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Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil / Skizze 4 (Ergänzung zu 5 / Auslegung) Zur Auslegung

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Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben

Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil / Skizze 4 (Ergänzung zu § 5 / Ausle- gung)

Zur Auslegung

Rechtsanwendung:

(1) Feststellung des Sachverhaltes (in universitären Aufgaben vorgegeben) (2) Aufsuchen der maßgeblichen Rechtsnorm(en)

(3) Subsumtion (= Anwendung des Rechtssatzes [Obersatz] auf einen Sach- verhalt

[Untersatz]: juristischer Syllogismus als scheinbar [!] rein logische Schlussfol- gerung ohne Wertung)

− Hier ggf.: Auslegung v on Gesetzesbegriffen

(hierin liegt das Arbeitsfeld der Studierenden bei ihrer Gutachtenerstel- lung in Klausur und Hausarbeit)

(4) Ausspruch der Rechtsfolgen1

↑ Hin- und Herwandern des Blicks zwischen Lebenssachverhalt und Rechts- norm (Engisch)

Ziel der Auslegung → Ermittlung der Bedeutung eines Gesetzesbegriffs

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Kriterien der Auslegung2 3 (str., inwieweit Rangfolge):

- grammatische (philologische): Wortlautgrenze4 5!

- historische: Entstehungsgeschichte (welchen Konflikt wollte der Gesetzge-

ber wie regeln?)

- systematische6 (Kontext des Merkmals /− der Einzelnorm / − in der Gesamt-

rechtsord- nung7)

- teleologische (ratio legis/Normzweck): Sinn und Zweck der Rege- lung =

„Krone“ der Auslegung; str., wie dieser Normzweck zu ermitteln ist:

Wille

des Gesetzgebers oder Wille des Gesetzes [= [faktisch →] Wille des Rechtsanwenders]?)

Hierzu ggf. auch: − Sachgerechtigkeit − Folgenberücksichtigung

− Effektivität

− Praktikabilität

− Gleichbehandlung

- ferner: verfassungskonforme8 / europarechtskonforme Ausle- gung9

1 Im universitären Gutachten: „... hat sich wegen Totschlages strafbar gemacht.“ (also keine Ausführungen zum Strafmaß).

2 In der Regel als mehr oder eher weniger bewusster Hintergrund der Rechtsanwendung (vgl.

auch Skript zum Rechtsgefühl/Vorverständnis); zur Darstellung von (Auslegungsergebnisse bündelnden) Streitständen im Gutachten → vgl. Übungs-Sitzungen.

3 Hierzu: Rengier, AT, § 5; vertiefend: Schönke/Schröder-Eser/Hecker, § 1 Rn. 36 ff.

4 Im Sinne des umgangssprachlichen Wortsinnes.

5 Innerhalb der Wortlautgrenze: auch extensive, täterbelastende Auslegung (sofern durch die übrigen Methoden der Auslegung veranlasst) möglich (kein „in dubio pro libertate“ bei der Rechtsanwendung – Achtung: Nicht zu verwechseln mit „in dubio pro reo → gilt für Zweifels- fragen im tatsächlichen Bereich: Hier hat das Gericht bei Unaufklärbarkeit des Sachverhaltes die für den Beschuldigten günstigste Möglichkeit zugrunde zu legen).

6 Es ist dann diejenige Interpretation zu wählen, die sich am Besten in den Kontext einfügt.

7 Beachte aber: Relativität der Rechtsbegriffe, zB Wegnahme iSv §§ 242 einerseits, §§ 289, 168 StGB andererseits.

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Hermeneutik (Auslegung von Texten) allgemein:

− Text im Spannungsfeld von Kontext seiner Herkunft und Kontext des Zeitpunktes seiner Deutung

− Text als „Partitur“ ohne einen für immer objektiv feststehenden, endgül- tig fixierten Inhalt

− Verstehen von Texten als auch produktives Verhalten

Gesetzessprache mit kalkulierter Offenheit von Gesetzesbegriffen (normative Tatbestandsmerkmale10 / unbestimmte Rechtsbegriffe11 / Generalklauseln12) zur Schaffung breiter Anwendungsfelder (auch zukünftiger) einer Regelung13. Auslegung durch Rechtsanwender: Methodenbeliebigkeit oder Bindung an den Willen des Gesetzgebers (also an das Regelungsziel sowie an aus der Ge- samtrechtsordnung entnommene, gesetzlich fixierte Wertungen)?

