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Besprechung des Urteils des Bundesgerichts 4A_68/2014 vom 16. Juni 2014 (zur Publikation vorgesehen)

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Die materielle Abweisung eines Gesuchs um Rechtsschutz in klaren Fällen

Besprechung des Urteils des Bundesgerichts 4A_68/2014 vom 16. Juni 2014 (zur Publikation vorgesehen)

In ihrem zur Publikation vorgesehenen Urteil 4A_68/2014 erhielt die I. zivil- rechtliche Abteilung des Bundesgerichts erstmals Gelegenheit, sich zur in der Lehre wohl umstrittensten Frage in Zusammenhang mit Art. 257 ZPO zu äus- sern, nämlich zur Frage, ob ein Gesuch um Rechtsschutz in klaren Fällen mate- riell abgewiesen werden kann. Das Bundesgericht verneinte dies aufgrund ei- ner grammatikalischen und historischen Auslegung von Art. 257 ZPO. Nach- folgend soll gezeigt werden, weshalb diesem Entscheid nicht gefolgt werden kann.

Beitragsarten: Urteilsbesprechungen Rechtsgebiete: Zivilprozessrecht

Zitiervorschlag: Andreas Baeckert, Die materielle Abweisung eines Gesuchs um Rechtsschutz in klaren Fällen, in: Jusletter 8. September 2014

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Inhaltsübersicht

I. Prozessgeschichte II. Fragestellung III. Entscheidung IV. Kommentar

1. Grammatikalische Auslegung 2. Historische Auslegung 3. Systematische Auslegung 4. Teleologische Auslegung 5. Fazit

I. Prozessgeschichte

[Rz 1] C (Beschwerdegegner) hat mit Mietvertrag vom 5. Mai 2008 bei A und B (Beschwerde- führer) eine 3-Zimmer-Wohnung gemietet. Der Bruttomietzins für die Wohnung betrug CHF 1’500.— pro Monat. Mindestens seit August 2012 wohnte auch D, die Freundin von C, in der Mietwohnung1.

[Rz 2] Bei der Bezahlung der Mietzinse für die Monate November und Dezember 2012 kam es zu Verzögerungen. Am 27. November 2012 ersuchte C die Vermieter um Zusendung einer Kopie des Mietvertrages, welche er einreichen musste, um die Blockierung der Auszahlung der Miet- zinse durch die Arbeitslosenkasse aufzuheben2. Am 3. Dezember 2012 forderten die Vermieter die Zahlung der offenen Mietzinse im Umfang von CHF 3’000.— innert 30 Tagen und drohten andernfalls die Kündigung an. In der Folge überwies die zuständigeDirection des Affaires sociales et familialesverschiedene Beträge an die Vermieter:

• Am 13. Dezember 2012 überwies sie im Namen von D dreimal einen Betrag von CHF 750.—

mit Verweis auf die Mietzinse der Monate August, September und Oktober 2012. Die Vermie- ter verweigerten die Annahme dieser Zahlungen mit der Begründung, dass D nicht Schuld- nerin der Mietzinse sei, und überwiesen die Beträge am 15. Januar 2013 zurück.

• Am 18. Dezember überwies dieDirection des Affaires sociales et familialeszusätzlich im Namen von C Beträge in Höhe CHF 1’500.— und CHF 750.— an die Vermieter mit Verweis auf die Mietzinse der Monate November und Dezember 20123.

[Rz 3] Am 16. Januar 2013 kündigten die Vermieter das Mietverhältnis erstmals mit Wirkung per 31. März 2013 mit der Begründung, dass der Mietzins für den Monat Dezember 2012 nicht vollständig innert der angesetzten Frist bezahlt worden sei. Diese Kündigung wurde von der zuständigen Mietschlichtungsstelle für nichtig erklärt. Am 28. Mai 2013 kündigten die Vermieter das Mietverhältnis erneut mit derselben Begründung und mit Wirkung per 31. Juli 2013. Diese Kündigung wurde vom Mieter am 17. Juni 2013 vor der Mietschlichtungsstelle angefochten4. [Rz 4] Am 14. August 2013 verlangten die Vermieter beim zuständigen Gericht mittels eines Ge- suchs um Rechtsschutz in klaren Fällen die Ausweisung des Mieters aus der Mietwohnung. Nach- dem das erstinstanzliche Gericht das Gesuch gutgeheissen hatte, hob die Beschwerdeinstanz den

1 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014, zur Publikation vorgesehen, Sachverhaltserwägung A.

