Differentialgleichungen f¨ ur Ingenieure WS 06/07
9. Vorlesung Michael Karow
Thema heute: Laplace-Transformation und Anwendungen
Einf¨uhrung:
Die Laplace-Transformation ist ein Hauptwerkzeug der Regelungstheorie.
Mit ihrer Hilfe kann man z.B. linerare DGL mit konstanten Koeffizienten und lineare Integralgleichungen l¨osen.
Die Laplace-Transformation ordnet jeder geeigneten Funktion f : [0,∞) → C eine Funktion F(s) zu, wobei s eine komplexe Zahl ist.
f(t) 7−→L F(s), F(s) =
Z ∞ 0
f(t)e−stdt.
Um die Laplace-Transformation exakt zu definieren, muss man zun¨achst kl¨aren, f¨ur welche f und welche s das Integral existiert.
In dieser VL setzen wir voraus, dass f st¨uckweise stetig und von exponentieller Wachsstumsordnung ist. Dies wird auf den folgenden Seiten genauer erkl¨art.
Funktionen exponentieller Ordnung
Zu einer beliebigen Funktion f : [0,∞) → C und α ∈ R betrachten wir die Bedingung Es gibt eine Konstante C > 0, so dass |f(t)| ≤ C eα t f¨ur alle t ≥ 0. (∗)
Weil |f(t)| ≤ C eα t ⇔ |f(t)|e−α t ≤ C kann man (∗) auch so formulieren Die Funktion 0 ≤ t 7→ |f(t)|e−α t ist beschr¨ankt.
Wenn (∗) f¨ur ein bestimmtes α erf¨ullt ist, dann erst recht f¨ur alle α > α.e
⇒ F¨ur jedes f : [0,∞) → C tritt einer der folgenden F¨alle ein:
1. Es gibt ein αf ∈ R, so dass die Bedingung (∗) f¨ur jedes α > αf erf¨ullt ist, f¨ur jedes α < αf aber nicht.
α f
Bedingung hier nicht erf¨ullt Bedingung hier erf¨ullt
2. Die Bedingung (∗) ist f¨ur jedes α ∈ R erf¨ullt. (Insbesondere f¨ur alle α < 0.) In diesem Fall setzen wir αf := −∞.
3. Die Bedingung (∗) ist f¨ur kein α ∈ R erf¨ullt.
Definition: In den F¨allen 1 und 2 sagen wir, dass f eine Funktion von exponentieller (Wachstums)Ordnung αf ist.
Beispiele f¨ur Funktionen exponentieller Ordnung
1. Sei f : [0,∞) → C eine Funktion, die nur innerhalb eines endlichen Intervalls [a, b] von 0 verschiedene Werte annimmt. Sei f ausserdem beschr¨ankt, d.h.
|f(t)| ≤ m f¨ur t ∈ [a, b]
Dann gilt f¨ur jedes α ∈ R,
|f(t)|e−α t
≤ m e|α|b f¨ur t ∈ [a, b],
= 0 sonst.
Folglich ist t 7→ |f(t)|e−α t f¨ur alle α ∈ R beschr¨ankt.
Somit ist f von exponentieller Wachstumsordnung αf = −∞.
f
R
a b
m
2. Sei s ∈ C und f(t) = p(t)es t, t ∈ [0,∞), mit einem Polynom p. Es ist
|es t| = |e(ℜs+iℑs)t| = |eℜs teiℑs t| = |eℜs t| |eiℑs t|
| {z }
=1
= eℜs t. und daher
|f(t)|e−α t = |p(t)|eℜs te−α t = |p(t)|e(ℜs−α)t
(beschr¨ankt falls α > ℜs unbeschr¨ankt falls α < ℜs Daher ist f von exponentieller Wachstumsordnung αf = ℜs
3. Die Funktion f(t) = et2 ist nicht von exponentieller Ordnung,
denn die Funktion 0 ≤ t 7−→ |f(t)|e−α t = et2−α t ist f¨ur alle α ∈ R unbeschr¨ankt.
St¨uckweise stetige Funktionen
Eine Funktion f : [0,∞) → C heisst st¨uckweise stetig, wenn sie in jedem endlichen Intervall h¨ochstens endlich viele Unstetigkeitsstellen hat.
f
t
C
Definition der Laplace-Transformation
Sei f : [0,∞) → C eine st¨uckweise stetige Funktion von exponentieller Ordnung.
Dann existiert das Integral
F(s) = L[f(t)](s) =
Z ∞ 0
f(t)e−stdt = lim
T→∞
Z T 0
f(t)e−stdt f¨ur alle s ∈ Hf := {s ∈ C; ℜs > αf }. Falls αf = −∞, dann ist Hf = C. Anderenfalls ist Hf die Halbebene rechts von αf.
