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205Bittner, Andreas:Starke ›schwache‹ Verben – ›schwache‹starke Verben. Deutsche Verbflexionund Natürlichkeit

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Bittner, Andreas:

Starke ›schwache‹ Verben – ›schwache‹

starke Verben. Deutsche Verbflexion und Natürlichkeit. Tübingen: Stauffen- burg, 1996 (Studien zur deutschen Gram- matik 51). – ISBN 3-86057-441-8. XIV, 224 Seiten, DM 68,–

(Jörg Riecke, Gießen)

Die Untersuchung ist aus einer bereits im Jahre 1988 am Berliner Zentralinstitut für Sprachwissenschaft der Akademie der Wissenschaften verteidigten Dissertation hervorgegangen. Die seitdem stetig ange- wachsene Literatur zu Fragestellungen aus dem Umkreis der »Natürlichen Mor- phologie« und der deutschen Verbalflexi- on konnte infolge der verspäteten Druck- legung noch weitgehend eingearbeitet werden. So ist schließlich eine umfassen- de und anregende Studie entstanden, die sicherlich nicht ohne Wirkung auf die weitere Forschung bleiben wird.

Während in den grammatischen Stan- dardwerken des Deutschen vielfach ge- rade am Beispiel der Verbalflexion die vermeintliche Zufälligkeit des Aufbaus einzelsprachlicher morphologischer Sy- steme demonstriert werden soll, führen Bittners Überlegungen in die genau ent- gegengesetzte Richtung. An den Beginn seiner Untersuchung stellt er nämlich die These, daß die verschiedenen Flexi- onsparadigmen und -klassen einer Spra- che nicht das Resultat zufälliger einzel- sprachlicher Entwicklungen seien, son- dern daß ihnen vielmehr universelle Natürlichkeitsprinzipien zu Grunde lä- gen. Bezogen auf das deutsche Verbalsy- stem erörtert Bittner zahlreiche Fragen, wie etwa die nach der Motiviertheit morphologischer Formen, nach der Pro- duktivität und Regularität morphologi- scher Prozesse und nach den generellen Prinzipien, die den Aufbau, die Verän- derung und die Systemhaftigkeit von Flexionsklassen und -paradigmen moti-

vieren. Dazu werden die bekannten Fak- ten der deutschen Verbalflexion mit Hil- fe des Instrumentariums der »Natürli- chen Morphologie« noch einmal neu interpretiert und aufeinander bezogen.

Zugleich wird der Versuch unternom- men, das theoretische Konzept, das be- reits neue Einsichten in die Bedingungen sprachlichen Wandels ermöglicht hat, nun auch mit den Fakten der histori- schen Entwicklung der deutschen Ver- balflexion zu konfrontieren. Zu diesem doppelten Zweck werden in vier Haupt- kapiteln die theoretischen Grundlagen des Natürlichkeitskonzepts, die flexions- morphologischen Befunde des neuhoch- deutschen Verbalsystems und seiner Vorstufen sowie diejenigen Paradigmen- strukturbedingungen vorgestellt, die dem erneuten Klassifikationsversuch zu Grunde liegen. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse und ein kurzer Ausblick auf die Bedeutung von Spracherwerbs- daten im Rahmen eines natürlichkeits- theoretisch orientierten Sprachwandel- konzepts schließen die Studie ab.

Das vor allem von W. Mayerthaler und W. U. Wurzel auf den Weg gebrachte Konzept der sogenannten »Morphologi- schen Natürlichkeit« beruht auf der An- nahme, daß bei der sprachlichen Erfas- sung der Welt zwischen Dingen unter- schieden wird, die »näher« und solchen, die »ferner liegen«. Das, was näher liegt, also das eigentlich Selbstverständliche, sei konzeptuell weniger markiert. In diesem Sinne werden Kategorien wie

»Singular«, »maskulines Genus«, »Indi- kativ« oder »Präsens« als weniger mar- kiert betrachtet als ihre Gegenüber »Plu- ral«, »feminines Genus«, »Konjunktiv«

oder »Präteritum«. Haben sich in einer Einzelsprache aus Gründen, die nicht morphologischer Natur sind, zwei ver- schiedene Paradigmen zur Bezeichnung einer grammatischen Kategorie heraus- gebildet, so soll sich dasjenige durchset-

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zen, das der Dichotomie von Markiert- heit und Unmarkiertheit am deutlich- sten entspreche. Semantisch stärker mar- kierte Kategorien tendieren zu merkmal- hafter, weniger markierte zu merkmallo- ser morphologischer Symbolisierung.