Achtung:

− Subjektive Auslegung (= Wille des Gesetzgebers [aber: wie zu ermit- teln? 14])

= objektiv, da Anknüpfen an feststellbaren, ursprünglichen Normzweck (wie sollte welcher Interessenkonflikt geregelt werden?15); zusätzlich aber auch zu berücksichtigen: Wandel des Umfeldes der Norm (in tat-

8 Ein Rechtsbegriff, der einer mehrdeutigen Auslegung zugänglich ist, muss so interpretiert werden, dass seine Anwendung sich im Rahmen der Verfassung hält.

9 Bei mehreren Auslegungsmöglichkeiten ist diejenige zu wählen, die der gemeinschaftrecht- lichen Vorgabe (→ EU-Richtlinien) am Besten entspricht.

10 Im Gegensatz zu deskriptiven (als im Kern rein beschreibenden) Elementen verweisen sie nicht auf die physische Wirklichkeitsebene, sondern beziehen sich auf rechtliche Abstraktio- nen oder Wertungen (etwa: „fremd“ iSv § 242 StGB).

11 Diese weisen dem Rechtsanwender ein weites Konkretisierungsermessen zu (etwa: „fahrläs- sig“ iSv § 222 StGB).

12 Normatives (ggf. auf gesellschaftliche Wertungen bezogenes) Tatbestandselement, das sich durch besondere Vagheit auszeichnet und den zentralen Gehalt einer Regelung aus- macht (etwa: Sittenwidrigkeit iSv § 228 StGB).

13 Im Strafrecht nicht unbegrenzt zulässig: Art. 103 II GG!

14 Ein „Gesetzgeber“ als Person existiert nicht; kann stattdessen wirklich verlässlich auf die Äußerungen (der Ministerialbürokratie) in den Entwurfsbegründungen der Regierung, proto- kollierte Diskussionen in den bzw. Stellungnahmen der Parlamentsausschüsse oder auf Beiträ- ge einzelner Abgeordneter im Plenum abgestellt werden? Wie ist bei Divergenzen insoweit zu verfahren?

15 Mithin von umso geringerer Bedeutung, je älter das Gesetz ist.

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sächlicher sowie rechtlicher Hinsicht), also: „geltungszeit- lich−subjektive“ Auslegung

− objektive Auslegung (= Wille des Gesetzes)

= subjektiv, da richterliche Eigenwertung erforderlich

Methodenfrage als Verfassungsfrage → Bindung des Rechtsanwenders an den objektivierten gesetzgeberischen Willen als Folge von Gewaltenteilung und Demokratieprinzip (Art. 20 III, 97 I GG)?16

Schließung offener Gesetzeslücken (planwidrige Unvollständigkeit) durch Analogie (Gleiches gleich behandeln); Beispiele s. u.

[Achtung: Im materiellen Strafrecht (AT / BT) → Art. 103 II GG: Keine Ana- logie zu Lasten des Täters17; nach hM → Wortlautgrenze (MM: Grenze des Gesetzessinns)]

Schließen von Ausnahmelücken (Normzweck enger als Wortsinn) durch teleo- logische (also durch am − wie immer auch ermittelten − Normzweck orientier- te) Reduktion (Ungleiches ungleich behandeln)18

[Auch im Strafrecht zulässig19!]

Fälle des Analogieschlusses20:

16 Vgl. aber die doch eher Methodenbeliebigkeit gerade der Obergerichte, nach deren Ent- scheidungen die Intention des historischen Gesetzgebers nur eines von mehreren Ausle- gungselementen darstellt (zB BVerfGE 79, 121: Maßgebend für die Interpretation eines Geset- zes ist der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers).

17 Fiktives Beispiel: Strafbarkeit des Mitbringens von „Hunden und Katzen“ in die universitären Vorlesungen; „Täter“ bringt einen Tanzbären mit: Wortlaut als Grenze der Auslegung; insoweit aber durchaus fließende Grenze, zB: fiktive Strafvorschrift verbietet das Betreten des Hörsaals in „unziemlicher Kleidung“; „Täter“ erscheint nackt.