2 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 Sachverhaltserwägung B.a.

3 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 Sachverhaltserwägung B.b.

4 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 Sachverhaltserwägung B.b.

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Entscheid auf und trat auf das Ausweisungsgesuch nicht ein5. Die Vermieter gelangten darauf- hin ans Bundesgericht und verlangten die Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids und die Gutheissung ihres Ausweisungsgesuchs. Der Mieter schloss auf Abweisung der Beschwerde6.

II. Fragestellung

[Rz 5] Das Bundesgericht hatte einen der seltenen Fälle zu entscheiden, in denen der Gegner eines Gesuchs um Rechtsschutz in klaren Fällen mittels sofort verfügbarer Beweismittel nach- weisen konnte, dass der eingeklagte Anspruch nicht besteht und insofern klare Verhältnisse ge- geben waren. In der Lehre ist es höchst umstritten, ob in solchen Ausnahmefällen ein Gesuch um Rechtsschutz in klaren Fällen abgewiesen werden kann oder ob auch in solchen Fällen ein Nichteintretensentscheid zu fällen ist7. Das Bundesgericht hatte somit die Möglichkeit, zu die- sem Lehrstreit Stellung zu nehmen.

III. Entscheidung

[Rz 6] Das Bundesgericht verwirft zunächst die Behauptungen der Beschwerdeführer, dass der Mietzins für den Monat Dezember 2012 nicht innert Frist vollständig bezahlt worden sei. Einer- seits haben die Vermieter erkennen müssen, dass die Zahlungen vom 13. Dezember 2012 trotz des falschen Vermerks für die Mietzinse der Monate November und Dezember 2012 bestimmt waren.

Andererseits war der Mieter nicht verpflichtet, seine Zahlungsverpflichtungen persönlich zu er- füllen (Art. 68 des Obligationenrechts [OR]). Vielmehr haben die Vermieter auch die Zahlungen im Namen der Freundin des Mieters, von der sie wussten, dass sie ebenfalls in der Mietwohnung lebte, zu akzeptieren. Es war deshalb klarerweise erwiesen, dass die Mietzinse für die Monate November und Dezember 2012 rechtzeitig bezahlt wurden und dass das Ausweisungsgesuch der Vermieter unbegründet war8.

[Rz 7] Umso interessanter sind die nachfolgenden Erwägungen des Bundesgerichts, in welchen es sich mit der materiellen Abweisung eines Gesuchs um Rechtsschutz in klaren Fällen auseinander- setzt. Nach einer Feststellung, dass die Frage in der Lehre äusserst kontrovers diskutiert wird9, nimmt es eine eigene Auslegung von Art. 257 der Zivilprozessordnung (ZPO) zur Beantwortung dieser Streitfrage vor.

[Rz 8] Im Rahmen einer grammatikalischen Auslegung stellt das Bundesgericht zunächst fest, dass der Wortlaut von Art. 257 ZPO keine klare Antwort gibt. Während die deutsche Fassung der Norm nach Ansicht des Bundesgerichts gegen eine materielle Abweisung spricht, seien die fran- zösische und die italienische Fassung offener formuliert10. Entsprechend zog das Bundesgericht weitere Auslegungsmethoden hinzu, wobei es sich auf eine historische Auslegung beschränkte,

5 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 Sachverhaltserwägung B.c.

6 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 Sachverhaltserwägung C.

7 Vgl. die Übersicht in Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.1.

8 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 2ff. 9 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.1.

