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I In die richtigen Bahnen lenken

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© 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 1617-9439/13/0505-31 Physik Journal 12 (2013) Nr. 5 31 Die Mikrofluidik und Lab-on-a-Chip-Konzepte ver-

sprechen, große Bereiche der Biophysik zu revolutio- nieren. Denn sie ermöglichen Reihenuntersuchungen auf Ebene einzelner Zellen bei gleichzeitigem Stu- dium der Variabilität innerhalb einer ganzen Zell- population. Biophysikalische Prozesse lassen sich so quantitativ beschreiben und verstehen. Grundlage sind Methoden, um Strömungen im kleinen Maßstab zu beeinflussen. Diese könnten sich auch in anderer Weise kreativ nutzen lassen, etwa zur Massenfabrika- tion komplexer mikroskopischer Objekte oder sogar, um neue Materialien und funktionale Mikro-Maschi- nen zu entwickeln.

I

n der Mikrofluidik geht es darum, extrem kleine Flüssigkeitströpfchen in 10 bis 100 Mikrometer dünnen Kanälen mit hoher Frequenz zu kontrol- lieren, typischerweise in dafür entwickelten Chips.

Die kleinen Volumina erlauben es dabei, wenige Moleküle hoch zu konzentrieren. Gleichzeitig ist es möglich, kleine Tröpfchen mit hoher Frequenz zu manipulieren. Dies hat zur Idee geführt, ganze mini- aturisierte Chemie- oder Biochemielabors effizient auf einen Chip zu packen („Lab on a Chip“). Davon erwartet man enorme Auswirkungen auf die Biowis- senschaften. Eine der ersten Anwendungen, die sich die kleinen Volumina und hohen Geschwindigkeiten zu Nutze machen, sind Reihenuntersuchungen mit hohem Durchsatz („high-throughput screening“).

Dabei lassen sich schnell viele Bedingungen, z. B.

die chemische Konzentration, durchtesten. Wie der amerikanische Chemiker George Whitesides in einem vielbeachteten Übersichtsartikel [1] schreibt, ist die Entstehung der Mikrofluidik mit zwei wesentlichen Entwicklungen verknüpft:

n Zum einen ergab sich in der Forschung unter dem Eindruck der immer besseren Verfügbarkeit gene- tischer Information die Notwendigkeit, Reihenunter- suchungen der Biochemie weniger Zellen unter vari- ablen Bedingungen zu studieren. Das motivierte die Entwicklung miniaturisierter Experimente.

n Gleichzeitig gelang es, Chips statt aus Glas schneller und kostengünstiger aus Kunststoff herzustellen, in- dem man die in der Silizium-Technologie entwickelten photolithographischen Methoden für die Konstruktion von Mikrokanälen einsetzte: Bei der „soft lithogra- phy“ werden die Negative der gewünschten Kanäle

und anderer Strukturen lithographisch erzeugt und die so gebildeten „Formen“ mit flexiblem Kunststoff ausgegossen. Damit lassen sich Chips relativ einfach, zuverlässig und mit überschaubarem experimentellen Aufwand herstellen.

Aus der Motivation, Microchips für Reihenunter- suchungen wie in der Biochemie zu entwickeln, hat sich die Mikrofluidik mittlerweile als eigenständiges Forschungsfeld etabliert. Inzwischen ist es gelungen, sämtliche Elemente einer ganzen chemischen Anla- ge auf Mikroskala zu entwickeln [2]: Kanäle, Ventile, Mixer und Pumpen. Die bisherige Forschung hat dabei gezielt darauf hingearbeitet, diese Elemente zu optimieren. An vielen Stellen sind dabei spannende

In die richtigen Bahnen lenken

Wie Strömungs felder komplexe Objekte formen können Tobias M. Schneider

A N G E WA N D T E P H Y S I K

K O M PA K T

n Mikrochips für Reihenuntersuchungen ermöglichen Fortschritte in der Biochemie. Essenzielle Vorausset- zung ist die Mikrofluidik, mit der sich Strömungen auf kleinen räumlichen Skalen kontrollieren lassen.

n Eine weitergehende Anwendung der Strömungsbeein- flussung ist es, Teilchen durch Strömungsfelder so zu transportieren, dass sie komplexe Strukturen bilden.

