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STANDPUNKTE

ROSA LUXEMBURG STIFTUNG

humanen Offensivaktionen, sei es bei der Gegenüberstellung der Opferstatistiken oder im Abwägen der jeweiligen «Moral»

der Kriegsführung. Insbesondere die bereits sieben Jahre an- dauernde israelisch-ägyptische Blockade des Gazastreifens und die humanitären Defizite im Umgang mit den betreffen- den (und betroffenen) 1,8 Millionen Menschen bleiben als zentrale Konfliktpotenziale in politischen Wertungen nicht selten unterbelichtet oder werden ganz ausgeblendet.

Wie die Konfliktursachen und Kriegsergebnisse auch im- mer definiert werden: Die achte Gaza-Operation Israels wird tiefe Spuren in beiden Gesellschaften hinterlassen. Der Wie- deraufbau Gazas – einschließlich der mit deutscher Hilfe errichteten und durch das israelische Militär innerhalb von sieben Wochen zerstörten zivilen Einrichtungen – wird laut Expertenmeinung 20 Jahre dauern.2 Mindestens ebenso viel Zeit dürfte verstreichen, bis sich in den im Gazastreifen le- benden Familien Trauer um und Erinnerung an die verlore- nen Angehörigen abgeschwächt haben werden. Offen bleibt die Frage, wie viele der Betroffenen sich in ihrem künftigen Handeln von Hass und dem Wunsch nach Vergeltung gegen Israel und den «Westen» werden leiten lassen.

Auch in Israel werden die mentalen Verwerfungen nicht nur im betroffenen Süden nachwirken. Die Kriegsrheto- rik und die täglichen Raketenwarnungen werden den Men- schen im Gedächtnis bleiben und die allgemeinen Bedro- hungsängste langfristig verstärken. Die Implikationen für die israelische Demokratie dürften die innergesellschaftli- che Atmosphäre zunehmend vergiften, hat doch der Krieg vorhandene Obsessionen verstärkt und das Land und seine EinwohnerInnen letztlich unsicherer, unfriedlicher und into- leranter werden lassen.

16 / 2014

Der jüngste Gaza-Krieg begann offiziell mit einer massiven Militäraktion der israelischen Armee (ZAHAL) am 8. Juli 2014 und endete nach 50 Tagen am 26. August mit einem durch Ägypten vermittelten Waffenstillstand zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde. Als Hintergründe oder konkrete Auslöser der «Operation Protective Edge» werden häufig die Entführung und Ermordung dreier israelischer Jugendlicher, der darauf folgende Einmarsch von ZAHAL in Teile der Westbank und die Ausweitung des Hamas-Raketenbeschusses auf das israelische Kernland benannt. Das Ursachen- gefüge des Krieges ist jedoch weitaus komplexer und steht mit der Evolution der israelisch-palästinensischen Beziehun- gen im letzten Jahrzehnt und mit inneren Entwicklungstrends der israelischen Gesellschaft in Zusammenhang.1

ANGELIKA TIMM

IM SCHATTEN DES GAZA-KRIEGS

ISRAEL: INNERGESELLSCHAFTLICHE URSACHEN UND RÜCKWIRKUNGEN DER MILITÄRAKTION

Die in Israel gültigen und auch in Westeuropa als «politisch korrekt» geltenden Erklärungsmuster für die derzeitige Situa- tion im Nahen Osten – und damit für die jüngste Gaza-Invasi- on – sind relativ stereotyp: Israel, eine «Villa im Dschungel»

