßnahmen - um nur eine politische "Korrekturmaßnahme" zu nennen - zeigten keine Kürzungen im

militärischen Bereich. Dagegen bedeuteten sie eine Reduzierung oder eine völlige Einstellung von Gesundheits-, Bildungs- und anderen sozialen Programmen. Aber diese

"Nebeneffekte" liegen außerhalb der zentralen Erwägungen der Globalisierer.

So argumentiert Saskia Sassen, daß traditionelle Darstellungen auf ein enges analytisches Gebiet begrenzt sind. In diesen Darstellungen wird "das große Spektrum der

Mikropraktiken und kultureller Ausdrucksformen, die durch Männer und / oder durch männlich geprägte Verhältnisse konstituiert, manifestiert und legitimiert wurden"

ausgeblendet. Ähnlich erörtert Isabella Bakker das "konzeptionelle Schweigen" mit Bezug auf die asymmetrischen Machtbeziehungen, die auf Gendermerkmalen beruhen, und Diane Elson spricht von der "männlichen Konstitution" des Entwicklungsprozesses.

Feministische Wirtschaftswissenschaftler erkennen, daß eine Demokratisierung der globalen Ökonomie einen neuen Schwerpunkt auf "genderspezifische makroökonomische Politiken" setzen muß, der auf der Analyse beruht, daß die Geschlechter eine

maßgebende Rolle im Prozeß der globalen wirtschaftlichen Umstrukturierung spielen. Es ist sicher nicht ausreichend, einen globalen Keynesianismus zu fordern, um

geschlechtsneutrale Ergebnisse zu erzielen.

Ein erster notwendiger Schritt ist die Anregung der globalen Nachfrage, um die

Deflationsspirale, der wir heutzutage gegenüberstehen, zu beenden. Das Ausdehnen der wirtschaftlichen Tätigkeiten reicht nicht aus, um die bestehende Gender-Blindheit

herauszufordern, die in den historischen und institutionellen Praktiken des Staates und des Marktes, durch die der differenzierte Zugang und die Kontrolle von Männern und Frauen zu materiellen und immateriellen Ressourcen gestaltet wird, verwurzelt ist. Märkte

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und Staaten sind Institutionen, die von Machtstrukturen, die asymmetrische Klassen- und Gender-Dimensionen besitzen, durchzogen sind.

Der marktwirtschaftliche Standpunkt der Gesellschaft, wie Karl Polanyi 1944 bemerkte, machte eine zweifache Annahme, die zweifach falsch ist. Sie setzt Ökonomie mit vertraglichen Beziehungen und vertragliche Beziehungen mit Freiheit gleich. Der erste Fehler in dieser Marktutopie ist, daß wirtschaftliches Verhalten "zerlegt" ist in einen Produzentensektor, der endet, wenn die Produkte den Markt erreichen, und in einen Konsumentensektor, für den alle Produkte auf dem Markt erscheinen.

Zweitens, beide, die Produzenten und die Konsumenten, sind "frei", entweder Einkommen aus dem Markt zu schöpfen oder es dort auszugeben. Die Gesellschaft, der Staat, die Familie, menschliche Beziehungen - keiner spielt eine Rolle in dieser Markt-Utopie. Die Produktion und die Verteilung der Güter ist alleine durch den Preis geregelt. Die

Selbstregulierung des Marktes beinhaltet, daß das verfügbare Angebot von Gütern zu einem festgesetzten Preis dem Preis für die Nachfrage gleicht.

Diese Annahmen sind einfach falsch. Märkte sind eingebettet in soziale Beziehungen, und die Zusammenarbeit, die Gegenseitigkeit, das Vertrauen, die Umverteilung und die

Aufmerksamkeit sind entscheidend für das Funktionieren jeglicher Marktwirtschaft. Die ökonomischen Standarddarstellungen berücksichtigen nicht die "nicht-

marktwirtschaftlichen Beziehungen", die alle Märkte strukturieren und bedeutend dafür sind, welche Personen am Marktgeschehen teilnehmen. Wie Isabella Bakker uns erinnert, sind Märkte genauso politische und kulturelle Institutionen, wie sie wirtschaftliche

Institutionen sind. Dieser Einblick ist wichtig, um in Richtung einer globalen

Geschlechterdemokratie zu arbeiten, da die Neuinterpretation von Märkten als politische Strukturen, eingebettet in soziale Beziehungen, beides, die Möglichkeiten und die Zwänge des Marktes für marginalisierte Gruppen, beleuchtet.

Die Integration von Frauen in die Arbeitswelt, trotz der häufig ausbeuterischen Natur der Arbeitsverhältnisse, hat eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit dieser Frauen ermöglicht und läßt zumindest in einem begrenzten Rahmen Zweifel an der "natürlichen"

Dominanz der Männer und der Unterordnung der Frauen aufkommen. Zugleich sind

Märkte, wie andere Institutionen, die durch soziale Beziehungen geleitet werden auch, gut geeignet, die existierenden Ressourcenverteilungen und die sozial konstruierten

Geschlechterordnungen der Arbeitswelt neu zu überdenken.

Dies ist um so mehr gefordert, seit die ökonomische Analyse die genderspezifische hierarchische Dimension zwischen denen, die Geld im produzierenden Gewerbe

verdienen, und denen, die auf die nicht-monetäre, reproduzierende Wirtschaft begrenzt sind, ignoriert. Außer in den nordischen Ländern, wird das Aufziehen von Kindern

größtenteils als Privatsache angesehen und bleibt der Familie überlassen. Beide,

makroökonomische Politik und der Neoliberalismus, setzten die Reproduktionswirtschaft als gegeben voraus.

Lafontaines Ruf nach einem Euro-Keynesianismus oder Paul Krugmans globaler

Keynesianismus bauen auf traditioneller geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung auf, wobei

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die Bedürfnisse der Familie und soziale Belange als Externalitäten betrachtet werden und angenommen wird, daß die Arbeitsbelastung der Frauen unendlich dehnbar ist.

Der neoliberale Umschwung, öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren, unterstellt, daß die Kosten der sozialen Reproduktion wiederum auf die private Sphäre verlagert werden können, das heißt, zu Lasten der Frauen. Doch dem liegen traditionelle

Geschlechtsmuster zugrunde, die durch die wachsende Notwendigkeit der Frauen, Geld zu verdienen, untergraben werden.

Die heutige Realität ist, daß der größte Teil der Frauen weltweit nicht länger im Hause ist.

Sie sind verantwortlich für die Reproduktionswirtschaft, aber sie tragen zu einem großen Teil auch zur produktiven Wirtschaft bei. Es ist offensichtlich, daß die Art, wie wir die Aufgaben der sozialen und menschlichen Entwicklung lösen, Hand in Hand mit Fragen der globalen Nachfrage geht, und nicht traditionellen Ökonomen überlassen werden kann.

Eine Resolution für die Geschlechtergleichheit muß mehr fordern, so Diane Elson, als die Schaffung von Sicherheitsnetzen zur Verhinderung von Armut. "Anstatt die Wunden zu verbinden, nachdem sie zugefügt wurden, sollten sie zu Beginn nicht zugefügt werden."

Brigitte Young ist Professorin im Fachbereich Politische Wissenschaft an der Freien Universität Berlin.

© Jungle World Verlags GmbH

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