Die Funktion F : Hf → C heisst die Laplace-Transformierte von f. Die Zuordnung f(t) 7−→L F(s)
heisst Laplace-Transformation.
s
F
Hf
Im
α f Re
F(s)
Re
f
C
t
L
Es gilt stets:
• F ist komplex differenzierbar mit F′(s) = R∞
0 f(t) (−t)e−stdt f¨ur s ∈ Hf.
• F¨ur alle ω ∈ R: limα→∞F(α+ iω) = 0
Berechnung der Laplace-Transformierten von f(t) = eλ t, λ ∈ C Die exponentielle Wachstumsordnung von f(t) = eλ t ist αf = ℜλ.
F¨ur alle s ∈ C mit ℜs > αf = ℜλ hat man
F(s) = L[eλ t](s) =
Z ∞ 0
eλ te−s tdt
=
Z ∞
0
e(λ−s)tdt
= lim
T→∞
Z T
0
e(λ−s)tdt
= lim
T→∞
1
λ − s e(λ−s)t T
0
.
= 1
λ − s lim
T→∞ e(λ−s)T
| {z }
=0, weil ℜ(λ−s)<0
− 1
λ − s e| {z }(λ−s) 0
=1
= 1
s − λ.
Schematisch:
eλ t 7−→L 1 s − λ
Verallgemeinerung des eben gewonnnen Resultats Wir haben eben gesehen, dass
f(t) = eλ t 7−→L F(s) = 1 s − λ. Allgemeiner zeigt man mit partieller Integration, dass
f(t) = tn−1
(n − 1)! eλ t 7−→L F(s) = 1
(s − λ)n, n = 1,2, . . . Setzt man hierin λ = 0, so bekommt man
f(t) = tn−1 (n − 1)!
7−→L F(s) = 1 sn. Speziell f¨ur n = 1 hat man
f(t) ≡ 1 7−→L F(s) = 1 s.
Linearit¨at der Laplace-Transformation
Seien f, g : [0,∞) → C st¨uckweise stetige Funktionen exponentieller Ordnung.
Dann ist auch die Linearkombination
h(t) = c1f(t) + c2g(t) c1, c2 ∈ C,
st¨uckweise stetig und von exponentieller Ordnung (mit αh ≤ max{αf, αg}), und f¨ur die Laplace-Transformierten von f, g, h gilt:
H(s) = c1F(s) + c2G(s), f¨ur s ∈ C mit ℜs > max{αf, αg} Andere Schreibweise f¨ur denselben Sachverhalt:
L[c1f(t) + c2g(t)](s) = c1L[f(t)](s) + c2L[g(t)](s) Begr¨undung:
Dies ist nur eine Kurzschreibweise f¨ur die Identit¨at Z ∞
0
(c1 f(t) + c2g(t))e−s tdt = c1
Z ∞ 0
f(t)e−s tdt + c2
Z ∞ 0
g(t)e−s tdt.
Einfache Anwendung der Linearit¨at:
Berechnung der Laplace-Transformierten von eα tcos(ω t) Man hat f¨ur alle α, ω ∈ R,
eα tcos(ω t) = ℜ
e(α+iω)t
= 1
2 e(α+iω)t + 1
2 e(α−iω)t. Daher ist
L[eα tcos(ω t)](s) = 1
2 L[e(α+iω)t](s) + 1
2 L[e(α−iω)t](s)
= 1 2
1
s − (α + iω) + 1 2
1
s − (α− iω)
= 1 2
s − (α− iω) + s − (α + iω) (s − (α + iω))(s − (α − iω))
= s − α
(s − α)2 + ω2.
Der Verschiebungssatz
Sei fT : [0,∞) → C die Funktion, die man erh¨alt, wenn man die Funktion f : [0,∞) → C um T Einheiten nach rechts verschiebt und die Werte von fT im Intervall [0, T) Null setzt:
fT(t) :=
(0 falls 0 ≤ t < T, f(t− T) falls T ≤ t.
f fT
T
C C
Verschiebung
Es gilt:
L[fT(t)](s) = e−sT L[f(t)](s).
Eine einfache Anwendung des Verschiebungssatzes
Wir berechnen die Laplace-Transformierte der Funktion g(t) :=
1 f¨ur T1 ≤ t < T2
0 sonst
mit Hilfe der Laplace-Transformierten F(s) = 1/s der konstanten Funktion f(t) ≡ 1 und des Verschiebungssatzes:
C
T
T1 T2 1 T2 T1 T2
1 1
1
f fT
g 2
C C
T1
Es ist g(t) = fT1(t) − fT2(t). Daraus folgt f¨ur die Laplace-Transformierte von g: G(s) = L[fT1(t)](s) − L[fT2(t)](s)
= e−sT1 1
s − e−sT2 1 s
= 1
s e−sT1 − e−sT2 .