10 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

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da aus einer systematischen und teleologischen Auslegung nichts abgeleitet werden könne11. [Rz 9] Im Rahmen der historischen Auslegung verweist das Bundesgericht zunächst auf den Be- richt der Expertenkommission zum Vorentwurf der ZPO. Demnach sollte eine materielle Abwei- sung möglich sein, wenn der geltend gemachte Anspruch klar nicht besteht (z.B. wenn der Ge- suchsgegner eine Quittung für die fragliche Zahlung vorweisen kann). Das Bundesgericht führt weiter aus, dass diese Regelung in der Vernehmlassung kritisiert wurde, was vom Gesetzgeber in der Botschaft entsprechend aufgenommen wurde. Aufgrund einer Passage in der Botschaft («Le rejet de la requête avec autorité matérielle de chose jugée aurait constitué une conséquence inéquitable, ce qui a été signalé à juste titre lors de la procédure de consultation») kommt das Bundesgericht schliesslich zum Schluss, dass der Gesetzgeber beabsichtigte, dass ein Gesuch um Rechtsschutz in klaren Fällen nicht materiell abgewiesen werden könne. Die andere in der Lehre vertretene Leseart dieser Passage wird vom Bundesgericht hingegen verworfen12.

[Rz 10] Aufgrund des historischen Auslegungsergebnisses und dem deutschen Wortlaut von Art.

257 ZPO kommt das Bundesgericht schliesslich zum Ergebnis, dass ein Gesuch um Rechtsschutz in klaren Fällen nicht materiell abgewiesen werden kann13.

IV. Kommentar

[Rz 11] Während es zu begrüssen ist, dass das Bundesgericht seine Chance genutzt hat, sich in einem obiter dictum zur in der Lehre umstrittenen Frage zu äussern, kann dem Entscheid des Bundesgerichts im Ergebnis nicht gefolgt werden. Das Bundesgericht stützt sich auf eine unvoll- ständige Auslegung von Art. 257 ZPO und lässt fundamentale Prinzipien des Zivilprozessrechtes ausser Acht. Wie die nachfolgende Auseinandersetzung mit den Argumenten des Bundesgerichts und eigene Auslegung von Art. 257 ZPO zeigen sollen, muss eine materielle Abweisung auch im Rahmen von Art. 257 ZPO möglich sein14.

1. Grammatikalische Auslegung

[Rz 12] Wie das Bundesgericht richtig festhält, bildet der Wortlaut einer Norm Ausgangspunkt jeder Auslegung15. Der in Frage stehende Abs. 3 von Art. 257 ZPO hat in der deutschen Fas- sung folgenden Wortlaut: «Kann dieser Rechtsschutz nicht gewährt werden, so tritt das Gericht auf das Gesuch nicht ein». Nach Auffassung des Bundesgerichts spricht dieser Wortlaut gegen eine materielle Abweisung16. Es versteht dabei das Wort «gewährt» anscheinend so, dass dies nur zugunsten des Gesuchstellers möglich ist. Richtigerweise ist Abs. 3 jedoch zusammen mit Art.

257 Abs. 1 ZPO zu lesen. Demnach «gewährt» das Gericht Rechtsschutz in klaren Fällen, wenn (a) der Sachverhalt unbestritten oder sofort beweisbar ist und (b) die Rechtslage klar ist. Eine Einschränkung, dass Rechtsschutz in klaren Fällen nur «gewährt» werden kann, wenn die kla-

11 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

12 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

13 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.3.

14 Vgl. dazu bereitsAndreas Baeckert, Der Rechtsschutz in klaren Fällen — ausgewählte Fragen, ZZZ 2013, 140 f.

15 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.1.

16 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

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re Sach- und Rechtslage für den Gesuchsteller sprechen, ergibt sich aus diesem Wortlaut gerade nicht. Ein Nichteintreten gemäss Abs. 3 ist vielmehr nur angezeigt, wenn die Voraussetzungen gemäss Abs. 1, also die klare Sach- und Rechtslage, nicht gegeben sind17. In der französischen und italienischen Fassung von Art. 257 Abs. 3 ZPO kommt dies noch besser zum Ausdruck («Le tribunal n’entre pas en matière sur la requête lorsque cette procédure ne peut pas être appliquée»,

«Se non sono date le condizioni per ottenere la tutela giurisdizionale in procedura sommaria, il giudice non entra nel merito»)18. Entgegen der Ansicht des Bundesgerichts verweisen somit sämt- liche Sprachfassungen von Art. 257 Abs. 3 ZPO für ein Nichteintreten auf die Voraussetzungen in Art. 257 Abs. 1 ZPO. Diese Voraussetzungen verlangen wiederum nicht, dass die Sach- und die Rechtslage für den Gesuchsteller sprechen müssen.