und zugleich «einzige Demokratie im Nahen Osten», umge- ben von feindseligen Staaten, konfrontiert mit «den neuen Gefahren in der Region» (Benjamin Netanjahu), existenzi- ell bedroht, insbesondere durch die «terroristische Hamas», durch die libanesische Hisbollah, aus östlicher Ferne durch iranische Atombomben und somit in jeder Hinsicht zu legi- timer Verteidigung berechtigt, notfalls zu Vergeltungsschlä- gen, auch zur politischen Disziplinierung seiner arabischen BürgerInnen und anderer missliebiger EinwohnerInnen des Landes. Zwar unterscheiden sich die Wahrnehmung und Darstellungsweise des konkreten Geschehens im Sommer 2014 und die Deutung des Gewalteinsatzes. Prinzipiell jedoch werden die hohen Opferzahlen in der Zivilbevölkerung Gazas beziehungsweise die Vernichtung der existenziellen Lebens- grundlagen mit dem Raketenbeschuss aus dem Gebiet und dem dortigen Tunnelbau gerechtfertigt. Führende westeuro- päische und nordamerikanische PolitikerInnen wiederholten unentwegt: Der Krieg gegen Hamas und gegen die Bevölke- rung Gazas sei legitim; Israel habe das (von niemandem infra- ge gestellte) Recht, sich zu verteidigen – so auch die öffent- lich verkündete Version der deutschen Bundeskanzlerin.

In die Ursachensuche kaum einbezogen wurden und wer- den die Hintergründe der Krise, die Unverhältnismäßigkeit im Gewalteinsatz und die Asymmetrien, sei es hinsichtlich der Interessenlagen, Machtverhältnisse, Zielsetzungen und Stra- tegien der Kriegsparteien, sei es in der Relation zwischen le- gitimen Defensivhandlungen und völkerrechtswidrigen, in-

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2 DÉJÀ-VU GAZA?

Die israelische Militäroperation folgte vorangegangenen Mus- tern, wies jedoch auch eine Reihe neuer Elemente auf. Zu nen- nen wären vor allem die unverhältnismäßig hohe Zahl paläs- tinensischer Toter und Verwundeter sowie das Ausmaß der Zerstörungen in Gaza.3 Der international bekannte israelische Journalist und hoch geachtete Friedensaktivist Uri Avnery schrieb am 26. Juli 2014, also mitten im Konflikt: «Das ist kein Krieg gegen den Terror. Der Krieg selbst ist ein Terrorakt.»4 Gleichzeitig sah sich die israelische Zivilbevölkerung erstmals seit 2008/09 über einen längeren Zeitraum hinweg mit Rake- tenangriffen – größtenteils neutralisiert durch von den USA gelieferte Abwehrraketen («Iron Dome») – konfrontiert.5

Im Unterschied zu vorangegangenen Auseinanderset- zungen hat das politische Establishment Israels bei seinen Entscheidungen für die Gaza-Operation keine größeren stra- tegischen Rücksichten nehmen müssen: Zu den Besonder- heiten des Krieges gehörte das Fehlen einer breiten antiis- raelischen und propalästinensischen arabischen Front. Die an der Schwächung der Hamas interessierten regionalen Mächte (Ägypten, Jordanien, Saudi Arabien, Vereinigte Ara- bische Emirate u. a.) hielten sich weitgehend zurück oder sympathisierten verdeckt mit Israel. Die internationale Ge- meinschaft war zeitgleich mit Konflikten in anderen Teilen des Erdballs (Ukraine, Irak, Syrien, Libyen und Westafrika) beschäftigt. Auch sie reagierte relativ verhalten auf die Eska- lation des Geschehens in Gaza. Dennoch nahm das ohnehin angeschlagene Image Israels im Ausland großen Schaden;

antiisraelische Stimmungen, teilweise mit antisemitischer Spitze, verstärkten sich weltweit, nicht zuletzt in den USA und in Westeuropa. Mehrere lateinamerikanische Staaten beriefen ihre Botschafter aus Israel ab. Eine UN-Kommission soll die «Kriegsverbrechen in Gaza» untersuchen.

