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Chancen und Grenzen von Beratung bei Kindesvernachlässigung

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Academic year: 2022

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Chancen und Grenzen von Beratung bei

Kindesvernachlässigung

Dr. Mériem Diouani-Streek

Leitung Beratungsstelle im DKSB Frankfurt am Main e.V.

(2)

Übersicht

I. Vernachlässigung: Formen, Folgen, Prävalenz II. Chancen von Beratung bei Vernachlässigung III. Grenzen von Beratung bei Vernachlässigung IV. Implikationen: Wirksame Interventionen zum

Schutz des Kindes

V. Diskussion

(3)

I. Vernachlässigung

Definition

Vernachlässigung wird häufig definiert als „die andauernde oder wiederholte Unterlassung

fürsorglichen Handelns sorgeverantwortlicher Personen (Eltern oder andere von ihnen

autorisierte Betreuungspersonen), welches zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre“

(Schone u. a. 1997: Kinder in Not)

(4)

I. Vernachlässigung

Körperliche Vernachlässigung

Mangel an Pflege, Nahrung, Flüssigkeit, Regulation des Schlaf- und Wachrhythmus, ruhigem und ungefährlichem Schlafplatz, witterungsgemäßer Kleidung, Bewegung

Folgen für die Kindesentwicklung:

→ Mangelernährung, Untergewicht

→ Austrocknung (Hautfalten)

→ Inaktivität, Kraftlosigkeit

→ Vermeidbare Krankheiten mit schwerem Verlauf, zB Windeldermatitis, Exeme, kariöses Gebiss

→ massive Gedeihstörungen, psychosozialer Minderwuchs

Galm 2010, S. 25; (DJI 2010) http://www.dji.de/index.php?id=4226

(5)

I. Vernachlässigung

Unzureichende Beaufsichtigung

z.B. jüngere Kinder sind unangemessen lang allein Folgen für die Kindesentwicklung:

→ Überflutung der Kinder durch Stresshormone

→ Hohes Risiko (tödlicher) Unfälle infolge mangelnder Beaufsichtigung

→ (Todes-)Angst

z. B. längere unangekündigte Abwesenheit älterer Kinder bleibt von den Eltern unbeachtet

→ mangelnder Schutz vor Selbst- und

Fremdgefährdung

(6)

I. Vernachlässigung

Kognitive und erzieherische Vernachlässigung Mangel an Ansprache, Spiel und anregenden

Erfahrungen, Förderung von Interessen, fehlender Schulbesuch

Folgen für die Kindesentwicklung:

→ Beeinträchtigung der sozial-emotionalen Entwicklung

→ Beeinträchtigung der Bildungs- und Teilhabechancen

→Ablehnung durch Peers in Kita und Schule:

Fehlzeiten, Ungepflegtheit, Geruch, Einladungen usw.

(7)

I. Vernachlässigung

Emotionale Vernachlässigung

Mangel an Liebe, Zuwendung, Interesse, Empathie, Wärme in der Beziehung, dialogischer

Kommunikation und Regulation, Schutz vor Gefahren Folgen für die Kindesentwicklung:

→ Aufwachsen in bindungsarmer Umgebung

→ Apathie, leerer Gesichtsausdruck

→ Risiko von Regulations- und Bindungsstörungen

→ Persistierende Belastungen/Beeinträchtigungen

→ Bindungsstörungen nach ICD 10

Galm 2010, S. 25; (DJI 2010) http://www.dji.de/index.php?id=4226

(8)

I. Vernachlässigung

Bindungsstörungen nach ICD 10/11 (Gloger-Tippelt EBT 2021)

Erkrankung Kodierungen in Klass-

systemen

Symptome Therapiestrategien

Reaktive

Bindungsstörung ICD-10: F94.1 ICD-11: 6B44

Ängstlich, übermäßig wachsames Verhalten, keine Reaktion auf Trost, widersprüchliche oder

ambivalente soziale Reaktionen in verschiedenen Situationen,

fehlende emotionale

Ansprechbarkeit, kaum soziale Interaktion mit Gleichaltrigen, aggressiv gegenüber sich selbst und anderen, apathisch,

unglücklich

Eltern-Kind-Therapie zur Förderung elterlicher feinfühligen Verhaltens (standardisierte

Programme, videogestützt)

Begleitende Elternarbeit Enge Kooperation mit dem Jugendamt nötig!