2. Historische Auslegung

[Rz 13] Im Rahmen der historischen Auslegung ist mit dem Bundesgericht zunächst der Vor- entwurf der ZPO und der dazugehörige Expertenbericht genauer zu betrachten. Die Experten- kommission ging in ihrem Bericht noch davon aus, dass ein Gesuch um Rechtsschutz in klaren Fällen materiell abgewiesen werden kann. Wörtlich führte sie Folgendes aus: «Auch die materiel- le Abweisung des Gesuchs hat volle Rechtskraftwirkung: Sie erfolgt, wenn der geltend gemachte Anspruch klar nicht besteht (z.B. wenn die Gesuchsgegnerin eine Quittung über eine Zahlung vorweisen kann). Die Abweisung des Gesuchs ist jedoch scharf vom Nichteintreten nach Absatz 2 zu unterscheiden»19. Der deutsche Wortlaut von Art. 267 Abs. 2 VE-ZPO, welcher Vorgänger von Art. 257 Abs. 3 ZPO war, lautet entsprechend: «Das Gericht tritt auf das Gesuch nicht ein, wenn die Voraussetzungen für den schnellen Rechtsschutz fehlen». Im Französischen hiess es:

«Le tribunal n’entre pas en matière lorsque les conditions de la procédure de protection rapide ne sont pas réalisées».

[Rz 14] In den Vernehmlassungsantworten finden sich zwei (im Wortlaut beinahe identische) kritische Stimmen zu Art. 267 VE-ZPO, nämlich jene des Kantons Luzern («Die Regelung, wo- nach beim schnellen Rechtsschutz in klaren Fällen ein Sachentscheid hinsichtlich der Rechtskraft dieselbe Wirkung hat wie ein Entscheid im ordentlichen Verfahren, erscheint im Falle einer Ab- weisung des Gesuchs problematisch. Die materielle Rechtskraft sollte daher auf diejenigen Ent- scheide beschränkt werden, die das Gesuch gutheissen»20) und jene des Luzernischen Anwalts- verbandes («Die Regelung von Abs. 3, wonach ein Sachentscheid hinsichtlich der Rechtskraft die gleiche Wirkung hat wie ein Entscheid im ordentlichen Verfahren, erscheint im Fall einer Abwei- sung des Gesuchs problematisch. Die materielle Rechtskraft sollte daher auf Entscheide, die das Gesuch gutheissen, beschränkt werden»21).

[Rz 15] In der Botschaft zur ZPO finden sich ebenfalls Aussagen zur Abweisung eines Gesuchs

17 Gl.M.Thomas Sutter-Somm/Cordula Lötscher, in: Thomas Sutter-Somm/Franz Hasenböhler/Christoph Leuenber- ger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO), 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2013, Art. 257 N 27;Nicolas Spichtin, Der Rechtsschutz in klaren Fällen nach Art. 257 ZPO, Diss., Basel 2012, N 74 f.; a.M.Dieter Hofmann, in: Karl Spühler/Luca Tenchio/Dominik Infanger (Hrsg.), Basler Kommentar Schweizerische Zivilprozess- ordnung, 2. Aufl., Basel 2013, Art. 257 N 27b.