Der israelischen Wirtschaft erbrachte der Krieg einen Scha- den von annähernd zehn Milliarden Schekel (etwa 2,8 Mil- liarden US-Dollar), insbesondere durch den Rückgang des Bruttoinlandprodukts, die Vernichtung von Militärtechnik und die verminderten Einnahmen aus dem Tourismus. Der zivile Flugverkehr kam erstmals seit dem Oktoberkrieg 1973 für mehrere Tage teilweise zum Erliegen. Mitte August wur- den die täglichen israelischen Kriegskosten auf 60 Millionen US-Dollar geschätzt. Selbst wenn die USA erneut finanzielle Hilfe leisten und die verausgabten Kriegspotenziale ersetzen sollten, dürften die israelischen SteuerzahlerInnen kräftig zur Kasse gebeten werden. Durch Kürzungen von Ausgaben für zivile Zwecke (nicht zuletzt für Bildung und Gesundheit) wur- den als erste Rate zwei Milliarden Schekel (560 Mio. US-Dol- lar) für die Rüstung (75 Prozent) und für den Wiederaufbau im Süden (25 Prozent) bereitgestellt.6

Innenpolitisch konnten Medien und VertreterInnen der parlamentarischen wie der außerparlamentarischen Rech- ten die in der jüdischen Bevölkerung existenten Angstsyn- drome, resultierend aus historischen Traumata wie aus aktu- ellen Verunsicherungen, allseitig ausnutzen. Das «nationale Lager», dem zunehmend auch bisher marginale rechtsext- remistische Kräfte zuzurechnen sind, festigte, «besessen von faschistisch-religiös-messianisch-rassistischen Vorstel- lungen»,7 seinen Platz in der Gesellschaft. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu habe den Kampf um die israelische Psy- che gewonnen, urteilt der Autor Sefi Rachlevsky,8 und die Soziologin Eva Illouz fügt dem hinzu, dass die messianische Rechte ihre Radikalität zunehmend mit Begriffen wie «jü- disch» und «patriotisch» verbräme.9

«RUHE! ES WIRD GESCHOSSEN!»

Israelische Intellektuelle versuchen, die Wurzeln und das Ausmaß der gewaltorientierten Welle beziehungsweise die Gründe für das Schweigen weiter Teile der politischen Oppo- sition genauer zu erkunden. Der Jurist Aeyal Gross von der Universität Tel Aviv konstatiert beispielsweise: «Eines Tages werden wir fragen, wieso die israelische Gesellschaft akzep- tiert hat, was in ihrem Namen angerichtet wurde. Die Angrif- fe auf Häuser, auf Kinder am Strand und auf ganze Wohn- viertel gingen weit über die Behauptung hinaus, es seien nur Ziele angegriffen worden, von denen aus Raketen abge- schossen oder in denen Raketen gelagert wurden. […] Ha- ben Propaganda und Einschüchterung die israelische Gesell- schaft zum Schweigen gebracht?»10

Solange geschossen werde, müsse man schweigen und zusammenhalten. Uneinigkeit gelte als Schwäche. Diesen regierungskonformen Passivkonsens vertraten nicht zuletzt die Führer der oppositionellen Arbeitspartei. Erst wenn der Krieg überstanden sei, werde man die Regierung wieder kri- tisieren, so der Parteivorsitzende Jizchak Herzog Anfang Au- gust.

Umfragen zeigten jedoch große Unterschiede zwischen jüdischen und arabischen StaatsbürgerInnen. In der jüdi- schen Bevölkerung herrschte ein breiter, den Krieg befürwor- tender Konsens. Zeitweilig sprachen sich über 90 Prozent für Kriegshandlungen aus; lediglich vier bis sechs Prozent mein- ten, die israelische Armee habe unangemessen agiert. Die arabischen BürgerInnen hielten die Angriffe auf Gaza dage- gen mehrheitlich für «ungerechtfertigt»; 62 Prozent bezeich- neten die Anzahl der Bombardements als überzogen.11 VERTIEFUNG GESELLSCHAFTLICHER KLÜFTE Die israelische Gesellschaft ist stärker denn je durch tiefe sozioökonomische, nationale und ethnisch-kulturelle Klüfte gekennzeichnet, seien es Gegensätze zwischen jüdischen und arabischen BürgerInnen, soziokulturelle Konfliktlinien zwischen JüdInnen aus Europa/Amerika (Aschkenasim) und ZuwanderInnen aus orientalischen Staaten (Misrachim) oder zwischen Alteingesessenen und neu Eingewanderten, sei- en es politische Divergenzen zwischen «Tauben» und «Fal- ken», weltanschauliche Unterschiede zwischen Religiösen und Säkularen oder soziale Disparitäten zwischen Reich und Arm. Die Verwerfungen konnten in Kriegszeiten, auch im Sommer 2014, nur oberflächlich und vorübergehend ka- schiert werden.