Bindungsstörung mit Enthemmung

ICD-10: F94.2 ICD-11: 6B45

Diffuse bzw. mangelnde exklusive Bindung(en), wenig modulierte, distanzlose Interaktionen;

Aufmerksamkeitssuche;

eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen

(9)

I. Vernachlässigung

Prävalenz Bindungsstörungen: entwicklungspsychologisch vs. kinderpsychiatrisch

(hoch)unsichere Bindung im Kleinkindalter in Normalstichproben:

• unsicher: 40%

• hochunsicher/desorganisiert: 15%

Bindungsstörungen ICD-10: 1-1,4%

(Auftretenshäufigkeiten bei Misshandlung; van Ijzendoorn et al. 1999; 2019)

Bindungsstörungsdiagnosen nach ICD-10 werden in der KJP fast ausschließlich auf schwer vernachlässigte, früh

misshandelte Kinder angewendet

(10)

I. Vernachlässigung

Prognose Bindungsstörungen nach ICD-10:

• klinisch betrachtet eher ungünstig

• insb. Bindungsstörung mit Enthemmung persistierende Tendenz (Rushton et al. 1995)

• häufig Diagnose Persönlichkeitsstörung im Jugend- oder Erwachsenenalter

→ klinische Erfahrung, unzureichende Datenlage!

→ für BS gibt es weder standardisierte Diagnoseverfahren, noch spezifische Therapieprogramme

✗ Behandlung setzt interdisziplinäre Zusammenarbeit voraus – Kindeswohlgefährdung!

(11)

I. Vernachlässigung: Prävalenz allg.

Prävalenz von Vernachlässigung

• Keine repräsentativen Dunkelfeldstudien (Pillhofer et al.

2011)

• Retrospektive Analyse von Jugendamtsakten: V in 65%

hauptsächliche Gefährdungslage (Münder et al. 2000)

• Gefährdungseinschätzungen in 2019 gesamt: 173.029

• Gefährdungsmeldungen KWG gem. § 8a SGB VIII in 2019:

ca.55.500, davon 16.038 HGM Vernachlässigung (Destatis 2020, Tab. 1, 7.768 Mädchen; 8.270 Jungen) – ca. 28%

• davon ca. 25% unter drei Jahren (4.257)

(12)

I. Vernachlässigung: Prävalenz SGB VIII- Statistik

Jahr Vernachlässigung Gesamte § 8a-Verfahren

Davon akute und latente Fälle KWG

Anteil

Vernachlässigung von akuten und latenten KWG-Fällen in %

2019 16.038 173.029 55.527 28,9%

2018 14.906 157.271 50.412 29,6%

2017 12.938 143.275 45.748 28,3%

2016 13.138 136.925 45.777 28,7%

2015 13.357 129.485 44.994 29,7%

2014 11.745 124.213 41.049 28,6%

2013 10.889 115.687 38.622 28,2%

2012 10.828 106.623 38.283 28,3%

Quelle: Destatis 2020, Tab. 1, eigene Berechnung

(13)

I. Vernachlässigung: Prävalenz DKSB FFM

Beratungen in Fällen der V sind stets iseF-Beratungen für Fachkräfte!

28%

20%

15%

12%

11%

9%

5%

BERATUNGS- UND THERAPIEANLÄSSE IM JAHR 2020

Sexuelle Gewalt Physische Gewalt Vernachlässigung Psychische Gewalt

Häusliche Gewalt Sonstiges Strukturfragen Schutzkonzepte

(14)

II. Chancen von Beratung bei Vernachlässigung

Risikoscreenings:

• Frühzeitige Erkennung von Kindern mit Gefährdungsrisiken

• Vermittlung von Hilfen oder Interventionen, ehe KWG/Schädigung eintritt

Frühe Hilfen, u.a.