18 Eine fiktive Strafvorschrift verbietet das „Mitbringen von Tieren auf Friedhöfe“; der „Täter“

führt ein Goldfischglas in seiner Aktentasche bei sich: Teleologische Reduktion zulässig, wenn als Normzweck die „Friedhofsruhe“ iSv Pietät angesehen und die Norm damit auf das Mit- bringen störender Tiere beschränkt wird.

19 Etwa: Beschränkung des § 266 StGB auf Fälle typischer Vermögensfürsorge und wirtschaftli- cher Selbständigkeit.

20 Analogie als Anwendung einer Rechtsnorm mit anderen Tatbestandsvoraussetzungen auf einen ähnlichen, ungeregelten Sachverhalt im Falle wertungsmäßiger Entsprechung.

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[Achtung: Verbot täterbelastender Analogie im materiellen Strafrecht!]

− Argumentum a simile (Ähnlichkeitsschluss → Gleiches gleich behandeln)

− Argumentum a fortiori (Größenschluss als Erst−recht−Schluss21):

− Argumentum a minore ad maius (vom Kleineren auf das Größere schlie- ßen)22

− Argumentum a maiore ad minus (vom Größeren auf das Kleinere schlie- ßen)23

Umgekehrt: Keine Analogie hingegen im Falle des Argumentum e contrario (Umkehrschluss bei „beredtem Schweigen“ des Gesetzes)

Abgrenzung zwischen Analogie und Umkehrschluss als Wertungsfrage (ausge- richtet am Normzweck)

Gefahr von Scheinargumenten im Recht bei pauschalem Berufen auf Rechts- idee / Gerechtigkeit / Natur (Wesen) der Sache

Spezielle Argumentationsmuster24 im Strafrecht:

− Vermeidung von Strafbarkeitslücken (umfassender Rechtsgüterschutz)

− umgekehrt aber: Fragmentarische Natur sowie Subsidiarität des Straf- rechts

21 Normzweck bei nicht geregeltem Sachverhalt noch stärker als bei geregeltem einschlägig.

22 Ist im Gesetz eine Rechtsfolge für weniger gravierende Fälle angeordnet, so findet das Ge- setz erst recht Geltung im gewichtigeren Falle (also zB Entschädigung nach Art. 14 III GG erst recht bei einer rechtswidrigen Enteignung).

23 Etwa: Da eine - unrechtsschwerere - vorsätzliche Mitwirkung am Suizid straffrei bleibt, hat dies erst recht bei einer fahrlässigen zu gelten.

24 Allgemein zur Topik (= Lehre von den Sätzen u. Schlüssen, mit denen argumentiert werden kann) als Form der Rechtsfindung, bei der die Rechtsgewinnung weniger begrifflich und sys- tematisch aus dem Gesetz abgeleitet, sondern problemorientiert und durch Abwägen der einzelnen Argumente erfolgt: Pawlowski, Einführung in die juristische Methodenlehre 2. (2000) Rn. 132 ff.

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Rechtsdogmatik als „Schatzkammer aus Erfahrung gewachsener juristischer Pro-blemlösungsmuster“ (Rüthers) mit folgenden Funktionen:

− Ordnungsfunktion

− Stabilisierungsfunktion (Rechtssicherheit)

− Entlastungsfunktion25

− Bindungsfunktion (Steuerung des Rechtssystems)

− Kritikfunktion

Literatur:

− Wank, Die Auslegung von Gesetzen, §§ 3−9

− Schmalz, Methodenlehre für das juristische Studium

− Rüthers, Rechtstheorie, Rn. 150 ff. (Zusammenfassung in Rn. 216) zu Recht und Sprache, Rn. 309 ff. (Zusammenfassung in Rn. 331) zur Rechtsdogma- tik, Rn. 677 ff. (Zusammenfassung in Rn. 695) zum juristischen Syllogismus, Rn 696 ff. (Zusammenfassung in Rn. 821) zu Auslegung und Methodenwahl sowie Rn. 888 ff. (Zusammenfassung in Rn. 935) zu Analogie, Umkehrschluss etc.