Zu den gravierendsten innenpolitischen Rückwirkungen des jüngsten Geschehens gehört der Schaden, der dem Ver- hältnis zwischen jüdischen und arabischen StaatsbürgerIn- nen zugefügt wurde. Arabisch-palästinensische Kollektive stehen in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend außer- halb des nationalen Konsenses. Ihnen wurde durch Politike- rInnen und Medien vielfach das Gefühl vermittelt, BürgerIn- nen minderen Grades, ausgestattet mit geringeren Rechten, zu sein. Neue Feindschaft und Hassgefühle äußerten sich im Sommer 2014 in Form von staatlich-institutioneller Bespit- zelung, von Arbeitsrelegierungen oder von gewalttätigen Angriffen. Allein im Juli wurden rund 600 arabische Bürge- rInnen von ihren ArbeitgeberInnen entlassen, einzig weil sie – zum Beispiel auf Facebook oder Twitter – Stellung ge- gen den Krieg bezogen hätten.12 Auf Antikriegsdemonstrati- onen, wie in Haifa und Nazareth, nahm die Polizei Hunderte arabische DemonstrantInnen fest. Den arabischen Solidari- tätsbezeugungen mit der Bevölkerung von Gaza begegnete

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Außenminister Avigdor Lieberman mit dem Aufruf zum lan- desweiten Boykott arabischer Geschäfte.13 Die rassistische Aktion «Kauft nicht bei Arabern!» brachte vielen Gewerbe- treibenden erkennbaren Schaden.

Mit «Banalität des Rassismus» betitelte die hebräisch- sprachige israelische Tageszeitung Haaretz einen Beitrag, der den neuen Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen jü- discher Mehrheit und arabischer Minderheit thematisierte.

Heute schäme sich niemand mehr, öffentlich zu bekunden, er hasse Araber.14 Für arabische zivilgesellschaftliche Organi- sationen wie Adalah, Mossawa oder die Arab Association for Human Rights (HRA) ist es nach dem Krieg noch schwieriger geworden, die Menschen zu erreichen und gemeinsam mit jüdischen Organisationen dem Rassismus entgegenzutre- ten. Für viele palästinensisch-arabische StaatsbürgerInnen Israels gilt heute, was die Sängerin Mira Awad in den bedrü- ckendsten Tagen des Kriegs auf den Punkt brachte: «Mein Kopf sagt, ich muss hier weg; mein Herz jedoch weiß, dass ich kein anderes Land habe.»15

ANTIKRIEGSPROTESTE

«Der Lackmustest für eine starke Demokratie besteht darin», so Professor Zeev Sternhell von der Hebräischen Universität Jerusalem, «ob ihre Bürger auch in Zeiten der Krise ihre Mei- nung in der Öffentlichkeit frei äußern können, ohne Gefahr zu laufen, durch rechte, von der Polizei tolerierte Schläger angegriffen zu werden.»16 Die israelische Realität bestätigt den Wissenschaftler: Seit Beginn der Gaza-Aktion fanden in Israel jede Woche Antikriegsaktionen statt. Ihre Teilneh- merInnen jedoch wurden in der Öffentlichkeit und in sozialen Netzwerken nicht selten als «Verräter» oder «Feinde Israels»

gebrandmarkt.

Zu Protestbekundungen hatten mehrfach insbesondere die jüdisch-arabische Parlamentsfraktion Chadasch, die Frie- densorganisationen Gusch Schalom, Forum of Berieved Pa- rents, Combatants for Peace, Coalition of Women for Peace und andere Nichtregierungsorganisationen (NGO) aufgeru- fen. Mitglieder der linkszionistischen Partei Merez beteilig- ten sich an den Protesten – auch wenn die Merez-Führung und die Friedensorganisation Peace Now erst gegen Ende der «heißen» Kriegsphase zu öffentlichen Aktionen aufrie- fen. Häufige Losungen der Demonstranten waren: «Juden und Araber weigern sich, einander Feinde zu sein!», «Unse- re Kinder wollen leben – im [palästinensischen] Gaza wie im [israelischen ] Sderot!» oder «Politischer Dialog statt Krieg!»