18 Vgl. auch Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

19 Bericht zum Vorentwurf der Expertenkommission, S. 128.

20 Zusammenstellung der Vernehmlassungen, S. 671.

21 Zusammenstellung der Vernehmlassungen (Fn. 20), 671.

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um Rechtsschutz in klaren Fällen. Während das Bundesgericht in seinem Entscheid bloss einen einzelnen Satz aus der Botschaft heranzieht und zitiert22, ist m.E. auch der Kontext dieses Sat- zes zu beachten. Die gesamte einschlägige Passage hat folgenden Wortlaut: «Anders ist es, wenn der Rechtsschutz nicht gewährt werden kann, weil die Sach- und Rechtslage nicht liquid ist. In diesem Fall kommt es nicht etwa zu einer (materiellen) Abweisung des Gesuchs, sondern das Gericht tritt darauf nicht ein (Abs. 3). Der klagenden Partei bleibt in der Folge unbenommen, ihren Anspruch im einlässlichen Prozess geltend zu machen, wo nun ein umfassendes Beweis- verfahren bei umfassender gerichtlicher Kognition stattfinden kann. [. . . ] Eine Abweisung des Gesuchs mit materieller Rechtskraftwirkung wäre eine unbillige Konsequenz, worauf in der Ver- nehmlassung zu Recht hingewiesen wurde.»23Aus dieser Passage ergibt sich zunächst, dass auch der Gesetzgeber davon ausging, dass ein Nichteintreten erfolge, wenn «die Sach- und Rechtslage nicht liquid ist». Darüber hinaus kann die Passage in ihrem Gesamtkontext m.E. entgegen dem Bundesgericht24durchaus so verstanden werden, dass wenn «die Sach- und Rechtslage nicht li- quid ist», eine «Abweisung des Gesuchs mit materieller Rechtskraftwirkung [. . . ] eine unbillige Konsequenz [wäre]», sich die Botschaft somit eben gerade nicht zum Fall äussert, dass eine klare Sach- und Rechtslage vorliegt, welche gegen den Gesuchsteller spricht25. Was man aber sicher aus dieser Passage herauslesen kann, ist, dass es die Intention des Gesetzgebers war, unbillige Konse- quenzen für den Gesuchsteller zu verhindern. Dass nicht jeder Fall einer materiellen Abweisung eine unbillige Konsequenz für den Gesuchsteller darstellt, wird nachfolgend noch aufgezeigt.

[Rz 16] Es ist auch festzuhalten, dass, falls es tatsächlich die Absicht des Gesetzgebers war, die materielle Abweisung im Rahmen von Art. 257 ZPO gesamthaft zu verbieten, sich diese Absicht nicht im Gesetzestext niedergeschlagen hat. Während in der deutschen Fassung im Vergleich zum Vorentwurf Anpassungen vorgenommen wurden («Das Gericht tritt auf das Gesuch nicht ein, wenn die Voraussetzungen für den schnellen Rechtsschutz fehlen» gegenüber «Kann die- ser Rechtsschutz nicht gewährt werden, so tritt das Gericht auf das Gesuch nicht ein») blieb die französische Fassung inhaltlich unverändert («Le tribunal n’entre pas en matière lorsque les con- ditions de la procédure de protection rapide ne sont pas réalisées» gegenüber «Le tribunal n’entre pas en matière sur la requête lorsque cette procédure ne peut pas être appliquée»)26.

[Rz 17] In der parlamentarischen Beratung finden sich schliesslich keine Voten zur Frage der Zulässigkeit einer materiellen Abweisung27.

3. Systematische Auslegung

[Rz 18] Das Bundesgericht handelte die systematische Auslegung in einem kurzen Nebensatz ab, mit der Begründung, daraus könne nichts abgeleitet werden28.

[Rz 19] M.E. sind in Zusammenhang mit der systematischen Auslegung von Art. 257 ZPO jedoch

22 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

23 Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO),BBl 2006 7221, 7352 (im Folgenden: Botschaft ZPO).

24 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

25 Gl.M.Sutter-Somm/Lötscher(Fn. 17), Art. 257 N 27;Spichtin(Fn. 17), N 74 f.; a.M.Hofmann(Fn. 17), Art. 257 N 27b.

26 Vgl. auch Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

27 Vgl. Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

28 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

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zwei Aspekte zu beachten. Zunächst besteht im Zivilprozessrecht ein allgemeiner Grundsatz, wonach das Gericht die Möglichkeit hat, ein Gesuch gutzuheissen, abzuweisen oder einen Nicht- eintretensentscheid zu fällen. Würde man nun im Rahmen von Art. 257 ZPO die Abweisungs- möglichkeit verbieten, so würde dies im Widerspruch zum ansonsten in der ZPO und auch im Bundesgerichtsgesetz (BGG) vorherrschenden System stehen. Ein solcher Systembruch ist durch- aus möglich, allerdings müssten dazu m.E. überzeugende Gründe gegeben sein, was vorliegend in Zusammenhang mit Art. 257 ZPO nicht der Fall ist29.

