Hygienische Zeitfragen XI. XII.
Der nervöse Magen
Von
Dr. Wilhelm Stekel
Nervenarzt
(Wien)
Wien 1918
Verlag Paul Knepler
(Wallishausser’sche k. u. k. Hofbuchhandlnng)
THE LIBRARY
TJNIVERSITY OF CALIFORNIA
LOS ANGELES
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Wir
wollen heutevom
nervösenMagen
sprechen!Ich
wüßte
mir kein anderes.Thema,
dasuns
so tief in die wichtigsten sozialenProbleme
derGegenwart
führen könnte.Wir wollen vom Magen
sprechenund von
der Seele, die ihn beherrscht.Wunderbar
sind dieBeziehungen zwischen
Magen und
Seele.Man
sagt,daß
ein krankerMagen
dieMenschen
mürrischund
griesgrämigmache. Warum
erzähltman uns
so selten,daß
eine griesgrämigeund
mürrische Seele sich einen krankenMagen
erzeugt*?Die ganze Welt
ist krank. Sie verdaut schlechtund
erbricht sich in zahllosen Selbstmorden. Die
Menschheit
ist krank!
Was
heißtdas?
DieMenschheit
kranktam Menschen.
KeinLebewesen — und
sei esnoch
so gering- fügig -r- steht für sich allein. Jeder ist ein Teil desGanzen und
dieganze Welt
ist ja nur dieZusammenfassung
aller Teile.Das Große
ist dieSumme
des Kleinen!Das
sind selbstverständlicheWahrheiten
!Aber
ist es nicht so weitmit uns gekommen, daß
wir das Selbstverständliche erstneu
entdeckenmüssen?
Sind wir nicht alle auf derSuche nach dem
Gekünsteltenund Ungeahnten
?Und
vergessender Natur und
derewigen Wahrheit?
Die ganze Welt
ist krank! Die Zahl derMagenkranken
ist Legion. Ließe ich Sie
an
Dir vorüberziehen, esgäbe
«inen
Zug,
der so lange dauernwürde
als deinLeben und
erwäre
nicht zu ende.Weil etwas
nichtstimmen
will in unserer Kultur, weil wir alle unter einer Vergangenheit leiden,welche noch
nichtüberwunden
ist, weil wir allevon
einer
Zukunft
träumen, dienoch
nicht vorbereitet ist, weil'8ZÜ3Ci
wir alle die
Gegenwart
verachten, dieuns
sowenig
bieten kann.
Das
alles erzähltuns
der nervöseMagen
derMensch-
heit. Pilgert nur in die zahllosten Kurorte
und
Sanatorien, ihrarmen
betörtenKranken
! Karlsbad ist euerMekka" und
jeder Magenspezialist euer Prophet. Bald
werden
sieeuch
nicht fassen können, die ihr aus aller
Welt
zuZehntausenden zusammenströmt. Denn
der Weltkrieg hat dieMagenkrank-
heiten ‘nur zeitweilig unterdrückt.
Noch
ein Jahr— und
die weite
Welt
ist wieder erfülltvon Magenkranken, welche wie moderne Ahasvere von
Arzt zu Arzt pilgernund
dieHeilung
suchet!, die sie nur bei sich findenkönnen. Die ganze Welt
istwieder
e i n Sanatorium fürMagenkranke:
Hat
es zu allen Zelten sovielMagenkranke gegeben
als
heute? War
dieWelt immer
so angefüllt mit Menschen,, die sich ängstlich beobachten, alle Speisen dahin prüfen,ob
siegesund oder
schädlich sind, die mit zitternderSorge
allen
Phasen
ihres Stoffwechsels folgen? Ichweiß
es nicht, ichglaube
aber,daß
dieMenschen
zu allen Zeiten sich gleich geblieben sind, die gleichenSchwächen und
die gleichenSorgen
zeigen.Trotzdem
halte ich dafür,daß
die Zahl derMagenkranken
sifchzum mindesten
verzehnfachthat. Die
Menschen
mitdem gesunden
eisernenMagen werden
eine Seltenheit.Auch
dieHelden
des Essens, dieberühmten Kämpeh
aufden
Hochzeitenund
Festtafelnwerden immer
seltener. DieMenschheit
ist entschiedenmäßiger geworden
oder hatden
Appetit verloren.Im
Kriege ist die Appetitlosigkeitverschwunden. Das
beweist nur: die Appetitlosigkeit ist eineausgesprochene
Krank-heit der reichen Leute,
zumindestens
derwohlhabenden.
Schon
dieseErscheinung
derzunehmenden
Appetit- losigkeit vordem
Kriege erfordert eineeingehende
Be-sprechung,
ehe
wiruns
der Schilderung desnervösen
Magens zuwenden.