Prof. Dr. Detlev Sternberg-Lieben Sommersemester 2008

Vorlesung Strafrecht Allgemeiner Teil

25 Als Rechtsanwender nicht immer „das Rad neu erfinden“ müssen sowie Argumentationslast für „Abweichler“.

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Rechtsgefühl ("Das ist doch ungerecht!") und Rechtsanwendung

Zwei gegenläufige Ratschläge, die Sie als Studienanfänger des Öfteren hören (wer- den): "Lassen Sie sich Ihr unbefangenes Herangehen an die Rechtsprobleme nicht nehmen!" - "Sie sollen den Fall aus dem Kopf und nicht aus dem Bauch heraus lö- sen!" - Und nun?

Die individuelle Vorstellung des Rechtsanwenders (hier also: Ihre als Studierende) von einer gerechten Lösung kann nicht von vornherein für die Fallentscheidung maßgeblich sein → weshalb sollte gerade Ihre höchst individuelle Gerechtigkeitsvor- stellung maßgeblich sein und nicht die Ihres Diskussionspartners?

Gegen die Möglichkeit eines "unfehlbaren Gerechtigkeitsgefühls" spricht bereits das Fehlen eines überprüfbaren objektiven Bezugspunkts: Die inhaltliche Bestimmung der Gerechtigkeit ist letztlich nicht absolut möglich: Gerechtigkeitsbilder sind so viel- fältig wie die Kulturen, Weltanschauungen, Religionen etc., denen sie entstammen → Vielfalt und Konkurrenz variabler "Gerechtigkeiten", über die dann der verfassungs- rechtlich maßgebliche Konsens zu befinden hat: Im Staat des Grundgesetzes ent- scheidet primär der Gesetzgeber im Rahmen der Verfassung, in deren Interpretation angesichts der Unschärfe ihrer nicht der technischen Rechtssprache entlehnten Beg- riffe (Menschenwürde/Freiheit/sozialer Rechtsstaat) dann allerdings vielfältige Ge- rechtigkeitsideale einfließen könnten26); angesichts verfassungsrechtlicher Vorgaben einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung verbietet sich von vornherein ein Anknüpfen an die "Wahrsprüche" absoluter religiöser bzw. weltliche Instanzen (zB Papst/Zentralkomitee)27, aber auch ein "normüberspringendes" Anknüpfen an onto- logische (Natur des Menschen) oder idealistische Gerechtigkeitsideale (Naturrecht der Aufklärung).

Gesetze und Gerichtsentscheidungen können also zeitgerecht, systemgerecht, kul- turgerecht, sachgerecht usw. -gerecht sein, nicht aber absolut gerecht.

Das Gerechtigkeitsgefühl des Einzelnen ist Teil seines individuellen, idR sehr subjek- tiven Weltbildes, das unvermeidbar gesellschaftlich geformt ist. Unser eigenes Bild von Gerechtigkeit setzt sich notwendig aus geglaubten, nicht ohne weiteres beweis- baren Voraussetzungen und Annahmen, Vertrauensvorschüssen und Wertvorstel-

26 Noch klärungsbedürftig, inwieweit es dann auch für Mehrheitsentscheidungen "Unverfüg- bares" (vgl. Art. 79 III GG) gibt → sicherlich die Menschenwürde; aber: Wann liegt ein derarti- ger unzulässiger Verstoß gegen den Höchstwert des Verfassung vor (Stichwort: Schutz vor sich selbst → "Peepshow" [BVerwGE 64, 280, 84, 317 sowie Starck, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG I, Art. 1 Rn 97])?

27 Mit dem Verlust eines allgemein geteilten weltanschaulichen Hintergrundes entfiel auch der Maßstab für ein „natürliches Judiz“.

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lungen zusammen; sie ist sozusagen Teil unserer individuellen Ideologie, die als sub- jektives Gerechtigkeitsmuster zeit- und erfahrungsgebunden ist28.

Zwar kann aus Philosophie, Rechtswissenschaft, Theologie etc. durchaus ein Kanon von Merkmalen für die Gerechtigkeit von Regelungen entnommen werden, etwa:

- Wahrung der persönlichen Freiheit im Sinne der Menschenwürde und Selbstbe- stimmung

- Gleichheit vor dem Gesetz

- Angemessenheit/Verhältnismäßigkeit - Rechtssicherheit.