• Lotsenprogramme, z.B. Babylotse

• Familienhebammen

• Bindungsförderung, z.B. STEEP

• Videogestützte Therapie, z.B. EBT

(15)

II. Chancen von Beratung bei Vernachlässigung

iseF-Beratungen für Fachkräfte aus Kitas usw.:

Erkennung, Systematisierung und Bewertung

• von Hinweisen auf KWG – hier Vernachlässigung

• bereits den Eltern angebotener Hilfen

• der elterlichen Kooperationsbereitschaft vs.

• der elterlichen Veränderungsfähigkeit (DJI 2006)

→ typische Fallmerkmale (Skizze)

• schwer und chronisch vernachlässigte Kleinkinder

• oft bleibt nur noch die Inobhutnahme

(16)

II. Chancen von Beratung bei Vernachlässigung

https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Soziales/Kinderschutz/_inhalt.html#sprg476078

→ In 14% der Inobhutnahmen ist Vernachlässigung der Anlass

(17)

III. Grenzen von Beratung bei Vernachlässigung

(Un-)Wirksamkeit von Interventionen

• in bis zur Hälfte der bekannt gewordenen

Vernachlässigung bleibt diese trotz Interventionen stabil (DJI 2006, Kap. 3)

typischer Fallstrick: SPFH Einsatz

• Internationale Studien zeigen sehr hohe Stabilität von Vernachlässigungsrisiken trotz Intervention auch nach einer Rückführung der Kinder (vgl. Kindler/Lillig 2004, 372)

• Vernachlässigende Eltern benötigen

beziehungsorientierte therapeutische Hilfe über längeren Zeitraum – „needy parents“

• Mögliche positive Entwicklung der Eltern mit den

Interessen des Kindes abwägen: Entwicklungstatsache

(18)

III. Grenzen von Beratung bei Vernachlässigung

Frühe Hilfen oder Early Intervention?

→ Hohe Gefährdung für Säuglinge, kranke und

behinderte Kinder; Versorgungsmängel können schon nach kurzer Zeit ihr Leben bedrohen (insbes.

Austrocknung)

→ fehlende oder ineffektive Intervention: hohes Risiko gravierender, bleibender physischer und psychischer Schäden

→ Risiko umfassender Entwicklungsbeeinträchtigungen/- retardierung

✗ Risiko intergenerationaler Transmission

(19)

III. Grenzen von Beratung

(20)

III. Grenzen von Beratung

(21)

III. Grenzen von Beratung bei Vernachlässigung

• Vernachlässigende Eltern finden den Weg in unsere Beratungsstelle nicht

• auf vernachlässigte Kinder werden wir fast

ausschließlich durch Fachkräfte aufmerksam (iseF- Beratungen)

Schutz des Kindes sicherstellen:

→ akute Interventionen

→ interdisziplinäre Diagnostik

→ Tertiärprävention

(22)

IV. Implikationen: Wirksame Interventionen zum Schutz des Kindes

Schutz des Kindes sicherstellen – akute Interventionen:

Einschätzung von Kooperationsbereitschaft und –fähigkeit der Eltern/Mutter (!)

• Prüfung Einschaltung JA:

Medizinische Untersuchung der Kinder

Inobhutnahme geboten(§ 8a Abs. 2 SGB VIII)?

(voran gegangene) Inanspruchnahme HzE

• Prüfung Einschaltung FamG:

Sorgerechtsentzug geboten (§ 1666 Abs. 3 Ziff. 6 BGB)?

Unterbringung der Kinder in Pflegefamilie

Prüfung der Umgangsfrage (§ 1684 Abs. 4 BGB)

✗ Zeit als wichtiger Faktor des Gefährdungseintritts !

(23)

IV. Implikationen: Wirksame Interventionen zum Schutz des Kindes

Amtsermittlungsgrundsatz im familiengerichtlichen Verfahren

• Kooperation

• Fachlichkeit der beteiligten Akteure

Richter/in

Verfahrensbeistand

Psychologische Sachverständige – versiert in Bindung?