Die erforderlichen Trajektorien lassen sich berechnen.

n Für die Realisierung geht es nun darum, die einzelnen Teilchen zunächst gezielt zu positionieren und dann fest an eine wachsende Struktur zu binden.

Dr. Tobias M.

Schneider, Max- Planck-Institut für Dynamik und Selbst- organisation, Am Fassberg 17, 37077 Göttingen In einem Mikrofluidik-Experiment werden Strömungen auf

Mikro meter-Skala kontrolliert: Flüssigkeiten gelangen durch dünne Schläuche in einem aus Kunststoff hergestellten Mikro- chip. Derzeit wird untersucht, wie sich durch gezielte Beein- flussung der Strömungsfelder, komplexe Strukturen aus ein- fachen Bausteinen zusammen setzen lassen.

Jean-Christoph Baret, MPIDS Göttingen

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3 Physik Journal 12 (2013) Nr. 5 © 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Fragen aufgetaucht, da sich beim Übergang von makroskopischen zu mikroskopischen Systemen die Physik ändert. So dominieren im Mikrobereich zum Beispiel Kapillarkräfte, während – anders als auf der Makroskala – Gravitation vernachlässigbar ist. Außer- dem sind die Strömungen in Mikro kanälen im Gegen- satz zu großen Rohren laminar, sodass das Mischen zweier Flüssigkeiten rein diffusiv stattfinden muss und Turbulenz, wie beim Mischen von Milch und Kaffee, keine Rolle spielt.

Reihenuntersuchungen in hoher Geschwindig- keit und mit geringen Stoffmengen wären ohne die Mikro fluidik nicht möglich. Doch die faszinierenden Metho den zur Strömungsbeeinflussung, eröffnen wei- tere, möglicherweise revolutionäre Anwendungen auf kleinen Skalen. Eine dieser Ideen ist die im folgen den diskutierte Mikrofabrikation, bei der kleine Einzel- teile in entsprechend kontrollieren Strömungsfeldern transportiert werden, um sie zu komplexen Strukturen zusammenzufügen. Dies würde im Idealfall die Kon- struktion neuartiger Materialien und mikroskopischer Maschinen ermöglichen. Gleichzeitig kann eine ent-

scheidende Einschränkung aktueller Lab-on-a-Chip- Konzepte beseitigt werden: Derzeit ist ein solcher Chip noch für das tausendfache Durchführen desselben Re- aktionsschrittes optimiert und besitzt damit nicht die Flexibilität eines makroskopischen Labors. In Kombi- nation mit kontrollierbaren Strömungsfeldern würden sich dagegen unterschiedliche Protokolle in beliebiger Reihenfolge abarbeiten lassen.

Geschickt manipuliert

Aus Lego-Bausteinen können schon Kinder fast be- liebig komplizierte Objekte bauen. Die Frage ist aber, wie dies auf Skalen funktioniert, auf denen sich die Einzelteile nicht mehr direkt manipulieren lassen.

Gerade in biologischen Systemen gibt es viele faszi- nierende Beispiele, in denen dieses Zusammensetzen fast „von selbst“ und ohne erkennbare Kontrolle geschieht. So entstehen stabile geschlossene Hüllen, in denen das Erbgut eines Virus verpackt ist, indem sich einzelne Proteine in definierter Position an ihre Nachbarn anlagern und dadurch Hüllen definierter Größe und Symmetrie formen. Ansätze zur Bildung künstlicher Strukturen, die diesen Prozess imitieren und zurzeit intensiv erforscht werden, basieren mehr- heitlich darauf, selektive Wechselwirkungen zwischen den Konstituenten zu erzeugen []. In diesen Fällen ist die gewünschte Struktur der Zustand niedrigster Energie. Dieser kann sich ohne jegliche Kontrolle ein- stellen, wenn thermische Fluktuationen das System ins Energieminimum treiben. Allerdings lässt sich dieser Ansatz des „Self-Assembly“ schwer auf künstliche Sys- teme übertragen, da neben dem globalen Energiemini- mum, das der gewünschten Struktur entspricht, häufig viele weitere, lokale Energieminima vorhanden sind.