Unter den als markiert geltenden For- men sollten sich folglich jeweils diejeni- gen durchsetzen, deren Markiertheit deutlicher ist. Im Falle des Nebeneinan- ders von konkurrierenden Paradigmen wie der starken und schwachen Verbal- flexion im Deutschen scheint das Präte- ritum der schwachen Verben durch die regelmäßige Anfügung des Präterital- kennzeichens -t durchsichtiger und in diesem Sinne »normaler« zu sein als das Präteritum der starken Verben mit seiner vielfältig gegliederten Modifikation des Stammvokals. Es ist deutlicher markiert und damit systemangemessener (Meine- ke 1989, Riecke 1994).

Auf dieser Grundlage kann Bittner zei- gen, daß die verschiedenen Teilflexions- klassen des Deutschen nun nicht nur im Hinblick auf die Kategorien Präsens und Präteritum, sondern auch für sich ge- nommen wieder einen unterschiedlichen Markiertheitsstatus repräsentieren. Als Ganzes sind nämlich die schwachen Ver- ben in diesem Sinne unmarkiert, weil ihre Flexion die normale, prototypische Flexi- on im deutschen Verbalsystem darstellt.

Die schwachen Verben dokumentieren folglich als stabile Klasse die unmarkierte Bildeweise, die die systemdefinierenden Struktureigenschaften konstituiert, also maximal systemangemessen ist. Sie ist uniform, transparent und konstitutionell ikonisch. Die Markiertheit der anderen Teilklassen beruht auf der jeweiligen Abweichung von der »normalen«, proto- typischen Form. Dabei stehen nach Bitt- ner den ca. 4000 schwachen neuhoch- deutschen Verben etwa 200 »nichtschwa- che« Verben gegenüber. Die zu beschrei- bende Veränderung – und das ist

allgemein bekannt – vollzieht sich von

»nichtschwach« zu schwach (199). In der Sprache der Theorie basieren diese Über- gänge von »nichtschwach« zu schwach bei einer generellen Veränderungsten- denz von markiert zu weniger markiert bzw. unmarkiert auf der Ersetzung der markierten durch unmarkierte oder we- niger markierte Flexionsformen. Dabei wird störende morphologische Komple- xität abgebaut.

Bittner kommt im Verlauf seiner Untersu- chung über den Bereich stimmiger An- nahmen aus dem Innenraum einer kom- plexen Theorie weit hinaus. Eine Analyse des neuhochdeutschen Verbbestandes er- gibt auf der Basis aller auftretenden Flexionsformen – unter Ausklammerung der Modalverben, die eine gesonderte Gruppe bilden – lediglich fünf Kombina- tionstypen, die von der schwachen Bilde- weise abweichen:

1. Die »prototypischen« starken Verben des Typs nehmen – nimm – nimmst/nimmt – nahm – nähme – genommen (29 Verben).

2. Die starken Verben des Typs fahren mit schwachen Imperativformen. Zu dieser Gruppe werden auch sein und werden gezählt (21). 3. Die starken Verben des Typs beißen, bei denen die starken Impe- rativformen und der Vokalwechsel im Singular Präsens abgebaut wurden (109). 4. Die Verben des Typs brennen – brannte mit Ablaut und Dentalpräter- itum (9). 5. Die Verben dingen, schinden und schleißen, die Übergangsstationen auf dem Weg von stark zu schwach zeigen. Als 6. Gruppe die »prototypi- schen« schwachen Verben des Typs sagen – sagte – gesagt einschließlich der ehe- mals starken und erst im Verlauf der Sprachentwicklung schwach geworde- nen Verben (84–104).