Alles klagtteüber
Appetitlosigkeit.5
Appetitweine, Appetittropfen
und
Appetitpulver solltendem
Übel
steuern.Wir
hattenschon
eineLegion von
Mittelngegen
Appetitlosigkeit.Jeder
Mensch macht Tage
mit, indenen
erden
Appetit verliert.Der
eine verdirbt sichden Mqgen und
erweiß
,es aus Erfahrung,daß
er nur einen oder einigeTage
sich'gehörig
aushungern muß und
der alte Appetit kehrt wieder.Der
andere verliertnach Aufregungen,
infolgevon Depressionen und Verstimmungen
sofort seinen Appetit.Es
„schlägt“ sich
ihm
alles aufden Magen.
Da
will er mit künstliche!; Mitteln helfen,wo doch nur
die Natur helfen könnte.Nicht ein
Monat
verging,ohne daß
die rastlosechemische
Industrie irgend ein neues, angeblich unfehlbares Mittelgegen
Appetitlosigkeit aufden Markt
warf.Dem
aufmerksamen Beobachter war
es klar,daß
diese an-strengenden
Versuche, ein sicheres Heilmittelgegen
Appetit- losigkeit zu erfinden,einem dringenden
Bedürfnisse unserer Zeit entsprachen. Tatsächlich hörte der einfache praktische Arzt,ebenso wie
derberühmte
Professor,sowohl
in seinerSprechstunde
alsauch
bei seinen auswärtigen Kranken-besuchen immer
dieselbe Klage: „Ichhabe
keinen Appetit, lieberHerr
Doktor, können'Sie mir kein Mittel zurHebung
meines
Appetits verordnen?“ Meistenswaren
es die Mütter, die über^die Appetitlosigkeit ihrerKinder
klagtenund immer
ihr Erstaunen aüsdrückten,
wovon denn
dasKind
lebe,da
es. rein gar nichts esse.Merkwürdigerweise
handelte es sich in vielen Fällenum blühend aussehende Knaben
oderMädchen,
deren kräftige Gestaltund
rotgefärbteWangen
die
Worte
derMutter Lügen
straften. Anderseits sahman
"
auch
kleine, jämmerlich aussehende, rhachitische, blutarme,offenbar degenerierte Geschöpfe, die ungeheifer viel aßen, dabei
immer
schlecht aussahen, sodaß
die Mutter jedesmal dieBemerkung machte: „Das Kind
ißt sehr v\e\, aber es6
scheint nichts zu verdauen, die
Nahrung
schlägtihm
nicht an. Allemeine Mühe
ist vergebens.“Zauberhaft,
wie
dieseKlagen im
Kriegeverschwunden
sind,
da
es soschwer wurde,
sich Nahrungsmittel zu ver- schaffen! Plötzlich hatten alle Appetit, die Kinder, die Alten, .die Nervösen, die Nichtesserund
die jahrelangüber
AppetitlosigkeitKlagenden!
^Fast die meisten Krankheiten
gehen wohl
mit Appetit- losigkeitHand
inHand.
Erkrankt derOrganismus,
so istes in der Regel das erste,
daß
derMensch
seinen Appetitverliert.
Da
diesauch
bei jeder fieberhaften Krankheit vor-kommt,
so schieben dieMenschen,
diesesSymptom
fa sch beurteilend, jedeErkrankung
auf einen„verdorbenen Magen“.
Noch
vor einigen Jahrzehnten, als dieDiagnose mancher
fieberhaften
Zustände im
unklaren lag, halfen sich die Ärzteund
Laien damit,daß
sie in solchen Fällenvon einem
„gastrischen Fieber“ sprachen.
Heute wissen
wir,daß das
gastrische Fieber eine sehr selteneErkrankung
ist;wir können
besser diagnostizieren.Wir sehen
indem am
Be- ginne der Krankheit auftretenden Erbrechen, in derAppetit- losigkeit,nur
einSymptom,
dasdurch
dieGiftwirkung
der Infektionskeime (Toxine)zustandegekommen
ist.Freilich, es gibt
auch
Krankheiten,wie gewisse Magen-
leiden, Zuckerleiden
und
andere Stoffwechselerkrankungen,nervöse
Zustände, die mit einer oft kolossalen Steigerung des Appetits einhergehen.Im
Kriegekonnten
wir ja dieBeobachtung machen, daß
viele bisher appetitlose Leuteewig an Hunger
gelittenhaben und den ganzen Tag essen mußten. Doch davon
später.Es
ist einAusnahmezustand
—
ein seelischerHunger;
aber in der Regel ist die Appetit- losigkeit Begleiterscheinung eines krankhaften Zustandes,wenn
sie nicht— und
darauf lege ichbesonderes Ge-
wicht —
künstlich erzeugtwurde.
7
Wie
sah es vordem
Kriege aus?Wie
sieht es trotz des Weltkriegesnoch
heute in der Kinderstube des„Hamsters“ und Kriegsgewinners aus?