Viele unerwünschte metastabile Zustände erschweren es somit, den Grundzustand zu finden und die ge- wünschte Struktur zu bilden. Daher schlagen wir hier einen alternativen Ansatz vor, bei dem in Strömungs- feldern Teilchen entlang vorgegebener Trajektorien transportiert werden und sich dadurch zu komplexen Strukturen zusammenfügen lassen [–].

Könnte man beliebige orts- und zeitabhängige Ge- schwindigkeitsfelder υ ( x , t) erzeugen, so ließen sich Objekte entlang passender Trajektorien steuern und a

b

a b

Abb. 2 Teilchen können von ihrer Anfangsposition längs unterschiedlicher Bahnen zur gewünschten Endposition ge- langen. Die Flussraten längs der Bahn sind dabei so einge- stellt, dass das Strömungsfeld alle Teilchen zu jeder Zeit mit vorgegebener Geschwindigkeit transportiert. Für eine mar- kierte Teilchen position sind die instantanen Flussraten sowie die Strömungslinien des Geschwindigkeitsfeldes dargestellt.

Die Flussraten, die zu geradlinigen Bahnen mit konstanter Geschwin digkeit führen (a), können allerdings unbeherrsch- bar groß werden. Dies verhindern optimierte Trajektorien (b):

Trotz identischem Zeitaufwand reduzieren sich die benötigten Flussraten dabei um fast zwei Größenordnungen.

Abb. 1 In einer fla- chen, flüssigkeits- gefüllten Zelle (a) bewegen sich fünf Teilchen entlang der Stromlinien eines Strömungs- feldes (b). Dieses entsteht durch die

„Ports“ am Rand, welche die Fluss- raten vorgeben.

Die zeitliche Varia- tion der Flussraten (durch die Dicke der Pfeile reprä- sentiert, rot; Injek- tion, blau: Extrak- tion) erlaubt es, Teilchen entlang vorgegebener Bah- nen zu steuern.

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© 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Physik Journal 12 (2013) Nr. 5 33 zu beliebigen Strukturen zusammensetzen. Allerdings

müssen in einem Geschwindigkeitsfeld Masse und Im- puls erhalten bleiben [7]:

Δ

· υ = 0; – Δ p + μ Δ 2

υ + ρ b = 0, (1) wobei p der Druck, ρ die Dichte, μ die Viskosität der Flüssigkeit und b antreibende Volumenkräfte sind.

Damit stellt sich die Frage, welche Geschwindigkeits- felder erzeugt werden können und welche Strukturen möglich sind. Die Strömung lässt sich entweder durch Volumenkräfte antreiben (magnetische Felder, optische Pinzetten etc.) oder indem Flüssigkeit durch kleine Öff- nungen mit vorgegebener Rate in die Strömungszelle hinein- oder herausgepumpt wird. Wir analysieren die technologisch einfachere Situation, bei der die Strö- mung durch vorgegebene Flussraten in Eingängen am Rand der geschlossenen und komplett mit Flüssigkeit gefüllten Domäne entsteht, das heißt für b  = 0.

Befinden sich N Teilchen in einem Strömungs- volumen an Positionen x j, j = 1 … N, und wird die Geschwindigkeit an M diskreten Eingängen mit Strömungsraten fk = n · υ k ΔS erzeugt ( n entspricht der Normalen, ΔS dem Querschnitt der Öffnungen), so werden die einzelnen Teilchen mit der lokalen Fluid- geschwindigkeit transportiert, wenn keine externen Kräfte auf sie wirken. Im Grenzfall kleiner Reynolds- Zahlen sind die Navier-Stokes-Gleichungen linear.

