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Archiv "Legasthenie: Langsam – richtig – sicher" (03.04.2009)

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A650 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 14⏐⏐3. April 2009

T H E M E N D E R Z E I T

L

iebe Frau Wulf, vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich mache jetzt viel weniger Rechtschreibfehler.“

Neben dem kurzen Brief klebt an der Pinnwand das Foto eines Jungen, der verschmitzt in die Kamera lächelt. Auch andere Schüler ha- ben Marion Wulf, Fachkraft der Bornholmer Grundschule für Lese- Rechtschreib-Schwierigkeiten, Kar- ten geschrieben, die die Lehrerin liebevoll an die Wand des Klassen- raums gehängt hat. Die Ausstrah- lung der zierlichen Frau ist gelas- sen, aber sehr freundlich bestimmt.

Wem sie sich zuwendet, dem wid- met sie ihre ungeteilte Aufmerk- samkeit. Vermutlich ist es vor allem das, was die Kinder neben ihren kla- ren Arbeitsanweisungen und ihren geduldigen fachlichen Ausführun- gen an ihr so mögen. „Sie wird nie laut und macht mir immer Mut“, sagt Béla-Maximilian aus der fünf- ten Klasse. Die meisten Schüler kommen geknickt und psychisch an- gegriffen zu ihr in die Kurse, man- che treten aggressiv auf, andere in- trovertiert. Jedes Kind hat seine indi- viduellen Lese-Rechtschreib-Schwie- rigkeiten und eigene Strategien, da- mit umzugehen. Legasthenie gehört zu den häufigsten Entwicklungs- störungen, fünf Prozent der Schul- kinder sind nach Auskunft vom Bun- desverband Legasthenie und Dyskal- kulie (BVL) von einer Lese-Recht- schreib-Störung (LRS), wie sie in der ICD-10 der Weltgesundsheitsorga- nisation beschrieben wird, betroffen.

Eins jedoch ist allen Kindern ge- meinsam, die in Wulfs Klassenraum kommen, sie haben schmerzliche Lernerfahrungen gemacht: Trotz flei- ßigen Übens und Unterstützung der Eltern erlernen sie die genannten Fähigkeiten nicht oder nicht so gut und schnell wie ihre Mitschüler. Sie machen unter anderem viele Fehler

in Diktaten, haben Schwierigkeiten, Buchstaben richtig zu benennen, das Alphabet aufzusagen, Texte von der Tafel abzuschreiben, ersetzen Wörter durch in der Bedeutung ähn- liche Wörter. Die Probleme beim Lesen zeigen sich im Auslassen, Er- setzen oder Hinzufügen von Wör- tern oder Wortteilen, einer geringen Lesegeschwindigkeit, im häufigen Verrutschen in der Textzeile und mangelndem Leseverständnis mit

der Folge, den Sinn des Gelesenen nicht zu erfassen. Die Betroffenen sind frustriert, fühlen sich dumm, ausgegrenzt, als Versager. Erst recht, wenn sich Mitschüler lustig machen oder Lehrer sich völlig unangemes- sen verhalten.

„Hier erholen sie sich schnell, die Augen glänzen wieder“, berichtet Wulf über die Kinder, die entweder im wöchentlichen Förderunterricht oder in den dreimal pro Jahr statt- findenden Intensivkursen gefördert werden. Methodische Grundlagen für Wulfs Arbeit sind der „Kieler Leseaufbau“ und der „Kieler Recht- schreibaufbau“. Sie nimmt nach dem Motto „Langsam – richtig – sicher“ das hohe Tempo aus dem Lernprozess und zerlegt das Gesamt- system Sprache sinnvoll in die Ein- zelteile Buchstabe, Silbe, Wort und Satz. Vor allem überschaubare Stoff- und Zeiteinheiten sowie die ent- spannte Lernsituation in der Klein- gruppe sind wichtig. Aber neben dem Erarbeiten geeigneter Lernstrategien und dem Aufzeigen strukturierter Ar- beitsmethoden geht es aus ihrer Sicht vor allem auch darum, die Kinder für ihre Erfolge zu loben, ihnen Mut zu machen und ihr Selbstvertrauen zu stärken. „In manchen Situationen genügt es, dem Kind vertrauensvoll eine Hand auf die Schulter zu legen“, erzählt Wulf.