[Rz 20] Weiter sind auch die fundamentalen Grundprinzipien des Prozessrechtes, welche sich aus Art. 29 ff. der Bundesverfassung (BV) ergeben, zu beachten. Dazu gehört das Prinzip der prozessualen Waffengleichheit, welches aus Art. 29 Abs. 1 BV abgeleitet wird30. Dieses Prinzip wird m.E. verletzt, wenn es dem Gesuchsgegener im Verfahren nicht möglich ist, unter den glei- chen Voraussetzungen, wie sie auch für den Gesuchsteller gelten, einen materiellen Entscheid zu erwirken31.

[Rz 21] In der Lehre wird teilweise die Möglichkeit einer Widerklage erwähnt, um das Prinzip der Waffengleichheit wahren zu können32. Tatsächlich ist es dem Gesuchsgegner möglich, ge- stützt auf Art. 224 i.V.m. 219 ZPO eine Widerklage zu erheben und die Feststellung zu verlangen, dass der vom Gesuchsteller geltend gemachte Anspruch nicht besteht, wodurch die Waffengleich- heit gewahrt wäre33. Allerdings erscheint es gar formalistisch, eine Unterscheidung zwischen der Feststellung des Nichtbestandes der geltend gemachten Forderung und der Abweisung der For- derung vorzunehmen, handelt es sich bei einer Abweisung doch um nichts anderes als die ge- richtliche Feststellung, dass der geltend gemachte Anspruch nicht besteht. Auch müsste diesfalls das Gericht richtigerweise, will es nicht in überspitzten Formalismus verfallen, jegliche Begehren des Gesuchsgegners auf Abweisung als negative Feststellungswiderklagen entgegen nehmen oder zumindest im Rahmen von Art. 56 ZPO nachfragen, wie das Begehren gemeint ist. Ein solches Ausweichen auf kontradiktorische negative Feststellungswiderklagen zur Wahrung der Waffen- gleichheit würde wiederum ohne Not einen Systembruch darstellen, da in ordentlichen Prozessen auf solche Begehren aufgrund fehlenden Rechtsschutzinteresses nicht eingetreten wird34.

29 Vgl. bereitsViktor Lieber, Handhabung und Verletzung «klaren Rechts», in: Isaak Meier/Hans Michael Rie- mer/Peter Weimar (Hrsg.), Recht und Rechtsdurchsetzung, Festschrift für Hans Ulrich Walder, Zürich 1994, 218.

30 Vgl.Giovanni Biaggini, BV Kommentar, Zürich 2007, Art. 29 N 15.

31 Gl.M.Sutter-Somm/Lötscher(Fn. 17), Art. 257 N 28;Spichtin(Fn. 17), N 78. Vgl. auch Botschaft ZPO (Fn. 23), 7256, wonach die ZPO diesen Grundsatz berücksichtigen soll.

32 François Bohnet, in: Code de procédure civile commenté, Basel 2011, Art 257 N 24;Adrian Staehelin/Daniel Staehelin/Pascal Grolimund, Zivilprozessrecht, 2. Aufl., Zürich 2013, § 21 N 58; vgl. auchHofmann(Fn. 17), Art.

257 N 27d.

33 Die Zulässigkeit einer Widerklage im Verfahren nach Art. 257 ZPO ist umstritten. Wie hier für die generelle Zuläs- sigkeitManuela Rapold/Reto Ferrari-Visca, Die Widerklage nach der Schweizerischen Zivilprozessordnung, AJP 2013, 395 f.; a.M.Sutter-Somm/Lötscher(Fn. 17), Art. 257 N 17;Spichtin(Fn. 17), N 206; Botschaft ZPO (Fn. 23), 7350.

34 Vgl.Miguel Sogo, Widerklage in handelsrechtlichen Streitigkeiten: Kernpunkttheorie und Erfordernis der gleichen sachlichen Zuständigkeit, ZBJV 2011, 949.

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4. Teleologische Auslegung

[Rz 22] Auch die teleologische Auslegung wurde vom Bundesgericht mit der Begründung, daraus könne nichts abgeleitet werden, in einem einzigen Nebensatz abgehandelt35, was m.E. zu kurz greift.