Manche
Kinderwerden
systematisch zur Appetit- losigkeit erzogen; das -Essenwird
ihnen verekelt, wird ihnen zurschweren
Qual, zurunangenehmen
Pflicht ge- macht. Die Unsitte dieKinder wie
das Mastvieh zu stopfen, greiftimmer mehr um
sich.Die
törichten Elternglauben dadurch dem Kinde etwas besonders Gutes zu
tun, das- selbegegen
allemöglichen
Krankheitenzu
schützen, erzielen aber inWahrheit
das Gegenteildavon:
siemachen
dasKind
krank, mitunter krank für seinganzes
Leben. EinKind
istnun
einmal sound
nicht anders:Was es haben
kann, das verliert seinen Reiz; was ihm ver- boten
ist,wird ihm
h eiBestes Begehren! Wiesoll nun
dasKind
seine Mahlzett mit Appetiteinnehmen, wenn
sie
ihm
zur Arbeitgemacht wird? Die
Szenen, die sicham
Mittagstisch jeder „besseren“ Familie abspielen, sind fürden denkenden
Arzt ein Greuel. „Fritzchen“, sagt dieMama, „warum
ißtdu denh
gar nichts?Du
bist gar nicht brav!Wenn du schön
mit deiner Speise fertig wirst, sobekommst du
eineBelohnung.“ Das arme Kind würgt
dieihm
VorgesetzteNahrung,
dieden Fassungsraum
seines kleinenMagens
weit übersteigt,gewaltsam
herunter. Törichte sind sograusam,
ihre Kinderzu
schlagen,wenn
sie nicht alles aufessen.Dabei
rückt eine Mahlzeitnach
der anderen aufden
Tisch. KeineRuhepausen! Um
acht hatdas
Kind
sein erstes Frühstück getrunkenund
gegessen,um zehn Uhr
sindschon
einige Butterbrote,Wurstzeug,
Eier vertilgt
und um
einUhr
soll dasKind
wieder essen.Schon haben
erfahrene Kinderärzte darauf hingewiesen,daß
die
Magenerweiterungen
bei Kindern sehr häufig Vor-kommen,
daß solcheKinder dann
ihrLeben
langan einem
krankenMagen
laborieren.Es
geht ja mitden Erwachsenen
8
auch
nicht besser. ForcierteMastkuren kommen immer mehr
inMode,
dieKränken
sollen in einigenWochen um
fünf bis sechs
Kilogramm zunehmen und
die verschiedenen Anstalten preisen in ihren Prospektenund
Jahresberichten ihre diesbezüglichen Erfolge. Eile mit Weile!Nirgends
hat dieserSpruch
eine so tiefeBedeutung,
nirgends ist erso
am
Platze, als bei derBehandlung
krankerOrganismen.
Große Gewichtszunahme
istnoch
nicht Alles.Der
erfahrene Lungenarzt Dr. Volland inDavos
hatschon
vor Jahren daraufaufmerksam
gemacht,daß manche
dieserglänzenden
Erfolgenach
kurzer Zeit illusorischwerden,
weil mit der rapidenGewichtszunahme
eine rapideErweiterung
desMagens
eingetreten ist,welche
ihre nachteiligenFolgen
in kurzer Zeit geltend macht.Der
Appetit verschwindet, dieVerdauung
wird träger, derKranke nimmt
wieder ab.Ruhepausen
sind für jedenMagen
ein unbedingtes Erfordernis, soll derselbe nicht seine regelmäßigeFunktion
verlieren.
Wie
ungeheuerlichwird gegen
diese einfache Regel gesündigt.Schon
der Säuglingbekommt
seineNahrung
nicht in regelmäßigenZwischenräumen;
sobald er schreit— und wie
häufig schreit erwegen
eines über- ladenenMagens! —
erhält er seine Flasche oder, bei der Spärlichkeit derAmmen,
bei derabnehmenden
Stillfähig- keit unserer Mütter,kann man
es ja ruhig sagen, soparadox
es klingenmag, den
Ersatz der Flasche, die mütter- liche Brust inden Mund. So wird schon
indem
ersten Lebensjahre der Grundsteinzu schweren Erkrankungen
ge-legt.
