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ODEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Leserdienst
Rabbi Rosenbachs schlitzohrige Erben
Auf dem Grabstein des berühmten Rabbi Schloime Rosenbach aus der Bukowina steht folgender Sinn- spruch: „Wahrheit ist das wertvollste aller Güter und soll gehandhabt wer- den mit Sparsamkeit und Zurückhal- tung." Mit der Erinnerung an Rabbi Rosenbachs famose Weisheit beginnt und endet Kaminskis Roman, den man auch für eine Biografie halten kann;
denn offensichtlich hat Kaminski die Geschichte und die Geschichten um seine eigenen Großväter (und deren Sippen) aufgearbeitet. Die eine Sippe, das sind die Rosenbachs. Großvater Leo, einen herausgeputzten Zwerg und ehemaligen Hoffotografen Lud- wigs II. von Bayern, hat es ins K.u.k.- Polen verschlagen. Zeitlebens ringt er um Geld und um die Liebe seiner schönen Frau. Die freilich verwindet nie, daß sie Leo nur wegen eines vä- terlichen Machtwortes geehelicht hat.
Kaminski selbst scheint mit dem Groß- vater mütterlicherseits wohl auch
„Und Isaak säte in seinem Lande und erntete in je- nem Jahr hundertfältig, denn der Herr segnete ihn ...". Aus diesem Bi- belspruch leitet sich der Name von Mea Shearim ab, das vor über hundert Jahren von orthodoxen Juden erbaut wurde. De- ren weltabgewandte Le- bensformwirdsehreinfühl- sam geschildert in: Amos Schliack, Henryk M. Bro- der: Die Juden von Mea Shearim, Ellert & Richter Verlag, 1986, 21 x28 cm, 48 Seiten, 21 farbige Abbil- dungen, 19,80 DM).
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 21 vom 21. Mai 1986 (93) 1563
nicht so recht einverstan- den zu sein, ihm wäre des- sen Bruder Nenner, ein ga- lanter Taugenichts, als Vor- fahr lieber gewesen. Doch wer weiß, vielleicht war Henner tatsächlich der leibliche Großvater ...
Beherrschende Figur der anderen Sippe ist der Tex- tilfabrikant Jankl Kaminski aus Warschau, ein jüdi- scher Patriarch wie er im Buche steht. Neben einem halben Dutzend Töchtern nennt er elf Söhne sein ei- gen. Die aber schlagen nicht in Vaters Sinn aus;
sie entpuppen sich als anti- zaristische Revolutionäre.
Auf der Flucht gelangen sie endlich nach Amerika, wo sie als Fußballmannschaft zu kurzem aber heftigen Ruhm gelangen.
Nur soviel von der fabelhaf- ten Story. Wie sich die Sip- pen schließlich finden — diesen umwegreichen Weg mag der Leser selbst ver- folgen. Er wird sein Ver- gnügen dabei haben. NJ Andre Kaminski: Nächstes Jahr in Jerusalem, Roman, In- sel, Frankfurt, 1986, 392 Sei- ten, 38 DM
Die „Leseratten"
überleben
Eine Rättin hatte der Erzäh- ler des Buches sich ge- wünscht, und unter dem Weihnachtsbaum in einem Käfig sitzend hatte er sie schließlich vorgefunden.
Im Traum — so scheint es — wird er nun ständig aufs neue in Gespräche mit ihr verwickelt. Der Dialog durchzieht das ganze Buch.
Das Ende aller mensch- lichen Geschichte habe schon stattgefunden, be- hauptet die Rättin aus ihrer Zukunftsperspektive als einzig überlebende Spe- zies — herbeigeführt durch die Verantwortungslosig- keit des Menschen, die sich in der Umweltverschmut- zung, atomaren Vernich- tungsmethoden, unkon- trollierbaren Kernkraftwer- ken und falschverstande- nem Einsatz der Gentech- nologie bereits aufs tra- gischste äußert. Aus der Sichtweise der Gegenwart versucht der Erzähler mit verzweifeltem Wortreich-
tum, mit erfundenen und wahren Geschichten, mit hohlen Argumenten und gedämpften Utopien leise dagegen zu protestieren.
Das letzte Wort aber scheint die Rättin zu ha- ben. Oder Günter Grass?
Wollte er mit seinem Buch wirklich einen „Endzeitro- man" verkünden? Ver- stand er es nicht doch viel- leicht als Lehrstück zur
„Erziehung des Menschen- geschlechts" (G. E. Les- sing)?
Die Kritik am Roman war bisher gespalten und reich-
te von höchster Lobprei- sung bis zu schroffster Ab- lehnung (B. Pinkerneil).
Doch verübelten die Litera- turkritiker gerade den be- lehrenden Aspekt seines
„Verantwortungsbuches"
(G. Schäble im „Spiegel"), dessen vorherrschende Stimmung nichts als „Ent- täuschung, Resignation, Hoffnungslosigkeit" übrig- lasse (M. Reich-Ranicki in der FAZ). Der Vorwurf,
„aus seiner eigenen Misere eine allgemeine machen zu wollen" (M. Reich-Ranicki) läßt gar den Verdacht auf- kommen, daß mancher Li- teraturkritiker sich von der Kritik am Zeitgeschehen re- signiert abgewendet hat.
Doch Günter Grass wußte, daß er „in eine Zeit hinein- schreibt", „in der es Leser gibt, aber ... keine Litera- turkritiker mehr. Man kann nur hoffen, daß die Leser mündig genug sein wer- den." (G. Grass). Mit einem Stil von besonderer Sprachkraft, einem ab- wechslungsreichen Aufbau aus mehreren Erzählsträn- gen und mit lyrischen Ein- schüben kommt der Autor dem Leser ein Stückweit entgegen. Ob der Leser die Herausforderung an-