„Der Schule kommen zentrale Aufgaben zu“, sagt Prof. Dr. med.

Gerd Schulte-Körne, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsy- chiatrie, Psychosomatik und Psy- chotherapie der Ludwig-Maximili- ans-Universität München. Die Ver- mittlung der Schriftsprache liegt bei der Schule, das bedeutet, dass vor allem Lehrer das Auftreten von Schwierigkeiten im Lesen und/oder der Rechtschreibung bemerken, er- kennen, beschreiben und die entspre- LEGASTHENIE

Langsam – richtig – sicher

Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibstörung sollten eine individuelle Förderung erhalten. Häufig fehlt an den Schulen die Zeit: Das Ambulanzzentrum für Lese-Recht- schreib-Schwierigkeiten in Berlin-Pankow setzt sich für betroffene Schüler ein.

Foto:Susanne Hartung

In manchen Situationen genügt es, dem Kind vertrauensvoll

eine Hand auf die Schulter zu legen.

Marion Wulf, Fachkraft der Bornholmer Grundschule

für Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 14⏐⏐3. April 2009 A651

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chende Förderung des Kindes be- wirken sollten. Eine Legasthenie beeinflusst die schulische, psychi- sche und soziale Entwicklung der betroffenen Kinder nachhaltig, zu- mal der Verlauf dieser Entwick- lungsstörung oft chronisch ist. In jedem Bundesland ist der Anspruch hinsichtlich Diagnostik und Förde- rung von Kindern mit Legasthenie anders geregelt. Detaillierte Aus- künfte darüber und über den gegebe- nenfalls geltenden Notenschutz für das legasthenische Kind geben die Kultusministerien.

Wulf, Grundschullehrerin für Deutsch, Mathematik und Sport, verfügte schon über zwölfjährige Erfahrungen mit Entwicklungsver- zögerungen im Lesen, Schreiben und Rechtschreiben, als sie 2003 Ambulanzlehrerin-LRS im Netz- werkprojekt des Bezirks Pankow wurde. Vor allem die Schulrätin Ga- briele Münzberg hat maßgeblich an der Umsetzung dieses Projekts mit- gewirkt. An vier Pankower Grund- schulen gibt es jeweils ein LRS- Ambulanzzentrum, das mit sieben bis acht weiteren Grundschulen aus

dem Bezirk zusammenarbeitet. An den jeweiligen Schulen sind speziell ausgebildete LRS-Lehrkräfte tätig, die entweder für die zweite bis vier- te oder für die fünfte und sechste Jahrgangsstufe zuständig sind. Sie fördern die Kinder mit Auffälligkei- ten im Lesen und/oder Rechtschrei-

ben, diagnostizieren gemeinsam mit den Ambulanzlehrerinnen-LRS den Förderbedarf, stellen die individu- ellen Förderpläne auf und führen Elternberatungen durch. Für einen Teil der Kinder wird die Möglich- keit zum Besuch der Intensivkurse eröffnet, die in den Ambulanzzen- tren parallel dreimal pro Schuljahr etwa zwölf Wochen lang in großen Räumen mit bester Computer- und Materialausstattung stattfinden. Die Gruppen bestehen aus zehn bis zwölf Kindern. Münzberg verfolgt gemeinsam mit den Lehrern und

Schulpsychologinnen das Ziel, möglichst früh eine positive Ein- flussnahme auf Kinder mit Auffäl- ligkeiten beim Lesen- und Schrei- benlernen zu nehmen. Sie will die Kompetenzen der Kinder stärken, Störungen im Sozialverhalten ver- hindern, Schulangst vermeiden, die

Klassenlehrerinnen entlasten, die in einer großen Lerngruppe diese För- dermöglichkeiten nicht haben.