Wird
dasKind
älter, so beginntman
es in lächerlicherWeise
zu stopfen,wie
ich dasschon oben
geschildert habe.1 Viele Mütter sind so törichtund
wollen es nicht einsehen,daß
dieNatur im ganzen
Reiche der Säugetiere die Milch zurErnährung
desKindes gemacht
hat.Das Kind
soll frühzeitig „kräftig“ ernährt werden. Sie füllenden
Magen
mit allerleischwer
verdaulichen Speisen an,wenden
die unzähligen
und
so häufig überflüssigen Nährapparate an, die in derHapd
des Arztes wichtige Behelfe sind,aber
irrationell gebraucht,großen Schaden
stiftenkönnen;
sie
beginnen zu
früh mit der Fleischnahrung; sie verderbendurch
allerhand Schleckereienund
Näschereien,durch Bon- bons,
kandierte Früchte,Zähne und Verdauungsorgane;
sie entziehen
dem Kinde
dasnotwendige
Obst,nach dem
der kindliche
Organismus
lechztund
das er oft so nötig hat;und
sie berücksichtigen alle nicht,daß
wir mitunter einenwunderbaren
Führer indem
Instinkt desKindes
haben, das die eine Speiseverschmäht und
die andere stürmisch begehrt, weil es die eine nicht benötigt,während
die andereihm
lebenswichtigeSubstanzen
zuführt.Sind
schon
in dieser falschenErnährung
der Kinder dieGrundlagen
späterer Appetitlosigkeit gegeben,so
tu die falscheLebensweise noch
ein übriges dazu,,um den Menschen
vollends krankzu machen.
Appetitsteigernde Mittel sind Licht, Luft,Wasser,
physische Arbeit.Wie
traurig schaut es damit bei unserer
Jugend
aus!Tagelang an
dieStuben
gefesselt,von einem Buche zum
anderen gejagt, an’s Klaviergebunden,
bei schlechtemWetter
ängst- lichzu Hause
gehalten, vor derBerührung
des kalten ,Wassers
übertrieben gehütetoder
das Gegenteil bis zurErschöpfung — und Erschöpfung
ist eine derHaupt- ursachen
der Appetitlosigkeit— von einem
Fräulein odereinem
Dienstbotendurch
die Straßen spazieren geschleppt, in unvernünftigerWeise
in kaltesWasser
getaucht, mitvollem Magen
in’s Bettgesteckt,durch
allerlei reizende,pikante Speisenum den Genuß
einer einfachen nahrhaftenKost
ge- bracht^und
unzählige solcher Torheitenmehr!
Wahrlich,man muß
sichwundern, daß
esüberhaupt noch Menschen
auf der
Welt
gibt, di? sich einesgesunden
Appetits erfreuen.Wie dankbar
bin ichmeinem
lieben Mütterchen,daß
sie
mich
in meinerJugend
niezum Essen gezwungen.
10
Wir mußten immer um
dasEssen
bittenund wie
häufig,wenn
wirnoch
einStückchen
^verlangten, erhielten wir die vernünftigeAntwort: „Du
hast heutegenug
gegessen.Lasse dir
Raum
für ein andermal.“ Ihr verdanke ich es,daß
ichnoch
heute, selbst inschweren
Krankheiten,immer
einen regelmäßigen Appetit habe, der mir jede Mahlzeit zur
Freude
macht; Ihr verdanke ich es,daß
ich in meiner Studentenzeit mitebenso großem Genüsse
ein StückSchwarzbrot zum Nachtmahle
verzehrenkonnte wie den
feinsten Braten, ihr verdanke ich es,
daß
ich nichtwie
vieleandere
Menschen
ein Sklavemeines Magens geworden
bin.Ihr
verdanke
ich es,daß
ich dieEntbehrungen
derWelt-
kriegsjahre nie als
Entbehrungen empfunden
habe!Daß
ich Kriegsbrote
und
Kriegsmahlzeiten; beidenen
allerdings dieHausfrauenkunst
meiner Frau sich glänzend bewährte, mitdem
gleichenBehagen
verzehren konnte,wie
einst ein leckeresMahl
! Das.ist derSegen
einer vernünftigen Kinder- erziehung!Die Mütter überschätzen
eben immer
dieGegenwart und
vergessen die Zukunft.Was
fürBedeutung
hat es für dieZukunft
des Kindes,wenn
es in der Kindheitwohl-
genährt ist?Gar
keine.Man
sieht aus schwächlichen Kindern , Kraftnaturen entstehen,man
sieht athletische Kinder zuSchwächlingen und Krüppeln
werden.Im
Laufe einesMenschenlebens kann
sich derOrganismus
vieleMale
verändern; zarte Kinderkönnen
zu zartenMenschen werden und
einhohes
Alter erreichen,ohne nennenswerte
Krankheitendurchgemacht zu
haben; ja derVolksmund
behauptet nicht mit Unrecht,
daß
die zartenOrganismen
zäher sind als die kraftstrotzenden.Mache
jeder nurden Versuch und denke
an seine Mitschüler zurück,denke an
die
Wandlungen,
die mit ihnenvorgegangen, denke
daran,welche schon zugrunde gegangen
sind,und
er wird mir recht geben,wenn
ich behaupte,daß