Entsprechend hängen die Teilchengeschwindigkeiten linear von den kontrollierten Strömungsraten ab. Diese Tatsache lässt sich als

˙

x _ = M ____ ( x _ ) · f _ (2) ausdrücken, wobei x _ = [ x 1,   x …  x N] die Teilchenposi- tionen und f _ = [ f1, f2, …, fM] die kontrollierten Raten sind. Die Komponenten der Matrix M ____ hängen nicht nur von der Position des Teilchen x _ , sondern auch von der Geometrie der Zelle ab und lassen sich numerisch (in gewissen Näherungen auch analytisch) berechnen.

Mit geeigneten zeitabhängigen Strömungsraten, die sich durch Invertieren von Gl. (2) ergeben, sind vor- geschriebene Trajektorien möglich. Ob sich eine Teil- chen-Trajektorie realisieren lässt, hängt also davon ab, inwieweit M ____ längs der gesamten Bahn invertierbar ist.

Eine notwendige Voraussetzung dafür ist, dass es min- destens so viele unabhängige Strömungsraten gibt wie Freiheitsgrade, die man kontrollieren möchte: Um N Teilchen in drei Dimensionen zu steuern, sind 3N + 1 Ports erforderlich, in 2D sind es entsprechend 2N + 1 Ports. Der zusätzliche Port ist notwendig, weil die Strö- mungsraten sich in der geschlossenen Zelle aufgrund der Volumenerhaltung zu null addieren und sich daher nur 3N Raten unabhängig voneinander wählen lassen.

Diese algebraischen Bedingungen reichen in der Praxis allerdings nicht aus. Der kontrollierte Transport vieler Einzelobjekte kann unrealistisch große Strö- mungsraten erfordern. Um die zusätzlichen Bedin- gungen zu untersuchen, betrachten wir die Strömung in einer quasi-zweidimensionalen Geo metrie. Eine

runde flache Zelle, bei welcher der Plattenabstand H viel kleiner als die lateralen Abmessungen ist, ist voll- ständig mit einer Flüssigkeit gefüllt und mit einem De- ckel verschlossen (Abb. 1a). Das Fluid kann durch Ports am Rand mit vorgegebenen Raten hinein- bzw. heraus- strömen (Abb. 1b). Bei einer ausreichend flachen Schale ist es möglich, die Strömungsfelder in der „Hele-Shaw- Näherung“ geschlossen anzugeben und die Elemente der Matrix M ____ analytisch zu berechnen (Infokasten).

Will man z. B. fünf Objekte durch elf Strömungs- raten von gegebenen Anfangs- zu Endpunkten trans- portieren, werden die Trajektorien festgelegt und mittels Gl. (2) die Raten f _ (t) berechnet. Sollen sich die Teilchen mit konstanter Geschwindigkeit entlang einer Geraden bewegen, führt dies jedoch zu unrealistisch großen Raten, da sich die einzelnen Teilchen in diesem Fall bei großer Relativgeschwindigkeit sehr dicht annä- hern (Abb. 2a). Ist die relative Geschwindigkeit festgelegt, so divergieren die im Strömungsfeld zu erzeugenden Gradienten mit dem inversen Teilchenabstand. Dies erzeugt wiederum hohe Raten und äußert sich in einer schlecht konditionierten Matrix M ____ . Natürlich kann man stattdessen Trajektorien wählen, bei denen sich die einzelnen Teilchen möglichst nur dann nahe kommen, wenn ihre Relativgeschwindigkeit klein ist. In diesem Fall bleiben die erforderlichen Gradienten begrenzt.

Formal lassen sich solche Trajektorien als Lösung eines Optimierungsproblems mittels variationeller Metho- den berechnen. Die in Abb. 2b dargestellte Trajektorie minimiert die Energiedissipation unter Beibehaltung der für den Transport erforderlichen Zeit und reduziert die Strömungsraten um fast zwei Größenordnungen.

Leider lässt sich dieser Ansatz trotz Optimierung nicht auf beliebig viele Teilchen erweitern. Denn die

S T R Ö M U N G S F E L D E I N E R Z E L L E

Für die typische Geometrie einer Zelle [8], bei der die Höhe H klein gegen- über den lateralen Größe ist, lässt sich die Hele-Shaw-Näherung [9] an- wenden. Das Geschwindigkeitsfeld ist gegeben durch

u = – ___ 12µ H2 Δ p; Δ 2 p = 0 (3) wobei u die über die Spaltbreite ge- mittelte Geschwindigkeit bezeichnet.