Diese "Leitsterne" vermitteln indessen nur eine allgemeine und unbestimmte Orien- tierung, sie sind sozusagen "Wegweiser ohne Entfernungsangabe" (Rüthers); ein berechenbarer29 Maßstab für eindeutige gerechte Lösungen im Einzelfall lässt sich aus ihnen nicht herleiten30.

Formen des Vorverständnisses31 (etwa: "Kann ja wohl nicht strafbar sein!"):

- Vorurteil

- Norm-Vorverständnis - Ergebnis-Vorverständnis32.

Im einzelnen:

(a) Vorurteil (iSe von vornherein abzulehnenden Vorgefühls), bei dem Sympathien und Antipathien (etwa gegenüber einem Angeklagten) die unvoreingenommene Rechtsfindung stören:

→ als illegitimer Entscheidungsfaktor33 soweit als möglich aus dem Rechtsanwen- dungsprozess auszuschließen.

(b) Norm-Vorverständnis (also Vorverständnis hinsichtlich des Inhalts der fraglichen Rechtsnorm als Produkt von Studium und Erfahrung):

28 "Gerechtigkeit" als der letzte Stand eines möglichen Irrtums (Rüthers).

29 Rechtssicherheit ja ihrerseits ein wesentliches Element der Gerechtigkeit.

30 Von eindeutigen Fällen abgesehen.

31 Der Text folgt weitgehend der lesenswerten Darstellung von Looschelders/Roth, S. 71 ff.

32 Wirken diese drei verschiedenen Vorverständnisebenen in dieselbe Richtung, so ist die Ent- scheidung für den Rechtsanwender so gut wie gefallen.

33 Vgl. den Richtereid in § 38 I DRiG: Urteilen ohne Ansehen der Person.

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→ als solches für das Funktionieren des Rechtswesens unabdingbar; der Rechtsan- wender muss sich hierbei freilich stets bewusst sein, dass sein bisheriges Norm- Vorverständnis lückenhaft, verfehlt und korrekturbedürftig sein kann34.

(c) Ergebnis-Vorverständnis (welche Rechtsfolge wird in Fällen wie dem zur Ent- scheidung anstehenden als angemessen und gerecht angesehen?).

→ Gefahr, dass Rechtsnorm so gelesen wird, dass sie zu eben diesem, aus intuitiver Wertung "vorgefühlten" Ergebnis führt35, der Rechtsanwender mithin seine eigene Wertung an die Stelle der vom Gesetzgeber getroffenen Bewertung setzt: Auslegung nach seinen eigenen Maßstäben anstatt nach dem erkennbaren Willen des Gesetz- gebers.

Aber: Andererseits ist für den Juristen ein durch Studium und praktische Erfahrung geschultes Rechtsgefühl unvermeidlich36,37; dieses wird aber durch die Rechtsord- nung mitgeprägt, so dass gewissermaßen ein "hermeneutischer38 Knoten" entsteht:

Das Gesetzesverständnis hängt auch vom Vorverständnis des Norminterpreten ab, das seinerseits aber eben wieder - vermittelt durch Dogmatik und Rechtsprechung (Präjudizien39!) - gesetzesgeprägt ist.

Mithin: Rechtsgefühl im Sinne eines Ergebnis-Vorverständnisses dürfte letztlich e- benso unvermeidlich wie - vom Ansatz her - unschädlich sein, da ein gutes Judiz40 eine wichtige Rolle für die Kontrolle für Entscheidungen bietet, nämlich ein Instru- ment zur Reflexion der Ergebnisse der Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung

→ das Rechtsgefühl kann ggf. vor voreiligen Entscheidungen warnen und Anlass bieten, das zunächst gefundene Auslegungsergebnis auf seine Richtigkeit hin zu überprüfen. Fällt das methodisch-dogmatisch korrekt gewonnene Auslegungsergeb- nis mit dem - an der bestehenden Rechtsordnung ausgerichteten! - Rechtsgefühl

34 Auch insoweit gilt also der Grundsatz audiatur et altera pars pars (auch die andere Seite muss gehört werden) als von alters her bekannte Warnung vor unvollständiger Interessenbe- wertung und einseitiger Interessengewichtung.