„Der Förderunterricht für unser Kind in der Bornholmer Grund- schule ist ein Sechser im Lotto“, sagt die Mutter eines Elfjährigen.

„Wir könnten ihm das aus finanziel- len Gründen nicht ermöglichen.“

Etwa 140 Kinder mit Lese-Recht- schreib-Störungen bekommen im Bezirk Pankow pro Schuljahr die Möglichkeit, an dem LRS-Förder- programm teilzunehmen. I Ulrike Hempel

Was ist besonders wichtig bei der Arbeit mit den betroffenen Kindern und deren Familien?

Ute Mendes:Vor Beginn einer Förderung be- darf es einer umfangreichen Diagnostik. Dazu gehört neben einer Intelligenz- und Teilleistungs- diagnostik (Lese- und Rechtschreibtests) der Ausschluss organischer Ursachen. Weiterhin müssen komorbide (zum Beispiel ADHS) bezie- hungsweise sekundäre psychische Störungen (zum Beispiel Angststörungen) abgeklärt wer- den. Die Behandlung von Kindern mit einer LRS erfordert eine enge, inhaltlich abgestimmte Zu- sammenarbeit zwischen Schule, Elternhaus und gegebenenfalls Lerntherapeuten, Kinder- und Jugendpsychiater oder Psychologen.

Was passiert, wenn eine LRS nicht erkannt wird?

Mendes:Kinder, deren LRS (in der Schule) nicht erkannt wird, leiden häufig an psychoso- matischen Beschwerden, Ängsten oder depres-

siven Verstimmungen. Sie zeigen oft eine große Misserfolgsempfindlichkeit und ein niedriges Selbstwertgefühl. Schulisch droht eine fächer- übergreifende Leistungsminderung (trotz aus- reichender Intelligenz) bis hin zu einem gene- rellen Scheitern. Die Diagnosestellung und Auf- klärung der Eltern, der Lehrer und des Kindes führen oft schon zu einem Rückgang der Folge- störungen, besonders wenn die Kinder dann auch gezielt gefördert und (zum Beispiel durch Notenschutz) entlastet werden. Wichtig ist es, das Vorliegen einer LRS auch dann zu bedenken, wenn zunächst eine andere Problematik geschil- dert wird. Zum Beispiel werden Kinder mit dem Verdacht auf ein ADHS vorgestellt, bei denen sich die Überforderung infolge einer LRS als Ursache der Konzentrationsschwäche erweist.

Wie beraten Sie die Kinder und ihre Eltern?

Mendes:Die Kinder halten sich häufig für dumm. Sie empfinden es als entlastend, wenn

jemand ihr Leistungsvermögen in anderen Bereichen sieht und ihre großen Anstrengun- gen anerkennt. Vor den Eltern liegt meist ein schwerer Weg. Sie müssen lernen, an ihr Kind angemessene Anforderungen zu stellen und individuelle Fortschritte zu sehen. Spezielle schulische Fördermaßnahmen sind nicht überall in ausreichender Qualität und Quan- tität verfügbar. Durch eine außerschulische Lerntherapie entstehen jedoch Kosten, die von den Krankenkassen nicht übernommen wer- den, obwohl LRS eine Diagnose nach der ICD- 10 ist. Eine Finanzierung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (§ 35 a SGB VIII) ist möglich, wenn dem Kind eine „seelische Be- hinderung“ droht oder diese infolge der LRS bereits eingetreten ist und ihre „Teilhabe am Leben in der Gesellschaft“ beeinträchtigt ist.

Eltern müssen für die Rechte ihrer Kinder kämpfen und sind dabei auf Unterstützung angewiesen.

3 FRAGEN AN …

Dr. med. Ute Mendes, Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie am Sozialpädiatrischen Zentrum, Vivantes-Klinikum im Friedrichshain, Berlin

Der Förderunterricht für unser Kind in der Bornholmer Grundschule ist ein Sechser im Lotto.

Mutter eines elfjährigen Sohnes, der an einer Lese- und Rechtschreibstörung leidet

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