Das Druckfeld p löst die Laplace-Glei- chung mit am Rand vorgegebenen Geschwindigkeitsgradienten bzw.

Drücken. Damit ist die Fluidgeschwin- digkeit an einer Stelle x eine lineare Funktion der am Rand vorgegebenen Geschwindigkeiten.

Für eine runde Domäne mit Radius

a und Raten fk, die an M Ports an Posi-

tionen R k vorgegebenen werden er- gibt sich ein Geschwindigkeitsfeld

u ( x ) = – ___ πH 1

k = 1

M

x – R k

( x – R k)2

–––––––– fk B ____ ( x ) . f _ . (4) Ein Teilchen bewegt sich proportional

zur lokalen Fluid Geschwindigkeit ˙ x = β u ( x ), wobei der Koeffizient β von Größe und Form des Teilchens ab- hängt [9].

Diese lineare Abhängigkeit von der mittleren Geschwindigkeit folgt unmittelbar aus der Linearität der Stokes-Gleichungen, wobei der Ko- effizient sich in zwei Situationen berechnen lässt: (1) Teilchen, die klein gegenüber dem Plattenabstand H sind, bewegen sich mit der lokalen Geschwindigkeit, die von der „Höhe“

abhängt. (2) Für Teilchen deren Größe mit H vergleichbar ist bricht die der Hele-Shaw-Näherung zugrunde lie- gende Längen skalentrennung zusam- men. Nun ergibt sich die Konstante durch Lösen der 3D-Stokes-Gleichung um das Teilchen bei gleichzeitigem Matchen der Lösung mit dem parabo- lischen Hele-Shaw-Profil im Fernfeld.

Hiermit lässt sich die Matrix M ____ durch Kombination der N Matrizen B ____ ( xi ) für die einzelnen Teilchenpositionen kon- struieren.

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3 Physik Journal 12 (2013) Nr. 5 © 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Amplitude der Strömungsfeldmoden, die durch Ma- nipulation der Ein- und Ausflüsse am Rand der Zelle angeregt werden, fällt vom Rand her ab. Die charak- teristische Länge dieses Abfalls ist proportional zum Abstand der Ports und skaliert damit invers mit ihrer Anzahl. Da mehr Teilchen auch mehr Ports erfordern, lassen sich mit realistischen Flussraten nicht beliebig viele unabhängige Teilchen simultan kontrollieren.

Um diese Beschränkung zu umgehen und komplexe Strukturen aus beliebig vielen Einzelkomponenten zu formen, ist es erforderlich, die Anzahl der über das Strömungsfeld kontrollierten Freiheitsgrade von der Anzahl der Teilchen in der zu bildenden Struktur zu entkoppeln. Eine Möglichkeit besteht darin, die Struk- tur sequenziell zu formen: Ein Teilchen nach dem anderen wird schrittweise zur wachsenden Struktur hinzugefügt und irreversibel an sie gebunden, beispiels- weise durch chemisches „Verkleben“ (Abb. ). Um die Position der Struktur zu kontrollieren, sind zwei Frei- heitsgrade nötig. Gleichzeitig muss man die Teilstruk- tur rotieren und dadurch ihre Orientierung einstellen.

Da im Strömungsfeld keine Wirbel auftreten können, erfordert dies einen Stagna tionspunkt in der Nähe der Teilstruktur und damit zwei weitere Freiheitsgrade, nämlich die Orientierung und Stärke der Stagnations- Strömung. Hinzu kommen zwei Freiheitsgrade für die Position des im nächsten Schritt angefügten freien

Teilchens sowie ein weiterer, um das Volumen in der Zelle zu erhalten. Damit sind in zwei Dimensionen sieben Ports notwendig, um alle Freiheitsgrade des Sys- tems zu kontrollieren, in drei Dimensionen sind es elf.