wir alle dieNeigung
haben,
an eine starre Fixation einesgegenwärtigen Zu-
standes zu glauben,während
inWahrheit
allesim mensch-
lichen
Leben Bewegung und Veränderung
istDer mensch-
liche
Organismus
ändert sichvon
Jahrzu
Jahr— zum
Guten
oderzum
Bösen.Der weise Ausspruch
des griechischenPhilosophen
: „Alles fließt“ hat nicht nur für dieNaturphänome,
für Licht, Schallund
Elektrizität, nein, für unserganzes Leben
eine tiefe Berechtigung.Deshalb brauchen
wir nichts vorden Folgen
des Weltkrieges füt\die
Jugend
zubangen
!Im
Gegenteil ! Die Kriegs-Generation dürfte einen sehrgesunden Magen
haben. DieNot
ist ein energischer Meister!Aus
diesenAusführungen können
aberauch
diejenigen Trost schöpfen, die infolge falscherErziehung
oder falscherLebensweise
an Appetitlosigkeit leiden.Es
ist nie zu spät,um
eineUmstimmung
seinesKörpers vorzunehmen. „Ach
was“, ruft mir ein älterer Beamter' zu, „ich leideschon zwanzig
Jahre an Appetitlosigkeit, eswird
nie besserwerden“. — „Mache den
Versuch“, antwortete ichihm;
„gehe
desMorgens, bevor du
in deinAmt
gehst, eineStunde
spazieren, verzichtenach dem Amte
auf deine dir liebgewordene
Kartenpartieim
rauchigen Kaffehause, be-wege
dich in frischer Luft, rauche nicht vor jeder Mahlzeit, lese nichtwährend des
Essens, schlinge die Speisen nicht in nervöserHast
hinunter,gönne deinem
Geiste die nötigeRuhe und
deinenMuskeln
die unentbehrliche physische Arbeit,und du
wirstschon nach
einigenMonaten
be-merken, daß
mit dir einegroße Veränderung
vorgeht“.Oft sind eo nur Kleinigkeiten,
welche
dieUrsache
der Appetitlosigkeit bilden. Häufighaben manche Menschen
eine
ganz
falsche Einteilung ihrer Mahlzeiten,Schweninger
hat einmal in seinen„Gedanken
aus meiner Ärzteschule“einen
Ausspruch
getan, der entschieden einegewisse
Be- rechtigung hat.Er
meinte, wirverwöhnten
unserenMagen
12
durch
dieewig wiederkehrenden
regelmäßigen Mahlzeiten,und
er schlug eineabwechslungsreiche Ernährung
vor,welche
er„Magengymnastik“ genannt
hat.Heute
solleman
' Kaffee
zum
Frühstück trinken,morgen
einen Rettigund
einGlas
Bierzu
sichnehmen, am
drittenTage
wieder eine andere Speise. In der Tat, es läßt sich nicht be- streiten,daß
die einförmigeMonotonie
unsererMahl-
zeiten einerseits eine
Gefahr
iür unseren Appetit bildet,während
andererseits gerade in dieser Regelmäßigkeit eineGewähr
für die ungestörte Funktion unsererVerdauungs- organe
liegt.Der Mensch
isteben
keine Schablone, für die jede Regelanwendbar
ist; der eine zieht aus dieser Regelmäßigkeit der Mahlzeiten Nutzen,während
siedem
anderen schaden.
Frühmorgens
sind die meistenMenschen
appetitlos.
Da
sie aber ihrem Berufenachgehen müssen, so nehmen
sie ihr erstes Frühstückgezwungen und
wider- willig ein. Ein tüchtiger Spaziergang vordem
ersten Frühstück wirktwahre Wunder.
Einungeheurer
Appetitstellt sich ein, ja,
man kann
sich so.reichlich nähren,daß
die
große Pause
biszum
Mittagmahl weit besser ertragen wird.Die
meistenMenschen haben am
Vormittagzwischen
10und
1 1Uhr den
größten Appetit.Die
einen übertauchenihn, die anderen
nehmen
ein zweites Frühstück, das ihren Appetitzum
Mittagmahlvollkommen
stört.Da
finde ich die Einrichtung derEngländer und
vieler Aristokraten, vormittags kräftig zu frühstückenund
die Hauptmahlzeit <um 6 Uhr abends
zu verzehren, viel vernünftigerund
natur- gemäßer.Aber
dieHausfrauen
.sträuben sichgegen
diese Einteilung; sie wollen des Vormittags fertig werden,um am Nachmittag von
der leidigenKuchenfrage
verschontzu
sein, sie
weisen
mit Recht darauf hin,daß
sie nicht zurRuhe kommen können und
dergleichenDinge
mehr.Der
Krieg hatuns
bewiesen,daß
beiden
meistenMenschen
die Appetitlosigkeit Cine nervöseErscheinung
%
ist:
Man kann
ruhig behaupten,daß
die meistenMagen-
krankheiten nur nervöse Sind.Nur
nervöse!Es
ist fast lächerlich, das so auszudrücken. ,Denn
die organischenMagenleiden
sind lange nicht so quälend, sounangenehm wie
dienervösem
Da
lobe ich mir einengewöhnlichen
Magenkatarrh.Ich verderbe mir einmal
den Magen. Das
istgewiß
unan-genehm.