Die Umkehrung der Laplace-Transfomation:
Sei f : [0,∞) → C st¨uckweise stetig mit exponentieller Wachstumsordnung αf < ∞ und Laplace-Transformierter
F(s) =
Z ∞ 0
f(t)e−stdt, ℜs > α.
Dann gilt f¨ur alle α > αf und alle Stetigkeitsstellen t von f, f(t) =
Z α+i∞ α−i∞
F(s)estds = lim
Ω→∞
Z Ω
−Ω
F(α+ i ω)e(α+i ω)tdω.
Folgerung:
Haben zwei Funktionen f1, f2 : [0,∞) → C dieselbe Laplace-Transformierte F, dann stimmen sie an allen Stetigkeitsstellen ¨uberein.
Die Ableitungsregel:
Sei f : [0,∞) → C eine n-mal differenzierbare Funktion exponentieller Ordnung.
Dann sind auch alle niedrigeren Ableitungen von f exponentieller Ordnung, und es gilt (siehe Skript):
L[f(n)(t)](s) = snL[f(t)](s) − f(0)sn−1 − f˙(0)sn−2 − . . . − f(n−2)(0)s − f(n−1)(0).
Speziell gilt f¨ur die ersten 3 Ableitungen:
L[ ˙f(t)](s) = sL[f(t)](s)− f(0)
L[ ¨f(t)](s) = s2 L[f(t)](s)− s f(0)− f˙(0).
L[f(3)(t)](s) = s3 L[f(t)](s)− s2f(0)− sf˙(0) − f¨(0). Die Integrationsregel:
Sei f : [0,∞) → C eine st¨uckweise stetige Funktion exponentieller Ordnung.
Dann ist die Stammfunktion
t 7−→
Z t 0
f(τ)dτ, t ≥ 0 stetig und ebenfalls von exponentieller Ordnung. Es gilt
L
Z t
0
f(τ)dτ
(s) = 1
s L[f(t)](s).
Der Faltungssatz:
Die Faltung zweier Funktionen f, g : [0,∞) → C ist eine Funktion f ∗ g : [0,∞) → C, die wie folgt definiert ist:
(f ∗ g)(t) = Z t
0
f(t − τ)g(τ)dτ,
vorausgesetzt, das Integral existiert. Die Faltung ist kommutativ, d.h.
(f ∗ g)(t) = (g ∗ f)(t) = Z t
0
g(t − τ)f(τ)dτ,
F¨ur die Laplace-Transformation von Faltungen gilt:
L[(f ∗ g)(t)](s) = F(s)G(s), wobei F, G die Laplace-Transformierten von f und g sind.
In Worten: Die Laplace-Transformierte der Faltung von f und g ist das Produkt der Lapace-Transformierten von f und g. (Beweis siehe Skript)
Bemerkung: F¨ur Funktionen, die auf ganz R definiert sind, f, g : R → C, betrachtet man in anderen Zusammenh¨angen als hier die zweiseitige Faltung
(f ∗ g)(t) =
Z ∞
−∞
f(t− τ)g(τ)dτ.
L¨osung von Aufgaben mittels Laplace-Transformation
Problem im Originalbereich:
Finde Funktion y(t), die bestimmte Bedingungen erf¨ullt.
Z.B.: Lineares AWP mit konstanten Koeffizienten
Transformiertes Problem im Bildbereich
f¨ur Y (s) = L[y(t)](s).
Z.B. algebraische Gleichung
L¨osung Y (s) des trans- formierten Problems
L¨osung y(t) des Originalproblems
L-Transformation L−1-Transformation (R¨ucktransformation)
?
6
l¨osen -
l¨osen (direkt) -
Erinnerung: Partialbruchzerlegung
Sei p(t) = antn + an−1 tn−1 + . . .+ a1t + a0 ein Polynom mit den Nullstellen λ1, λ2, . . . , λr und den Vielfachheiten k1, k2, . . . , kr. Dann ist
p(s) = an(s − λ1)k1(s − λ2)k2 . . .(s − λr)kr.