In der Tat lassen sich auf diese Weise beliebige Strukturen aufbauen, beispielsweise ganze Buch- staben (Abb. ). Die dazu notwendigen Flussraten wurden a priori berechnet. Um die Flussraten zu begrenzen, müssen die Trajektorien nicht optimiert sein. Mit einem solchen System sollten sich komplexe Strukturen ähnlich wie in automatisierten Industrie- Fertigungsstraßen bauen lassen. Zunächst gilt es, die verschiedenen Flussraten sowie die Zeitpunkte, zu de- nen die einzelnen Komponenten in die Zelle gelangen, zu berechnen. Werden diese zeitabhängigen Flussraten periodisch erzeugt und Einzelteile in vorgegebener Se- quenz durch die Ports in die Zelle eingebracht, entsteht in jedem Zyklus ein zusammengesetztes Produkt.

Hürden auf dem Weg zur Anwendung

Die praktische Umsetzung dieser Methoden zur Mi- krofabrikation komplexer Strukturen erfordert eine präzise Kontrolle der Strömungsraten mit hoher Zeit- auflösung. Dies kann gerade beim Übergang zu kleine- ren Strukturen und bei Verwendung klassischer Pum- pen herausfordernd sein, denn Druckänderungen und somit Flussraten lassen sich insbesondere bei Chips aus flexiblen Materialien nur mit großer Zeitverzögerung kontrollieren. Einen Ausweg aus diesem Dilemma könnten Methoden bieten, bei denen elektrische Felder Kräfte auf Ionen in der Flüssigkeit ausüben und so die Strömung verzögerungsfrei antreiben [11, 12].

Grundsätzliche Herausforderungen ergeben sich für Objekte im sub-Mikrometerbereich, für welche die Brownsche Bewegung relativ zur Advektion im vorgegebenen Strömungsfeld eine wichtige Rolle spielt.

Da die zugehörigen Differentialgleichungen (in der Teilchenposition) nichtlinear sind und die chaotische Dynamik extreme Sensitivität gegenüber Störungen er- zeugt, kann Diffusion die Teilchenkontrolle unmöglich machen. Um dem Problem zu begegnen, kann man die Teilchenposition mittels einer Kamera kontinuierlich verfolgen und Abweichungen von der gewünschten Trajektorie per Feedback-Kontrolle korrigieren [11, 12].

Dies erhöht zwar die Komplexität des Verfahrens en- orm, eliminiert aber für einzelne Teilchen sogar die Brownsche Bewegung [11, 1].

Eine Alternative ist es, auf eine Feedback-Kontrolle zu verzichten und die Flexibilität in möglichen Teil- chentrajektorien auszunutzen, um diejenigen auszu- wählen, die am stabilsten gegenüber Rauschen und Diffusion sind. Zu den zahlreichen spannenden the- oretischen Fragen, die noch zu lösen sind, zählt auch die, wie sich die Stabilität des Prozesses gegenüber Rauschen quantifizieren lässt und wie man Trajekto- rien berechnet, bei denen die Wahrscheinlichkeit, eine gewünschte Struktur zu formen, maximal ist.

t fi

1 0,8 0,6 0,4 0,2 0 1 0

−1

Abb.  Bei der sequenziellen Mikrofabri- kation wird ein „neues“ Teilchen (grün) an eine bereits vorhandene und irrever- sibel gebundene Teilstruktur (blau) he- rangeführt und dort gebunden. Die vom Strömungsfeld ausgeübten Kräfte be- stimmen die Geschwindigkeit des Teil-

chens sowie die Translation und Rotation der Teilstruktur. Damit kann das neue Teilchen an vorgegebener Stelle an die Teilstruktur binden. Mit sieben Fluss- raten (Inset) lassen sich alle Freiheits- grade des Systems kontrollieren.

