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Dieses Experiment zeigt: Deutschland ist progressiver als seine Politik

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1 / 9 Katharina Wiegmann / / PD Daily

Dieses Experiment zeigt:

Deutschland ist progressiver als seine Politik

23. März 2021

Was dabei herauskommt, wenn 160 zufällig ausgeloste Menschen Leitlinien für die deutsche Außenpolitik entwickeln.

Stillstand tut selten gut, ob im Privaten oder auf der großen politischen Bühne. Beziehungen verkümmern oder implodieren, wenn sich niemand mehr bemüht. Und auch unsere Demokratie leidet, wenn sich nur noch wenig bewegt. Wie steht es um die Beziehung zwischen den Menschen und ihren gewählten Repräsentant:innen in der gemeinsamen

Unternehmung deutsche Demokratie?

Im Jahr 2019 veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung eine Studie, die ein

»schwindendes Vertrauen« der Bürger:innen gegenüber den politischen Institutionen feststellte. Die repräsentative Umfrage ergab, dass nur etwas weniger als die Hälfte der Befragten (46%) die Demokratie als Prinzip unterstützten und gleichzeitig auch zufrieden mit der gelebten Praxis waren. Ganze 7 Prozentpunkte weniger als noch im Jahr 2017. #1

Immer wieder steht der Vorwurf im Raum, Politik sei Sache einer

abgehobenen Elite. Besonders die AfD bedient sich gern dieses Narrativs.

Und irgendwie hat sie in diesem Punkt ja auch recht.

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Wie sich die Repräsentationslücke schließen lässt

Der Bundestag als zentrales Gremium der parlamentarischen Demokratie repräsentiert die Bevölkerung tatsächlich nicht besonders gut: Gemessen daran, wie sich die Bevölkerung zusammensetzt, sitzen im Reichstag zu wenig Frauen und junge Menschen, zu wenig Menschen mit

Migrationsgeschichte oder Behinderung – und viel zu wenig Abgeordnete, die in ländlichen Regionen leben oder keinen hohen Bildungsabschluss haben. #2 Durch diese Repräsentationslücke entstehen blinde Flecken in der politischen Landschaft. Wichtige Perspektiven fehlen.

Als Patentrezept gegen die Entfremdung sind seit einigen Jahren losbasierte Bürgerräte im Gespräch. Das klingt erst mal nicht nach frischem Wind, eher nach Endlosdebatten in stickigen Amtsstuben. Doch inzwischen hat sich das Konzept in Praxistests bewährt, unter anderem in Irland, wo Beratungen in zufällig ausgelosten Gremien den Weg für landesweite Referenden ebneten, die schließlich die »Ehe für alle« #3 und eine Liberalisierung der Regelungen für Schwangerschaftsabbrüche möglich machten.

In Deutschland setzen sich die Organisationen Mehr Demokratie und Es geht LOS für Bürgerräte ein. Im Jahr 2019 kam der erste deutschlandweite Bürgerrat zusammen, der Ideen entwerfen sollte, wie unsere Demokratie weiterentwickelt und ergänzt werden könnte. Weitere Testläufe mit zufällig zusammengewürfelten Bürger:innen waren eine der

Empfehlungen. Aktuell ist der zweite Versuch zu Ende gegangen: In 10 Onlinesitzungen im Januar und Februar 2021 berieten rund 160 ausgeloste Menschen über Deutschlands Rolle in der Welt. *1

In insgesamt 5 »Reisegruppen« erarbeiteten sie Leitlinien und Empfehlungen zur

› nachhaltigen Entwicklung,

(3)

› zu Wirtschaft und Handel,

› Frieden und Sicherheit,

› Demokratie und Rechtsstaat sowie

› zur Europäischen Union.

Anspruchsvolle Themen für eine Gruppe von Personen ohne

Fachkenntnisse – und das auch noch unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie. Was kann dabei herauskommen?

Von der Mühe, alle mitzunehmen

Alles begann für die 160 Teilnehmenden des Bürgerrats mit einem Brief, der an insgesamt 4.365 Menschen verschickt wurde. *2 Bei vielen landete er wohl ungelesen als vermeintliche Werbesendung im Mülleimer – nur 341 der Angeschriebenen meldeten sich zurück. Daraus sollte ein Abbild Deutschlands im Kleinen erstellt werden, zumindest hinsichtlich des Geschlechts, Wohnorts, Alters, Migrationshintergrunds und

Bildungsabschlusses.