Ich verliere den.Appetit, ich leide aneinem
un-angenehmen Geschmack im Munde^
an Brechreiz, Auf- stoßen, ichmagere
ab, abernach
einigen Tagen,Wochen, nach
einer entsprechendenBehandlung,
die hauptsächlich in einerSchonung
des krankenOrganes
besteht, geht dieganze Störung
vorüber.Der
Appetit kehrt wieder, dieSchmerzen
schwinden,man
vergißt bald,daß man magen- krank gewesen.
Der
nervöseMagen
scheint für die Ewigkeit etabliert.Er wird
besserund
schlechter, kurz, ist ein „chronisches“Leiden. Alle Magenkrankheiten, die viele Jahre dauern, sind
schon
als „nervöse“ sfehr verdächtig.Und
es gibt keine Magenkrankheit,welche
sich nicht als „nervöserMagen“
entpuppen
kann.Vom
einfachen Magenkaterrh,dem Magen-
1geschwür,
derMagenverengung
biszum
bösartigenMagen-
krebs, alle diese Rollen
kann
der neryöseMagen,
spielenund
es gehört oftgroße
diagnostischeKunst
dazu,den nervösen Magen von einem
organisch kranken zu unter- scheiden.Es
ist unmöglich, indiesem engen Rahmen
alleFormen
desnervösen Magens
zu besprechen.'Es
gibt Kranke, die viele Jahre anSchmerzen
leiden, sodaß
sie selbst eiuen erfahrenen Arzt erschreckenund
erzumindest
an ein„Magen- geschwür“
denkt, jadenken muß,
will er keinen Kunst- fehler begehen.Aber
trotz der strengsten Diät, die insolchen Fällen verordnet wird,
wird
dasÜbel immer
schlimmer. DieSchmerzen
steigern sichund
geradenach
14
der strengsten Diät.
Man
glaubt es nicht— und
es istsehr
schwer
zu erkennen,daß
dieseSchmerzen
eigentlich nurHunger
sind. Ja, .die meisten der nervösenMagen- schmerzen
sindganz gewöhnlicher Hunger. Und gegen
diese
Schmerzen
wirddann
wieder mit einer strengen Diät vorgegangen.Immer
wieder führt derKranke
seineSchmerzen
auf die letzte Mahlzeit zurück. Ermüsse doch
„etwas Schlechtes“
gegessen
haben.So
schränkt derKranke den
Kreis seiner Nahrungsmittelimmer mehr
ein, bisihm
schließlich nur einige Speisen bleiben,
von denen
er zwei- felnd glaubt,daß
sieihm
nicht schaden.Bei solchen
Kranken kann man Wunder
erzielen,wenn man
ihr Vertrauen erobertund
siedazu
bringt,wie normale Menschen zu
essenund
zn trinken. Ich erinneremich
anMenschen,
dieman
für Todeskanditaten hielt, so jammervoll verfallensahen
sie aus. Ich verordnetegegen
ihre
Magenschmerzen
nichts als ausgiebige Mahlzeiten—
und
sieheda
sie verwandelten sich in blühende, kräftigeGesunde.
Ichdenke immer wieder
an einen kleinenMann,
der nurnoch von
Milch lebteund
dabei die gräßlichsten.
Schmerzen
litt. Er quälte sichim Wahne,
er leidean einem Magengeschwür,
einWahn,
dervon
verschiedenen Ärzten genährtwurde, während
dieMehrzahl
ihn tröstete, eswäre
nur eine nervöse Erkrankung.Der Mann
hatteschon Hunderte von
Ärzten konsultiertund von jedem
eine Diät- vorschrift erhalten.Da
er das Bestreben hatte, alle Diät- vorschriften zu befolgen,war ihm
schließlich als einziges Mittelnur
die Milch geblieben, die erauch nur
schluck- weise in kleinen, eiskalten Portionen verfrug.Aber wie
einen solchen eingebildetenKranken
überzeugen,daß
er essenmüsse wie
ein Nownaler,um gesund
zuwerden?
Ichem-
pfahl
ihm
kräftigeNahrung. Der Kranke
antwortete darauf, er fürchte die Schmerzen.Aber
er wollegesund werden
und
sokönne
er nicht leben.Nun
erwiderte ich: „Sie leiden ja ohnedies anSchmer-
zen. Siehaben
also nichts zu verlieren. Siekönnen
jeden-falls essen.“
„Und wenn
ich sterbenwerde?“
erwiderte ängstlich der Kranke.„Ist es nicht besser, zu sterben, als so jämmerlich
zu
vegetieren?Wenigstens
wird die Art des Selbstmordes originell sein.Töten
Sie sich mit Gulasch, Schweinskarree, Rindsbraten, mit Torten, Aufläufen,Käsen
usw.“„Sie glauben also, ich
könnte
eingewöhnliches Mahl
essenwie
alleMenschen?“
„Ich glaube es bestimmt.