Das dieser Gliederung zu Grunde liegen- de Implikationsmuster regelt die Flexi- onsklassenzuordnung der Verben und macht die den Flexionsklassenwechsel

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steuernden Vorgänge durchsichtig. Das Implikationsmuster selbst basiert wie- derum auf vier Paradigmenstrukturbe- dingungen, die das zentrale universelle Organisationsprinzip flexionsmorpholo- gischen Wissens erfassen. Sie werden in formelhafter Schreibung geboten und be- ziehen sich auf die allgemeinen Merkma- le ›nhd. Verb‹, ›schwach‹, ›Modalverb‹

und ›stark‹ (180).

Da es sich bei dem Natürlichkeitsmodell um ein Sprachwandelkonzept handelt, ist es nur folgerichtig, daß Bittner seiner Analyse ein umfangreiches Kapitel über die »diachrone Entwicklung des deut- schen Verbsystems« hinzufügt (113–174).

Auch diese Untersuchung ist sorgfältig, reich an Einsichten und repräsentiert, was die Fakten anbelangt, durchaus den Stand der gängigen Handbücher, Gram- matiken und Wörterbücher. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Umgang mit sprachhistorischen Da- ten, die nicht unmittelbar aus den Texten selbst geschöpft werden, zumindest beim derzeitigen Stand der Forschung proble- matisch ist. Die Angaben der Grammati- ken können nicht zu vergleichbar verläß- lichen Schlußfolgerungen führen, wie das in Anbetracht der vorhandenen Sprachkompetenz bei der Analyse der deutschen Gegenwartssprache der Fall ist. Eher zeigt Bittners Darstellung, daß derartige historische Untersuchungen dringend erforderlich sind. Wo solche Einzeluntersuchungen bereits vorlagen oder erst nach der Drucklegung noch erschienen sind, so daß sie dem Autor noch nicht zugänglich waren, ergibt sich jetzt gelegentlich ein etwas differenzier- teres Bild.

Die wiederholt getroffene Feststellung etwa, daß Flexionsklassenwechsel erst nach der (beginnenden) phonetischen Neutralisation der unbetonten Endsil- benvokale der schwachen Verben in spät- althochdeutscher Zeit erfolgen (16), ist in

dieser Ausschließlichkeit nicht zutref- fend. Dem steht der Übergang der ehe- mals reduplizierenden verba pura des Germanischen zur schwachen Flexion entgegen (Matzel 1990), wie auch die nicht gerade seltenen Einzelbeispiele für Flexionsklassenschwankungen im Alt- hochdeutschen (Riecke 1994). Diese Bei- spiele wirken sich auch auf die Beurtei- lung der j-Präsentien aus, die ein Tor für den Übergang von stark zu schwach eröffnet haben. Dies wird zwar auch von Bittner vermutet (131), aber zugleich wieder verworfen. Die einschlägigen Fäl- le sind ihm jedoch nur deshalb entgan- gen, weil allein die aus den Grammatiken entnommenen Beispiele für den Flexions- klassenwechsel, nicht aber die den Texten zu entnehmenden Hinweise auf Flexi- onsklassenschwankungen berücksichtigt werden (Matzel 1989, Riecke 1994). Des weiteren wäre vorab zu klären, welche primären Verben mit welcher Lautstruk- tur überhaupt in das System der starken Verben eingegliedert wurden und welche nicht. – Zu den gotischen -nan-Verben sollte die Arbeit von Jansen (1988) heran- gezogen werden. Die Behandlung der - nan-Verben (123–126) wirft zudem ein Licht auf Bittners Vorstellungen von der semantischen Funktion der germani- schen Verbalsuffixe. Ohne Diskussion wird eine Entwicklung vorausgesetzt, die von einer diffusen »semantischen Moti- vation« über eine »Desemantisierung«

zur »Grammatikalisierung« führt (121f.).

Dabei bleibt unberücksichtigt, daß es sich bei den Verbalsuffixen mit größerer Wahrscheinlichkeit um aktionelle Einhei- ten handelt, die erst nach einem Über- gang von einem Aspekt- zum späteren Tempussystem funktionslos geworden waren. Diese Einwände stehen nicht ei- gentlich im Widerspruch zu Bittners Er- gebnissen, teilweise, wie im Falle der j- Präsentien, stützen sie sie sogar. Sie zeigen aber, daß die Zusammenhänge

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zumindest in der älteren Zeit vielfach noch sehr viel komplexer sind, als in der Untersuchung vorausgesetzt wurde.