Die bedeutendsten Kundgebungen, jeweils mit 7.000 bis 8.000 Teilnehmenden, fanden am 26. Juli und 16. August auf dem Rabinplatz im Zentrum Tel Avivs statt. Noch gäbe es, so der Schriftsteller David Grossman am 16. August, in der isra- elischen Gesellschaft eine kritische Masse, die Frieden wolle und in der Lage sei, den Konflikt mit den Nachbarn zu lösen.

Mitglieder der NGO Breaking the Silence, ein Zusammen- schluss ehemaliger und derzeitiger Angehöriger der isra- elischen Armee, trugen am 17. Juli auf dem Platz vor dem Natio naltheater Habimah in Tel Aviv Zeugnisse von SoldatIn- nen aus vorangegangenen Militäraktionen in Gaza vor; am religiösen jüdischen Trauertag Tisha B’Av gedachten sie so- wohl der palästinensischen als auch der israelischen Kriegs- opfer. Die Stimme der israelischen Linken jedoch ist schwä- cher als in der Vergangenheit. Kriegerische Stimmungen, Furchtkomplexe beziehungsweise Apathie und Gleichgül- tigkeit sowie ein geringes Maß an Empathie für die jeweils anderen dominieren in der israelischen Bevölkerung. Zu ge-

meinsamen Protesten jüdischer und arabischer BürgerInnen kam es bis auf Haifa im Land nur selten.

DIE NEUE QUALITÄT DER RECHTSTRENDS Zu den innergesellschaftlichen Phänomenen gehörten wäh- rend der Gaza-Invasion 2014 teilnehmerstarke Aufmärsche rechtsextremer Gruppierungen. Sie attackierten nicht nur verbal die KriegsgegnerInnen, sondern schreckten auch vor physischer Gewalt nicht zurück. Die liberale Tageszeitung Haaretz beklagte: «In Israel ist ein innerer Krieg über Recht und Gesetz entbrannt. […] Seine stärksten beziehungswei- se am stärksten Furcht verbreitenden Ausdrucksformen sind militante Angriffe rechtsextremistischer Aktivisten auf Ara- ber, aber auch auf Linke und generell auf Menschen, die sich gegen den Krieg aussprechen.»17

Beispiele für den «Tsunami des Hasses»18 und den «Mc- Carthyismus»19 à la Israel gibt es für den Sommer 2014 en masse. Weitgehend unwidersprochen blieb zum Beispiel die Äußerung des Nahostwissenschaftlers der Bar-Ilan Universi- tät, Mordechai Kedar, (arabische) «Terroristen könnten einzig abgeschreckt werden durch die Drohung, ihre Schwestern oder Mütter zu vergewaltigen».20 Als ein Juraprofessor der- selben Universität in einer E-Mail seinen StudentInnen mit- teilte, er bedaure die jüdischen und palästinensischen Opfer im Gaza-Krieg, wurde eine förmliche «Hexenjagd» gegen ihn veranstaltet; die Universitätsleitung forderte eine öffentliche Entschuldigung.21 Dov Lior, Oberrabbiner in Kiryat Arba und Hebron, bekundete am 21. Juli 2014, das jüdische Recht er- laube die Zerstörung des Gazastreifens, um dem Süden Is- raels Frieden zu bringen.22 Als am 26. Juli vorwiegend jüdi- sche Israelis auf dem zentralen Rabin-Platz Tel Avivs ihren Protest gegen Krieg und Rassismus bekundeten, skandier- ten die ebenfalls zahlreich erschienenen Rechtsnationalen nicht nur wie üblich «Tod den Arabern», sondern «Tod den Linken!» Auch hier suchten gewaltbereite Schläger nach En- de der Kundgebung ihren Emotionen durch tätliche Angriffe auf die «Landesverräter» Ausdruck zu verleihen.23

Rassismus, Aushöhlung der Demokratie und die Ausei- nandersetzung um die Identität und Definition des Staa- tes spiegeln sich in den Debatten des Parlaments, in Entscheidungen der Regierung und im Streit um das nati- onalstaatliche Selbstverständnis wider. Im Mittelpunkt ste- hen Forderungen der Rechtskräfte, Israel primär nicht als de- mokratischen, sondern als jüdischen Staat anzuerkennen.