Sei q(s) ein weiteres Polynom mit Grad(q) < Grad(p). Dann ist die rationale Funk- tion q(s)/p(s) eine Linearkombination der Partialbr¨uche 1/(s − λj)ℓ, ℓ = 1, . . . , kj − 1. Genauer:
p(s) q(s) =
Xr
j=1
Aj,1
s − λj
+ . . . + Aj,kj−1
(s − λj)kj−1 + Aj,kj (s − λj)kj
(∗) mit
Aj,ℓ = q(kj−ℓ)(λj) (kj − ℓ)! hj
, hj = an(λj − λ1)k1 . . .(λj − λj−1)kj−1(λj − λj+1)kj+1 . . .(λj − λkr)kr. Die Funktion 1/(s − λj)ℓ ist die L-Transformierte von (ℓ−1)!tℓ−1 eλjt.
Wegen Linearit¨at folgt f¨ur die rationale Funktion (∗):
f(t) =
Xr
j=1
Aj,1 + . . . + Aj,kj−1
(kj − 2)! tkj−2 + Aj,kj
(kj − 1)! tkj−1
eλjt
↓ L F(s) =
Xr
j=1
Aj,1
s − λj
+ . . . + Aj,kj−1
(s − λj)kj−1 + Aj,kj (s − λj)kj
Anwendung der Laplace-Transformation zur L¨osung einer linearen DGL (Beispiel aus dem Skript)
Anfangswertproblem:
y(t)¨ − 6 ˙y(t) + 9y(t) = t y(0) = 0, y(0) = 1.˙
Laplace-Transformation des AWP:
(s2Y (s) − s y(0) − y(0)) + 6 (s Y˙ (s) − y(0)) + 9Y (s) = 1 s2. Einsetzen der Anfangswerte und Aufl¨osen nach Y liefert:
Y (s) = 1 + s2
s2(s2 − 6s + 9)
= 1 + s2 s2(s − 3)2
= 2/27
s + 1/9
s2 + −2/27
s − 3 + 10/9 (s − 3)2
R¨ucktransformation ergibt:
y(t) = 2
27 + 1
9 t − 2
27 e3t + 10
9 t e3t.
Anwendung der Laplace-Transformation zur L¨osung einer Integralgleichung (Beispiel aus dem gelben Rechenbuch)
Problem (Integralgleichung): Finde y(t), so dass Z t
0
sin(t− τ)y(τ)dτ = t sin(t).
Der Faltungssatz ergibt f¨ur die L-transformierte Gleichung:
L[sin(t)](s)
| {z }
=1/(1+s2)
Y (s) = L[t sin(t)](s)
| {z }
=2s/(s2+1)2
.
Umstellen nach Y ergibt:
Y (s) = 2s
s2 + 1 = 2L[cos(t)](s).
Also ist
y(t) = 2 cos(t).
Die ¨Ubertragungsfunktion
In der letzten VL wurde bereits erw¨ahnt, dass die allgemeine L¨osung der DGL p
d dt
y(t) = any(n) + an−1 y(n−1) + . . . + a1y(t) +˙ a0 y(t) = b(t). (∗) folgendermaßen geschrieben werden kann:
y(t) = yh(t) + Z t
0
g(t− τ)b(τ)dτ (∗∗)
Dabei ist yh die allgemeine L¨osung der homogenen Gleichung. Die Funktion g heisst Greensche Funktion, Grundl¨osung, Gewichtsfunktion oder Impulsantwort.
g ist L¨osung des AWP p
d dt
g(t) = 0, g(0) = ˙g(0) = . . . = g(n−2)(0) = 0, g(n−1)(0) = 1/an.
Folgende grundlegende Tatsache kann zur Berechnung von g benutzt werden:
Die Impulsantwort g ist die R¨ucktransformierte von G(s) = 1/p(s).
Symbolisch:
G ( s ) := 1 p(s)
L−1
7−→ g ( t ) .
Die Funktion G(s) heisst Ubertragungsfunktion.¨
Die Laplace-Transformierte der Dirac’schen δ-Funktion Sei wk : [0,∞) → [0,∞) eine Dirac-Folge.
Dann gilt f¨ur jede stetige Funktion f : [0,∞) → C:
k→∞lim Z ∞
0
wk(t)f(t)dt = f(0).
Allgemeiner f¨ur T ≥ 0:
k→∞lim Z ∞
0
wk(t − T)f(t)dt = f(T). Insbesondere
k→∞lim L[wk(t)](s) = lim
k→∞
Z ∞ 0
wk(t)e−stdt = e−s0 = 1, und
k→∞lim L[wk(t − T)](s) = lim
k→∞
Z ∞
0
wk(t− T)e−stdt = e−sT.
Daher definiert man als Laplace-Transformierte der Dirac’schen δ-Funktion L[δ(t)](s) := 1
und
L[δ(t− T)](s) := e−sT.