35 Insbesondere, aber eben nicht nur gefährlich bei ohnehin für das Einfließenlassen von Wer- tungen offenen unbestimmten Rechtsbegriffen, etwa "gute Sitten" (§ 228 StGB, § 138 BGB) oder "verwerflich" iSv § 240 II StGB..

36 Weitergehend wird man sogar sagen können, dass kein Text ohne Vorverständnis interpre- tiert wird (Schleiermacher: Das Einzelne kann nur aus dem Ganzen verstanden werden): Nie- mand kann etwas verstehen, von dem er im Ausgangspunkt überhaupt kein Wissen und kei- ne Vorstellungen hat.

37 Nicht zuletzt auch für den Rechtspraktiker (zB Anwalt oder Richter) beim "Herauspräparie- ren" der entscheidungserheblichen Sachverhaltselemente (in der universitären Ausbildung kein Thema).

38 Hermeneutik: Wissenschaftliche Lehre vom Verstehen und Auslegen von Texten usw.

39 Präjudiz = vorgefasste Meinung, Vorentscheidung; hier: [Vor]entscheidung eines oberen Gerichts in einer Rechtsfrage, die sich in einem anderen Rechtsstreit erneut stellt.

40 Judiz verstanden als juristisch geschultes Rechtsgefühl.

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auseinander, so kann dies ein Indiz dafür sein, dass eine übersteigert positivisti- sche41, also strikt "buchstabengetreue", den Willen des Gesetzes/des Gesetzgebers letztlich aber verfehlende Rechtsanwendung vorliegt.

Gutes Judiz42 also als unabdingbare Voraussetzung zur Vermeidung ungerechter Entscheidungen, aber:

Das Rechtsgefühl des Rechtsanwenders steht nicht über den Gesetzen; es befreit ihn nicht von seiner Gesetzesbindung. Kommt nun der Rechtsanwender also bei der von seinem geschulten (!) Judiz her aufgeworfenen erneuten Überprüfung zu dem Ergebnis, dass die von ihm zunächst bezweifelte Lösung vom Gesetz gewollt ist, so ist dieses Resultat maßgeblich und nicht dasjenige, das ihm sein hiervon abweichen- des Rechtsgefühl vermittelt.

Ein Ergebnis-Vorverständnis wird dann gefährlich, wenn der Rechtsanwender sein eigenes Gerechtigkeitsverständnis für allein maßgeblich hält und meint, auf metho- disch geleitete Rechtsfindung verzichten zu können43. Die Feststellung der Unver- meidlichkeit von Vor-Verständnissen als hermeneutische Grundbefindlichkeit jeder Textinterpretation (und damit auch der Rechtsanwendung) darf angesichts der Bin- dung des Rechtsanwenders an das Gesetz keineswegs dazu verleiten, eigene Vor- verständnisse ungehemmt als Maßstab der Auslegung zugrunde zu legen; geradezu umgekehrt bedarf es des Gegengewichts der juristischen Methodik und der Bindung an den Willen des Gesetzgebers, um den Einfluss individueller Vorverständnisse möglichst gering zu halten: Das Rechtsgefühl als "die Kunst, richtige Vorverständnis- se zu haben" (Kaufmann) kann und darf methodisch hergeleitete Erkenntnisse über den Gesetzesinhalt nicht ersetzen44; die "Vorwegnahme des Ergebnisses" hat also reflektiert zu erfolgen, als "vorläufige Hypothese" iSe hermeneutischen Vorverständ- nisses. Das Rechtsgefühl als Vorverständnis leistet also für die Ergebniskontrolle wichtige Dienste, entscheidend aber bleibt die korrekte dogmatische Entscheidungs- findung45. Auch wenn sich dem Rechtsanwender bei der Bearbeitung eines Falles vom Rechtsgefühl her eine bestimmte Lösung geradezu aufdrängt, muss er sich