Als Zukunftsmodelle künftiger Staatlichkeit gelten vor allem drei Entwicklungs- und Entscheidungsoptionen: «jüdischer Staat», «jüdischer und demokratischer Staat» oder «demo- kratischer Staat aller seiner Bürger». Zunehmend scheinen sich die VertreterInnen einer Ethnokratie mit säkular-nationa- listischem oder jüdisch-religiösem Vorzeichen, also der ers- ten Option, durchzusetzen. Die Soziologin Eva Illouz von der Hebräischen Universität Jerusalem meint, dass das «Jüdi- sche» bereits «die Demokratie mit ihren universellen Werten in Geiselhaft genommen» habe.24 «Die wirkliche Gefahr für Israel» komme nicht von außen, sondern von innen.25 KOMPROMISSFRIEDEN

VERSUS FRIEDENSDIKTAT

Die Erfahrung belegt, dass sich nach Militäraktionen häufig ein – mitunter freilich nur kurzzeitiges – window of opportu- nity für eine Konfliktregelung öffnet. Darauf richtet sich der- zeit das «Prinzip Hoffnung». Inwieweit existente oder noch zu schaffende Chancen für ein produktives Konfliktmanage-

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ment genutzt werden, hängt von den Kriegsparteien wie auch von äußeren Rahmenbedingungen und Akteuren ab.

Bereits während des Krieges legte die Hamas einen zehn Forderungen umfassenden Katalog für ein auszuhandeln- des politisches Gaza-Agreement vor: Abzug der israelischen Panzer von der Grenze Gazas; Freilassung aller palästinensi- schen Gefangenen, die nach der Ermordung der drei israeli- schen Jugendlichen inhaftiert wurden; Beendigung der Ga- za-Blockade und Öffnung der Grenzübergänge für Menschen und Waren; Errichtung eines Seehafens und eines von den Vereinten Nationen (UN) kontrollierten internationalen Flug- hafens; Ausweitung der Fischfangzone Gazas auf zehn Kilo- meter; Umwandlung der Grenzstelle Rafah in einen von der UN und arabischen Staaten kontrollierten Grenzübergang;

Sicherung der Grenzen durch internationale Beobachter; Er- leichterung des Zugangs zur Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem für muslimische Gläubige; Verpflichtung Israels, sich nicht in den innerpalästinensischen politischen Versöhnungsprozess einzumischen; Schaffung von neuen Industrie- und Entwick- lungszonen im Gazastreifen.26 Ein frühzeitiges Eingehen auf das moderate Angebot hätte Israel, insbesondere den Süden, sicherer machen können und vielen – auch israelischen –

«Opfern der letzten Tage» das Leben gerettet.

Die palästinensische Regierung betont in ihren grundsätz- lichen Stellungnahmen stärker den Gesamtkonflikt und geht mit ihren Regelungsvorschlägen über Gaza hinaus. Anfang September sprach sie sich für die Wiederaufnahme der unter US-Schirmherrschaft zustande gekommenen und im Juni gescheiterten israelisch-palästinensischen Verhandlungen, zunächst für maximal neun Monate, aus. Eine Vereinbarung über den Abzug Israels von allen für den künftigen palästi- nensischen Staat vorgesehenen Territorien solle innerhalb von drei Jahren erreicht werden. Vorgeschlagen wird zu- dem, während der ersten drei Monate den Grenzverlauf zu definieren und im folgenden Halbjahr andere offene Fragen – Flüchtlinge, Jerusalem, Siedlungen, Sicherheitsvereinbarun- gen, Wasser – zu regeln. Vertrauensbildende Maßnahmen im Vorfeld seien ein Stopp des Siedlungsbaus (zumindest für die dreimonatige Initialphase der Gespräche) und die bereits für den 29. März 2014 vorgesehene, durch die israelische Regierung seinerzeit abgeblockte Freilassung der vierten Gruppe palästinensischer Häftlinge.27