Und wenn
Sie daran sterben?Sie
haben
ja ohnedies gejammert, Siekönnten
diesLeben
nicht
mehr
ertragen . . .“Ich
habe
diesenMenschen nach
vierWochen wieder- gesehen und kaum
erkannt. Ichhabe andre
ähnliche Fälle gesehen. In allen bestand eigentlich eineAngst vor dem
Essen, die auf tiefere seelische
Wurzeln
zurückging, als die oberflächliche Betrachtungannehmen
sollte. Viele dieserKranken
sind nämlich verkappte Asketen.Man würde
esnicht glauben,
wie
viel Schuldbeladene auf derschönen Welt
herümlaufenund
sich fürSünden,
die sie nicht be-gangen
haben, strafen zumüssen
glauben.Das
Schuld-bewußtsein
ist die Quelle aller neurotischenErscheinungen und
äußert sich ingeheimen
Verboten, die ungefähr lauten:
Das
verdienstdu
nicht!Da
dasEssen
zuden
größtenFreuden
desLebens
gehört, bei vielenMenschen
leider zuden
einzigen, so setzt die selbstdiktierte Strafe geradebeim Eßakt am
leichtesten ein.So
ist eszu
verstehen, daß, allerleiZwangsvorstellungen
sich geradebeim Essen
ein- stellen.Von extremen
Fällen will ich hier absehen.Aber
ich
kenne
Frauen, die plötzlichvon
derAngst
befallen werden, siekönnten
verhungern, siekönnten
aufhören zu essen, andere, die fürchteten,beim Essen zu
ersticken, diedritten,
denen
ein Bissenimmer
stecken bleibt, usw.Das
sind
Ausnahmen. Die
gebräuchlichenZwangsvorstellungen
beziehen sich auf dieGüte
der Nahrungsmittel. Die Angst, sichden Magen
zu verderben, stehtim
Mittelpunkt der Neurose.Schon
vordem Essen
verraten sich diesearmen Menschen durch
ihr äußerst charakteristischesGehaben.
WäHrend
derGourmand
die Speise liebevoll betrachtetund
die
Wonnen
der „Vorlust“ genießt, leidet derMagenneuro-
tiker
schon
vordem Essen
unter der „Vorangst“.Miß-
trauisch besichtigt er die Speise, betrachtet sie
von
allen Seiten, prüft ihre Farbe, riecht dazu, fragtim Gasthause den
Kellner (höchst überflüssigerWeise!) ob
der Braten„auch wirklich frisch“ ist, beschneidet sorgfältig
den Rand,
beseitigt alle Fettstücke,
macht noch
eine zweite Operation, die verdächtige Stellen entfernt, stecktden
Bissen langsam,fast
zögernd
inden Mund,
prüftnochmals
mit derZunge und dem Gaumen.
(Nicht selten wird der erste Bisson ausgespucktund
die Speise beiseite geschoben.)Kann
eine solcheNahrung bekommen
?Muß
einesolche
Nahrung
nichtSchaden
stiften? Ich verweise auf diebekannten Untersuchungen
desberühmten
russischen PhysiologenPa w low. Er
beobachtete,daß
einHund, wenn
erdurch den
Anblick eines Stückes Fleisch gereiztwurde,
aus einer Magenfistelschon
vordem
Schlingakte einegewisse Menge
Magensaftes produzierte. Diesen appetiterregenden erstenMagensaft
nanntePawlow den
„Zündsaft“.
Aber
erkonnte auch
konstatieren,daß
dieser Saft ausblieb,wenn
das Tier durch allerleiunangenehme Eindrücke
gestört wurde.So
beschränkte das Erschrecken des Tieres oder dieAbwesenheit
desHerrn
sofort die Magensaftsekretion.,
Wenden
wir dieseBeobachtungen
auf unsernMagen-
hypochonder
an. Infolge seinerAngst
wird der Zündsaft(ausbleiben, das heißt, sein Appetit wird jedenfalls beschränkt.
Allein
auch
die Magensaftsekretion wird zuwünschen
übrig lassen.Der
Prozeß derVerdauung
wird nicht .mit der Intensität vor sichgehen wie
beieinem gesunden normalen Menschen. Da dem Magensaft auch
wichtige antiseptische Eigenschaftenzukommen, da
vieleKeime
durchden Magen-
saft
zugrunde
gehen, sowird
ein solcher nervöserMagen aych
viel leichterden
Schädlichkeiten unterworfen sein als einnormal
funktionierender.Es können
zweiMenschen
denselben Fisch essen.Der
eine denkt nicht daran,daß
der Fisch verdorben sein könnte. Er hat einen gehörigenHunger,
der Fisch reizt seinen Appetit, er produziert einen gehörigen Zündsaft, sein Appetit steigtnoch Während
der ersten Bissen, mit anderenWorten,
seineMagen
saftsekretionist sehr reichlich.