41 Für den Bereich des Strafrechts sind aber die Schutzfunktionen von Art. 103 II GG zu beach- ten!

42 Als Produkt profunden Wissens und reicher Berufs- und Lebenserfahrung.

43 Als Verwechslung richterlicher Rechtsanwendung (als "normvollendende" Anwendung der gesetzgeberischen Grundentscheidung) mit Rechtspolitik (Herbeiführung eines vom - geset- zesunterworfenen [!] - Rechtsanwender für richtig gehaltenen Ergebnisses), ohne dass er hier- für über das demokratisch legitimierte Mandat sowie (als Einzelfallentscheider) verfahrens- mäßig über die dem Parlament zur Verfügung stehenden Erkenntnis- und Gestaltungsmög- lichkeiten verfügte.

44 Andernfalls würden juristische Begründungen zur nachgeschobenen Scheinbegründung verkommen.

45 Diese trägt auch der Gesetzmäßigkeit der Entscheidung in Form der Gleichbehandlung des Gleichen Rechnung.

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stets bewusst sein, dass dies nur eine vorläufige, erste intuitive Annäherung sein kann und hiermit keine endgültige innere Festlegung getroffen sein darf.

In letzter Zuspitzung muss46 das Vorverständnisproblem (bzw. die Frage nach der Relevanz des Rechtsgefühls) auf einen Appell an die intellektuelle Redlichkeit jedes Rechtsanwenders hinauslaufen, sein Ergebnis-Vorverständnis stets auf seine Ver- einbarkeit mit den anzuwendenden Gesetzen zu hinterfragen und Rechtspolitik dem Gesetzgeber zu überlassen. Das umgekehrte Verfahren47 unterschiede sich nämlich in seiner Gefährlichkeit für die Rechtsunterworfenen letztlich nicht von der von Raisch angeführten Legende altschottischer Justiz: "Erst aufhängen, dann verhan- deln."

Geboten ist also nicht die - ohnehin illusorische - Verwerfung des Rechtsgefühls , sondern seine "Erziehung" und Kontrolle des durch die systematisierende Dogmatik:

Judiz als rechtswissenschaftlich erzogenes Rechtsgefühl48, als Fähigkeit zu professi- onellem "Vor-Urteil"!

→ Hierzu lesenswert: Arzt, JA 1978, 557 ff.

Zum Selbststudium (neben dem Besuch der Vorlesung zu Rechtstheorie und Rechtsphilosophie) empfohlen:

- Raisch, Juristische Methoden (1995), S. 205 ff.

- Looschelders/Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung (1996) S. 71. ff.

- Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung (1999) S. 30 ff.

- Rüthers, Rechtstheorie (1999) Rn. 172 ff., 156 ff.

Zum Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit - u.a. Moral als immanente Wirksam- keitsschranke (Stichwort: Radbruch'sche Formel {zB DDR-Grenzgesetz}49)? - und den notwendigen Grenzen des Gerechtigkeitsargumentes: Rüthers, Rechtstheorie,

46 Eingedenk des Umstandes, dass die den abstrakten Gesetzesbefehl im Einzelfall konkretisie- rende (bzw. "ergänzende") Rechtsanwendung eben keineswegs nur aus logischer Deduktion, sondern immer partiell auch aus Dezision besteht.

47 Nämlich das auf Grund des Vorverständnisses intuitiv gewonnene Ergebnis anschließend methodisch zu rechtfertigen.

48 Als weiterer Bedeutungsgehalt des Rechtsgefühls (ohne das i.ü. Jurisprudenz zur beliebig einsetzbaren Rechtstechnik degenerieren müsste) kommen noch die - rechtspolitisch rele- vante - Bindung an Gerechtigkeitsideale sowie das Gefühl der Achtung vor der bestehenden Rechtsordnung in Betracht.

49 An der Frage, ob DDR-Grenzsoldaten und/oder deren Befehlsgeber für das Erschießen von Flüchtlingen bestraft werden sollten, wird die Relativität des je eigenen Gerechtigkeitsgefühls deutlich; Nachweise der einschlägigen Rechtsprechung bei Schönke/Schröder-Eser, § Rn..

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Rn. 332 ff. (Zusammenfassung in Rn. 400) einerseits, Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie (1996) Rn. 401 ff. sowie insbesondere 423 ff., 437 ff. andererseits.

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