[Rz 23] Mit Art. 257 ZPO sollte ein Verfahren geschaffen werden, welches in Fällen mit liquiden Verhältnissen schnell zu einem rechtskräftigen und vollstreckbaren Entscheid führt. Es sollte sich um eine freie Option der gesuchstellenden Partei handeln und sollte, wie vorne gezeigt, nicht zu unbilligen Konsequenzen für den Gesuchsteller führen36. Aus diesem Sinn und Zweck von Art.

257 ZPO lassen sich keine Gründe ableiten, welche gegen eine materielle Abweisung sprechen, sofern die Voraussetzungen von Art. 257 Abs. 1 ZPO gegeben sind. Insbesondere das Argument, dass es sich bei einer Abweisung um eine unbillige Konsequenz für den Gesuchsteller handeln würde37, vermag nicht zu überzeugen. Es liegt m.E. keine Unbilligkeit vor, wenn das Gesuch eines Gesuchstellers, welcher ein Verfahren eingeleitet hat, obwohl Sach- und Rechtslage klar gegen ihn sprechen, materiell abgewiesen und damit nach Eintritt der Rechtskraft der geltend gemachte Anspruch vernichtet wird. Vielmehr wäre es umgekehrt eine unbillige Konsequenz für den Gesuchsgegner, wenn dem Gesuchsteller in einem solchen Fall die Möglichkeit eines zweiten, offensichtlich unbegründeten Prozesses gelassen wird und der Gesuchsgegner zu einer eigenen negativen Feststellungsklage gezwungen wird, von der sämtliche Prozessparteien bereits wissen, dass sie gutgeheissen werden wird, um Rechtssicherheit zu erlangen. Auch aus prozessökonomi- scher Sicht wäre es absurd, die Möglichkeit eines zweiten Verfahrens offen zu lassen.

[Rz 24] Davon klar abzugrenzen ist der Fall, dass das Gesuch nicht gutgeheissen werden kann, weil es dem Gesuchsteller nicht gelingt, klare Verhältnisse zu schaffen. Wenn der Gesuchsteller durch eine materielle Abweisung seinen Anspruch verlieren würde, weil der Gesuchsgegner mit Entgegnungen, welche zwar nicht offensichtlich haltlos sind, einem ordentlichen Prozess jedoch niemals standhalten würden, die Sache unklar erscheinen lässt, würde es sich tatsächlich um eine unbillige Konsequenz für den Gesuchsteller handeln. Der Nichteintretensentscheid ist in solchen Konstellationen die passende Lösung. Der Diskurs in der Lehre dreht sich aber gerade nicht um solche Fälle und auch dem vorliegenden Entscheid lagen keine unklaren Verhältnisse zugrunde. Vielmehr geht es um Fälle, in denen, auch nachdem sich der Gesuchsteller nochmals dazu äussern konnte, die Sachlage und die Rechtsklage klar gegen den Gesuchsteller sprechen.

In solchen Fällen ist die materielle Abweisung des Gesuchs die einzig richtige Konsequenz.

5. Fazit

[Rz 25] Der Entscheid des Bundesgerichts gründet auf einer einzelnen, aus dem Kontext geris- senen Passage aus der Botschaft zur ZPO, welche darüber hinaus, wenn sie wie vom Bundesge- richt absolut verstanden wird, unzutreffend ist. Es entspricht einem allgemeinen Grundsatz im schweizerischen Zivilprozessrecht, dass das Gericht einen geltend gemachten Anspruch materiell abweisen kann. Gründe dafür, von diesem Grundsatz im Rahmen von Art. 257 ZPO abzuweichen, sofern die Sach- und Rechtslage klar gegen den Gesuchsteller sprechen, sind nicht ersichtlich

35 Urteil des Bundesgerichts4A_68/2014vom 16. Juni 2014 E. 5.2.2.

36 Vgl. Botschaft ZPO (Fn. 23), 7351 f.

37 Botschaft ZPO (Fn. 23), 7352.

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und würden dem Gebot der prozessualen Waffengleichheit widersprechen. Dem vorliegenden Entscheid des Bundesgerichts kann deshalb nicht gefolgt werden.

MLawAndreas Baeckert, Zürich.

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