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© 2013 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Physik Journal 12 (2013) Nr. 5 3

Von der Theorie zum Experiment

Momentan geht es darum, die vorgestellten Konzepte experimentell zu realisieren. Erstes Ziel dabei ist es, einzelne Teilchen in genau kontrollierten Strömungs- feldern frei zu positionieren und komplexe Strukturen zusammenzusetzen. Hydrodynamische Kräfte treiben die Bewegung der Einzelteile an. Da weder starke Laser zum Einsatz kommen, noch besondere magnetische, elektrische oder optische Eigenschaften der Teilchen notwendig sind, ist die vorgeschlagene Methode sehr flexibel einsetzbar. Insbesondere bleibt die volle Bio- kompatibilität aktueller Mikrofluidik erhalten, was neuartige biophysikalischer Experimente auf der Ebe- ne einzelner Zellen ermöglichen sollte.

Neben der Konstruktion komplexer Strukturen auf Mikroebene sind weitgehendere spannende Anwen- dungen möglich: Ersetzt man die Teilchen durch kleine Tropfen, die Chemikalien enthalten, und steuert sie auf Trajektorien, auf denen die Tropfen selektiv und in vorgeschriebener Reihenfolge verschmelzen, so ergeben sich neue Konzepte für Lab-on-a-Chips. Im Gegensatz zu gängigen Chips, die für das Durchführen derselben Analyse mit hoher Frequenz geeignet sind, lassen sich hier die Vorteile der kleinen Volumina und hohen Geschwindigkeit mit der Flexibilität eines ma- kroskopischen Labors verbinden. In der selben Zelle können Tropfen auf unterschiedlichen Trajektorien bewegt werden. Das erlaubt Sequenzen unterschied- licher Reaktionsprotokolle, um beispielsweise adaptive Untersuchungen durchzuführen, in denen ein Schritt vom Ergebnis des vorherigen abhängt.

Weitere Möglichkeiten ergeben sich aus der Kom- bination der dargestellten Methoden mit Ideen des Self-Assembly. Zum einen sollten sich gewünschte Strukturen mit hoher Ausbeute erzeugen lassen, wenn die globale Anordnung der einzelnen Bausteine durch Strömungskontrolle vorgeben wird, während die lokale Ordnung durch spezifische Teilchen-Teilchen-Wechsel- wirkung entsteht. Zum anderen lassen sich die Mecha- nismen des „passiven“ Self-Assembly studieren, indem Strömungsfelder gezielt gewisse Strukturen unmöglich machen und dadurch Teile des stochastisch gesampelten Kongurationsraums kinetisch unzugänglich werden.

Dank der technologischen Fortschritte in der Mikro fluidik stehen Werkzeuge zur Verfügung, um Teilchen, Tröpfchen und einzelne Zellen auf kleinsten Skalen zu kontrollieren. Kreative Anwendungen die- ser Werkzeuge, sollten es ermöglichen, neue wissen- schaftliche Fragen zu stellen. Welche Fragen dies sein werden, lässt sich zurzeit nur erahnen, das Potenzial gerade im Bereich biochemischer Untersuchungen scheint aber enorm.

Literatur

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t

Abb.  Sukzessive werden einzelne Bau- steine hinzugefügt, bis die erwünschten Strukturen in der letzten Zeile entstehen (Animation siehe []). Unabhängig von der Komplexität der Struktur ist hierbei nur eine feste Anzahl an Freiheitsgraden zu kontrollieren. Die hier gewählte

Buchstabenfolge entspricht derjenigen des berühmten Experiments von Eigler und Schweizer, bei dem nicht kleine Par- tikel mit einem Strömungsfeld, sondern Atome mit einem Rastertunnelmikro- skop zusammengefügt wurden [1].

D E R A U T O R

Tobias M. Schneider beschäftigt sich seit eines einjährigen Forschungsaufenthaltes an den Bell Labs 2003 mit Strömungsphy- sik. 2007 promovierte er in Marburg mit einer theoretischen Arbeit zum Turbulenz- übergang und verbrachte im Anschluss mehrere Jahre als Postdoc an der Harvard

University, wo die hier dargestellten Ideen in Zusammen- arbeit mit Shreyas Mandre und Michael Brenner entstan- den Seit 2012 leitet Tobias Schneider eine unabhängige Forschungsgruppe am MPI für Dynamik und Selbst- organisation in Göttingen. In seiner Freizeit lernt er Fremd- sprachen und bereitet sich auf Langstrecken-Triathlons vor.

Referenzen

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