Die Reaktionen der israelischen Regierung lassen erken- nen, dass Gespräche mit der Hamas bisher nicht ernsthaft erwogen werden. Netanjahu formulierte am 29. August viel- mehr eine Alternative: «Hamas oder Frieden».28 Verhandlun- gen mit der Palästinensischen Autonomiebehörde dagegen lehnte er nicht generell ab. Voraussetzung sei freilich «eine palästinensische Regierung, die dem Frieden mit Israel, der Beendigung des Terrors und der Einhaltung früherer Ver- einbarungen verpflichtet ist».29 Inwieweit er künftig zu Ge- sprächen mit der im Juni 2014 gebildeten palästinensischen Einheitsregierung bereit sein wird, dürfte von inneren wie äu- ßeren Erwägungen beziehungsweise Zwängen abhängen.

Die über den Stopp des Raketenbeschusses aus dem Ga- zastreifen und die Zerstörung der restlichen Untertunnelung Gazas und Südisraels hinausgehenden israelischen Forde- rungen, zum Beispiel völlige Demilitarisierung des Gaza- streifens, wie auch die unmittelbar nach Kriegsende neu geschaffenen fait accomplis (weitreichende Beschlüsse des israelischen Kabinetts über die Fortsetzung und Zementie- rung des Siedlungsbaus) stehen in diametralem Gegensatz zu jeglicher Kompromisssuche beziehungsweise zu allen

Friedenserwartungen. In der israelischen Regierung exis- tieren tiefe Meinungsverschiedenheiten in grundsätzlichen wie konkreten Fragen. Die Chancen für die Neuaufnahme er- folgversprechender Verhandlungen erscheinen somit als äu- ßerst gering. Starker äußerer Druck auf die Akteure ist kaum zu erwarten, da sowohl die US-Administration und die füh- renden EU-PolitikerInnen als auch die politischen Eliten in den arabischen Nachbarstaaten mit anderen Konfliktherden beschäftigt sind.

Der Schlüssel für einen produktiven Kompromiss – im Ga- za-Konflikt wie in den israelisch-palästinensischen Beziehun- gen – liegt weiterhin eindeutig im israelischen Feld. Er dürfte dort für einen längeren Zeitraum verbleiben. Ein israelischen Interessen und Forderungen folgendes Friedensdiktat dürf- te an der Haltung der selbstbewusster gewordenen Palästi- nensischen Autonomiebehörde scheitern. Ein erneuter Waf- fengang in Gaza oder an der Nordgrenze ist für die nähere Zukunft nicht auszuschließen. Die Antwort auf die Frage, ob sich die Austragungsbedingungen des nächsten Krieges mit Blick auf die Verwerfungen in der arabischen Welt und auf die jüngsten Entwicklungen in der Türkei, in Pakistan und im Umgang mit Iran zugunsten Israels entwickeln werden, sei aus den ungewissen Zukunftserwartungen zunächst ausge- klammert.

Angelika Timm ist Nahostwissenschaftlerin und leitet das Aus- landsbüro Israel der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

1 Vgl. Weltmann, Uri: Der lange Weg nach Gaza (Standpunkt 15/2014 der Rosa-Luxemburg- Stiftung), www.rosalux.de/publication/40719. 2 Haaretz, 31.8.2014, S. 3. 3 Die Kampf- handlungen kosteten 2.104 PalästinenserInnen, darunter 518 Kindern, das Leben. Auch unter den 11.000 Verwundeten waren etwa 3.000 Kinder. Im Gazastreifen wurden in sieben Wochen 220 Schulen, 58 Krankenhäuser und 17.000 Wohneinheiten zerstört; die Zahl der Obdachlosen beträgt annähernd 475.000 (Haaretz [englischsprachige Ausgabe], 29.8.2014, S. 10). 4 Vgl. http://zope.gush-shalom.org/home/en/channels/avnery/1406281947/. 5 Auf Israel wurden 4.532 Raketen abgeschossen; sieben ZivilistInnen, darunter ein Kind, wurden im Süden des Landes getötet. 66 SoldatInnen fielen in Kampfhandlungen bzw. starben an Verletzungen (Haaretz, 1.9.2014, S. 1). 6 Haaretz, 1.9.2014, S. 1. 7 Vgl. www.haaretz.