Wie sieht dieser repräsentative Querschnitt Deutschlands Rolle in der Welt? Welche Außenpolitik wünscht er sich? Und mit welchem

Selbstverständnis soll sich Deutschland in der EU und anderen internationalen Institutionen einbringen?

Um fundierte Antworten auf diese und andere Fragen zu finden, bekamen die Teilnehmenden des Bürgerrats zahlreiche Expert:innen an die Seite gestellt, die in kurzen Vorträgen verschiedene Positionen zu Themen wie Friedenssicherung, #4 Handelsbeziehungen oder Migrationspolitik #5 skizzierten.

Wer sich den »Reiseführer« anschaut, #6 den die Bürgerrät:innen im Vorfeld mit auf den Weg bekommen haben und der sie durch den Prozess

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leiten sollte, sieht: Die Initiator:innen haben sich Mühe gegeben, alle mitzunehmen. Die Formulierungen zum Vorgehen – auch auf der Website – sind klar und verständlich, kaum eine Spur von Bürokratiedeutsch und schwierigen Fachbegriffen.

Und doch bleibt die Zugänglichkeit des Ganzen ein Knackpunkt.

Gegenüber dem Deutschlandfunk berichtet eine Bürgerrätin, 19 Jahre alt, Erzieherin in Ausbildung aus Sachsen-Anhalt, dass bei den langen

Sitzungen und den Vorträgen inhaltlich nicht viel hängen geblieben sei. #7 Das Inhaltliche ist ein Aspekt. Bei Bürgerräten geht es aber auch darum, dass sich Menschen auf Augenhöhe begegnen, die im echten Leben vielleicht niemals miteinander ins Gespräch kommen würden. Wir alle bewegen uns in sozialen Filterblasen, die während der Pandemie weiter geschrumpft sind. #8 Doch die Auseinandersetzung mit dem, was uns fremd und unangenehm erscheint, die Erfahrung, trotz unterschiedlicher Haltungen respektvoll miteinander sprechen zu können – das ist es, was eine demokratische Gesellschaft ausmacht.

Was hat der Bürgerrat zu Deutschlands Rolle in der Welt nun konkret erarbeitet? Und was passiert mit den Ergebnissen? #9

Deutschland als »faire Partnerin und Vermittlerin«

Zunächst einmal scheint es, als wäre die Bundesrepublik, zumindest in Gestalt dieses Bürgerrats, wesentlich progressiver und

gestaltungsfreudiger als die aktuelle Politik.

»Deutschlands Rolle in der Welt sehen wir zukünftig als faire Partnerin und Vermittlerin, die gemeinschaftlich mit anderen, insbesondere mit der EU, eine Welt gestaltet, in der auch zukünftige Generationen selbstbestimmt und gut leben können. Dazu setzen wir uns global für Nachhaltigkeit, Klimaschutz, die Wahrung der Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Frieden und Sicherheit ein.« – Leitbild für Deutschlands Rolle in der Welt

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So empfiehlt der Bürgerrat beispielsweise die Verankerung von Nachhaltigkeit im Grundgesetz, ein entsprechendes Ministerium und Lieferkettengesetze für einen fairen Handel, der Menschenrechte achtet.

Überraschend ist die hohe Bereitschaft, Entscheidungsmacht an die EU-Ebene abzugeben – Deutschland solle sich für eine eigenständige europäische Außen- und Sicherheitspolitik einsetzen und dafür, dass dort mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann. Auf der anderen Seite plädiert der Bürgerrat für »Koalitionen der Willigen«, wenn es auf andere Weise nicht vorangeht, wie beispielsweise in der Migrations- und Flüchtlingspolitik.