Umgangspflegerin/ -begleiterin

Mitarbeiter*innen Jugendamt

✗Begleitung der Mutter in helfendes Setting/Therapie

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IV. Implikationen: Wirksame Interventionen zum Schutz des Kindes

Schutz des Kindes – interdisziplinäre Diagnostik:

• Medizinisch/pädiatrisch

• Entwicklungspsychologisch

• Ggf. kinderpsychiatrisch, Bindungsstörungen

• pädagogisch

→ Einschätzung spez. Förderbedarf dieses Kindes

→ stabiles und kindeswohlförderliches Ersatzmilieu

notwendig

(25)

IV. Implikationen: Wirksame Interventionen zum Schutz des Kindes

Schutz des Kindes sicherstellen – Tertiärprävention:

• Bindungsdiagnostik und -förderung noch zu wenig!

STEEP

EBT 0-3

• IFF: Interdisziplinäre Frühförderung

Logo-/Ergo-/Physiotherapie u.a.

• Schutzfaktoren aufbauen bzw. fördern

Lebenswelt des Kindes einbeziehen

• Später: Beziehungsorientierte Psychotherapie

tiefenpsychologisch oder analytisch

(26)

V. Diskussion

• Der effektive Kinderschutz bei Vernachlässigung ist nur kooperativ zwischen Jugendhilfe, Gesundheitswesen und Justiz herstellbar → lokal fallübergreifende

Kooperationsstrukturen etablieren: FH/KKG

• Handlungsleitend sollte gem. § 1 Abs. 3 Ziff. 3 KKG für alle beteiligten Instanzen das Ziel sein, „eine weitere

Gefährdung oder Schädigung“ des Kindes abzuwenden

• auch Richter:innen, Verfahrensbeiständ:innen &

Psychotherapeut:innen können im Einzelfall anonymisiert Fachberatung durch ortsansässige Beratungsstellen für

Kinderschutz in Anspruch nehmen → DKSB/KS-Zentren

(27)

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Dr. Mériem Diouani-Streek, Leitung Beratungsstelle DKSB FFM

Bildquelle: https://www.childhood.org.au

(28)

Literatur

Destatis (2020): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe - Gefährdungseinschätzungen nach § 8a Absatz 1 SGB VIII im Jahr 2019, erschienen am 27.08.2020, Artikelnummer: 5225123197004

DSM-5 (2015): Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5, dt. Ausgabe, hrsg.

Von P.Falkai u.a., Göttingen u.a.

Goldstein, J./Freud, A./Solnit, A. (1991): Jenseits des Kindeswohls. Mit einem Beitrag von Spiros Simitis, 2.

Aufl., Frankfurt: Suhrkamp.

Heintze, C., Wirth, L., Welke, J. & Braun, V. (2006): Erkennen von Kindesmisshandlung durch Pädiater und Hausärzte in Berlin. Zeitschrift für Allgemeinmedizin, 82, 396–401.

Kindler/Lillig (2004): Psychologische Kriterien bei Entscheidungen über eine Rückführung von

Pflegekindern nach einer früheren Kindeswohlgefährdung, in: Praxis der Rechtspsychologie, 14. Jg., 368- 397.

Pillhofer/Ziegenhain/Nandi/Fegert/Goldbeck (2011): Prävalenz von Kindesmisshandlung und -

vernachlässigung in Deutschland. Annäherung an ein Dunkelfeld. In: Kindheit und Entwicklung, 20 (2), S.

64-71.

Schmid, M./Fegert, J. M./Petermann, F. (2010): Traumaentwicklungsstörung: Pro und Contra, in: Kindheit und Entwicklung, Vol. 19, S. 47-63.

Van der Kolk, B./Pynoos, R.S./Cicchetti, D. u.a. (2009): Proposal to include a Developmental Trauma Disorder Diagnosis for Children and Adolscents in DSM-V, Final Version, Brookline.

Referenzen

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