Gewissermaßen als Fazit seiner Interpre- tation der historischen Entwicklung hält Bittner »eine generelle Tendenz des Übergangs von ›nichtschwach‹ zu

›schwach‹ für prognostizierbar«. Dieser Tendenz könnten sich wohl letztlich nicht einmal die ›nichtschwachen‹ Ver- ben der Suppletivdomäne entziehen (210). Zwar setzten die unterschiedli- chen strukturellen Bedingungen der ein- zelnen Verben dem Übergang unter- schiedlich starken Widerstand entgegen, doch bleibe letztlich das Fazit: »[…] und (fast) alle werden ›schwach‹« (210). Daß die Übergänge fließend sind, konnte auch der Rezensent erfahren, als er während der Lektüre des zu besprechen- den Werkes, durch sein Telephon aufge- schreckt, dem erstaunten Gegenüber verkündete, »ich habe gestern auch schon bei dir angeruft«. Und dennoch, für einen Autor wie Bittner, der etwa eingangs des historischen Kapitels Jorge Louis Borges zitiert, scheint mir diese Haltung zu optimistisch, zu sehr eine Folge des theoretischen Vorverständnis- ses zu sein. Das Gewicht der sprachli- chen Norm wird so möglicherweise un- terschätzt, wie überhaupt die Überle- gungen Coserius zur Aufhellung von Sprachwandelprozessen zu wenig be- rücksichtigt scheinen. Vielleicht müßte als bewahrendes Moment auch noch stärker das generelle Phänomen der bi- polaren Gliederung unserer Welt be- dacht werden, die ja alle Bereiche unse- res Lebens – von »gerade« und »ungera- de«, »rechts« und »links«, »männlich«

und »weiblich« bis zu »Yin« und »Yang«

– durchzieht. Solche Oppositionen schei- nen sich auch auf der Ebene der Sprache in aufeinander bezogenen Gegensätzen

zu spiegeln wie etwa in »Aktiv« und

»Passiv«, »perfektivem Aspekt« und

»imperfektivem Aspekt«, »maskulinem«

und »femininem« Genus, »starken« und

»schwachen« Substantiven oder Adjekti- ven und eben auch in der »starken« und

»schwachen« Verbalflexion.

Nur einige der wesentlichen Aspekte des inhaltsreichen Bandes konnten hier angesprochen werden. Notwendiger- weise auch solche, bei denen der Rezen- sent eine andere Auffassung vertritt. Es sollte aber deutlich geworden sein, daß der Band für jeden an Sprachwandel und Morphologie interessierten Leser eine lohnende Lektüre zu werden ver- spricht.

Literatur

Jansen, Olaf: »Zur Funktion der gotischen -nan-Verben«. In: Askedal, John Ole; Fa- bricius-Hansen, Catherine; Schöndorf, Kurt Erich (Hrsg.): Gedenkschrift für In- gerid Dal. Tübingen 1988, 54–62.

Matzel, Klaus: »Urgerm. *arjan, ahd. erien, erren ›pflügen‹«. In: Tauber, Walter (Hrsg.): Aspekte der Germanistik. Festschrift für Hans-Friedrich Rosenfeld zum 90. Ge- burtstag. Göppinger Arbeiten zur Germa- nistik Nr. 521. Göppingen 1989, 455–468.

Matzel, Klaus: »Zu den verba pura des Germanischen«, I. Teil. In: Klaus Matzel, Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rosema- rie Lühr, Jörg Riecke, Christiane Thim- Mabrey unter Mitarbeit von Brigitte Dan- gelat, Rupert Hochholzer, Gabriele Knott-Janev, Craig Mabrey, Hans-Ulrich Schmid, Gerd Zipp, mit einem Geleitwort von Jean Marie Zemb. Heidelberg 1990 (Germanische Bibliothek, NF. 3. Reihe:

Untersuchungen), 10–67.

Meineke, Eckhard: »›Natürlichkeit‹ und

›Ökonomie‹. Neuere Auffassungen des Sprachwandels«, Sprachwissenschaft 14 (1989), 318–356.

Riecke, Jörg: »Einige Anmerkungen zum Problem des Flexionsklassenwechsels bei deutschen Verben«, Brünner Beiträge zur Germanistik und Nordistik IX (1994), 39–60.

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