Alle Empfehlungen sind mit deutlichen Mehrheiten angenommen

worden, die Zahl der Gegenstimmen zu den Punkten zeigt aber an, wo es in den Kleingruppen zu kontroverseren Gesprächen gekommen sein könnte. Am strittigsten (mit 38 Gegenstimmen) war demnach eine Empfehlung, in kulturellen Austausch mit China und in gemeinsame wissenschaftliche Projekte zu investieren. Weniger kontrovers war die Aufforderung, »das gute Verhältnis zu China zu nutzen, um

selbstbewusst Menschenrechte, Umweltschutz und faire

Handelsbeziehungen zu fördern«. Dass sich Deutschland aufgrund seiner historischen Verantwortung und engen kulturellen Beziehung zu

Russland in der EU für ein partnerschaftliches Verhältnis mit dem großen Nachbarn engagieren solle, wurde anscheinend auch heiß diskutiert – mit 117 Stimmen dafür und 25 dagegen aber doch klar angenommen.

Verschiedene Perspektiven sollten gehört werden, doch in einer Ecke, aus der es sonst eher laut tönt, blieb es still. »Rechtspopulistische

Meinungen waren gar nicht vertreten«, erzählt Bürgerrätin Charlotte Felthöfer in einem Webinar zum Bürgerrat über ihre »Reisegruppe« zur Europäischen Union. #10 In einer der Sitzungen waren Vertreter:innen der Bundestagsfraktionen zu Gast, um sich über den Fortschritt des

Bürgerrats zu informieren, eigentlich sollte auch ein AfD-Abgeordneter teilnehmen – er tauchte nicht auf.

Am Ende standen 88% der Bürgerrät:innen hinter dem gemeinsam erarbeiteten Ergebnis. Und die, bei denen das nicht der Fall war, konnten

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immerhin dem Verfahren etwas abgewinnen: 90% zeigten sich zufrieden oder sehr zufrieden, wie der Soziologe Ortwin Renn berichtet, der den Rat mit einem Team zur Evaluation begleitet hat.

Am 19. März wurden die Empfehlungen des Bürgerrats zu Deutschlands Rolle in der Welt dem Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble überreicht. #11 Nun liegt es an der Politik, mit den Empfehlungen etwas anzufangen.

Hier findest du die beiden anderen aktuellen Dailys:

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Zusätzliche Informationen

*1 Das Thema hatte der Ältestenrat des Bundestags festgelegt.

*2 Damit am Ende die gewünschte Zahl von 160 Teilnehmenden erreicht werden konnte, die zudem auch noch einen repräsentativen Querschnitt der deutschen Bevölkerung darstellen, mussten wesentlich mehr Menschen angeschrieben werden. Mehr zum Losverfahren und der Auswahl kannst du hier nachlesen.

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Quellen und weiterführende Links

#1

Studie: »Schwindendes Vertrauen in Politik und Parteien. Eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt?« (2019, PDF)

https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/Projekte/Gese llschaftlicher_Zusammenhalt/ST-LW_Studie_Schwindendes_Vertrauen_i n_Politik_und_Parteien_2019.pdf

#2

Hier findest du Grafiken der Süddeutschen Zeitung über die Zusammensetzung des 19. Deutschen Bundestages

https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/politik/bundestag-diese- abgeordneten-fehlen-e291979/

#3

Ehe für alle? Ich fordere: Ehe für niemanden!

https://perspective-daily.de/article/288

#4

Lies hier, warum es ohne Feminismus keinen Weltfrieden gibt https://perspective-daily.de/article/578

#5

Hier schreibt Peter Dörrie, wie ein Land aussieht, in dem alle Geflüchteten bleiben dürfen

https://perspective-daily.de/article/261

#6

Reiseführer für den Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt (PDF) https://www.buergerrat.de/fileadmin/downloads/reisefuehrer.pdf

#7

Den Beitrag von Charlotte Bernstorff kannst du hier nachhören

https://www.deutschlandfunkkultur.de/buergerraete-in-deutschland- die-demokratieverstaerker.1076.de.html?dram:article_id=493911

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#8

Die Soziologin Jutta Allmendinger spricht im Interview darüber, warum das unserer Gesellschaft nicht guttut

https://perspective-daily.de/article/1611

#9

Das Gutachten kannst du hier herunterladen (PDF)

https://deutschlands-rolle.buergerrat.de/fileadmin/downloads/buer gergutachten2021.pdf

#10

Das Video kannst du dir auf der Facebooksite der ZEIT-Stiftung ansehen (2021)

https://www.facebook.com/watch/live/?v=264801975223353&ref=watch_

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#11

Die Ergebnisübergabe kannst du dir bei Youtube ansehen https://www.youtube.com/watch?v=R6XXjKMoZII

Referenzen

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