com/opinion/.premium-1.609037 (7.8.2014). 8 Vgl. www.haaretz.com/opinion/.premi- um-1.609037 (7.8.2014). 9 Illouz, Eva: Wir sind abgestumpft, in: Der Spiegel, 32/2014, S. 84. 10 Vgl. www.haaretz.com/opinion/.premium-1.611197 (19.8.2014). 11 Yaar, Eph- raim/Hermann, Tamar: Peace Index August 2014, en.idi.org.il/media/3676239/Peace_In- dex_August_-2014-Eng.pdf. 12 Angaben der NGO Mossawa, 13.8.2014. 13 Haaretz (eng- lischsprachige Ausgabe), 22.7.14, S. 1. 14 Haaretz (englischsprachige Ausgabe), 31.7.2014, S. 1. 15 Haaretz, 15.8.2014, S. 9. 16 Haaretz (englischsprachige Ausgabe), 18.7.14, S. 9. 17 Haaretz, 28.7.14, S. 5 (Editorial). 18 Haaretz (englischsprachige Ausga- be), 8.8.2014, S. 13. 19 McCarthysm in action, Haaretz, 15.8.2014, S. 9. 20 Haaretz, 22.7.2014, S. 4. 21 Haaretz, 30.7.2014, S. 1, und 31. Juli 2014, S. 5. 22 Jerusalem Post, 24.7.2014, S. 7. 23 Vgl. http://972mag.com/the-night-it-became-dangerous-to-demons- trate-in-tel-aviv/93524/. 24 Illouz, Eva: Wir sind abgestumpft, in: Der Spiegel, 32/2014, S. 85. 25 Vgl. www.spiegel.de/international/world/interview-with-sociologist-eva-illouz- about-gaza-and-israeli-society-a-984536.html. 26 Maariv, 16.7.2014, www.nrg.co.il/on- line/1/ART2/597/047.html?hp=1&cat=666&loc=2. 27 Vgl. Times of Israel, 2.9.2014, www.

timesofisrael.com/pa-plan-seeks-new-state-in-west-bank-idf-pullout-within-three-years/.

Es wird erwartet, dass das Abbas-Verhandlungsangebot die Zustimmung der Außenminis- ter der Arabischen Liga erlangt. Sollten Israel und die USA die Kompromissformeln ableh- nen, will Abbas den Internationalen Gerichtshof anrufen. Er droht in diesem Fall gleichzeitig mit dem Rücktritt und mit der Auflösung der Palästinensischen Autonomiebehörde. Israel müsste für die Westbank und Gaza erneut die volle Verantwortung übernehmen; eine drit- te Intifada läge in der Luft. Vgl. Haaretz, 3.9.2014, S. 2. 28 Vgl. www.haaretz.com/news/

diplomacy-defense/.premium-1.613230 (30.8.2014). 29 Netanyahu, 20.8.2014, www.im- ra.org.il/story.php3?id=64701 (4.9.2014).

IMPRESSUM

STANDPUNKTE wird herausgegeben

von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und erscheint unregelmäßig V. i. S. d. P.: Henning Heine

Franz-Mehring-Platz 1 · 10243 Berlin · www.rosalux.de ISSN 1867-3163 (Print), ISSN 1867-3171 (Internet) Redaktionsschluss: September 2014

Lektorat: TEXT-ARBEIT, Berlin

Satz/Herstellung: MediaService GmbH Druck und Kommunikation Gedruckt auf Circleoffset Premium White, 100 % Recycling

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