Der
Fischwar
in der Tat verdorben, aber dje giftigen Substanzenwurden vom Magen-
saft unschädlich gemacht.
Nun
ißt derMagenhypochonde- auch den
Fisch. Er hatschon
so oftvon
Fischvergiftungen gelesen,daß
er in einerewigen Sorge
lebt, er könntean
einer Fischvergiftung erkranken.
Er
verzehrtden
Fisch mitschwer
versteckter Angst,um den Hausherrn
nichtzu
be- leidigen.Während
desEssens konimt ihm
derGeschmack
des Fisches
merkwürdig
schlecht vor, erkann
aber nicht anders, alsden
Bissen hinunterwürgen.Er
ißtohne
Appetit,eher, mit Widerwillen. Er produziert fast gar
keinen Magen-
saft, die unversehrten
Keime können
sichnun im Darme
rasch vermehren,
und
derarme Mann
erkranktan
einermehr oder minder schweren
Fischvergiftung.So
schadet dieAngst
gerade demjenigen,dem
sie ein Schutzgegen den Schaden
sein sollte.
Doch nehmen
wirden
Fall an, die Speise sei frischund
tadellosgewesen. Unser
armerHypchonder
kennt nicht die Freude derVerdauung,
die so vielenMenschen
als Nachlust noch,wertvoller ist als das
Essen
selber. Jederkennt an sich das behagliche Gefühl, das einen
überkommt,
wenn man
sich sattgegessen
hat,ohne
sich zu übersättigen.Diese N^ichlust ist auch ein Zeichen der
Gesundheit und
der
normalen Funktionen
derVerdauung.
.Der
Ängst-liche hat
kaum
seine Mahlzeit fertig gegessen, so meldet sichschon
der schrecklicheGedanke,
er könnte sichden Magen
verdorben kaben.Er
beginnt sich zu beobachten.Wer
in- seinem'Körper nach
Krankheitszeichen sucht, der findet sie immer.Nach
einigen 'Minuten liegt liegt esihm wie
ein Steinim Magen,
er bedauert,daß
er so vielgegessen
hat, er versucht mitSoda
oder Salzsäure abzuhelfen, er fühltschon
dieominöse Spannung,
die er sichnotabene
mit Seufzenund
Luftschlucken selbst erzeugt.1Nun möchte
eram
liebsten erbrechen— und
ichkenne kenne
solqhe Unglückliche, die nicht früherRuhe
haben, bis sie nicht die Mahlzeit oder einen Teil derselbenvon
sich
gegeben
haben.In solchen Fällen
wird dann
die Mahlzeitim
Geiste nachträglich einer strengenUeberprüfung
unterworfen. Bald wird die eine Speise beschuldigt, bald die andere,.Pas
Repertoire an Speisen wird
immer
,
geringer.
Für
dieEhe-
frauen ist solch einMagenhypochonder
die leibhaftige Hölleim
Hause.Es
wirdimmer
schWerer, für ihn zu kochen.Er
beschuldigt immer, dieKüche
siewäre
anseinem Magenübel
schuld, er verlangt tyrannisch eine strenge Be- folgung allervon ihm
erprobten Regeln.Wehe
der Hausfrau, die ihremManne
eine Mehlspeise vorsetzt, die aufseinem
Index steht! „Ich sehe es ja ein. Ich bin dir lästig,du
willstmich umbringen, mich
vergiften.Weißt du denn
nicht,daß Germteig
fürmeinen Magen
Gift ist?Professor Bratengeiger hat
min
ausdrücklichGermspeisen
yerboten ! Verstehstdu
!Aber
es ist jazum
Rasendwerderi.Du
setzt mir täglich eine andereGermspeise
vor.“ In Wirklichkeit ist es die erste seit einigenMonaten.
So
ein nervöserMagen
ist ein böser Tyrann, der nichtnur
.seinen Träger,Sondern auch
mitihm
das'ganze Haus
beherrscht.Hat
derböse Magen
einenschlimmen
Tag,so muß
dasganze Haus
darunter,leiden.Es
ist jabekannt,
daß Magenleidende
besondersmorose und
unver- trägliche, verbitterteMenschen
sind.Man
hat diese Charakter- eigentümlichkeit als Folge des Leidens aufgefaßt.Die Sache
verhält sich umgekehrt.Der
ängstliche, verbitterteMensch wird
leichtmagenkrank.
Alleunangenehmen
Erlebnisse desTages
„schlagen sichihm
aufden Magen“, wie man
inWien
zu sagen pflegt.Mann kann
beobachten,daß
in Zeiten,wo
ihnen alles nachWunsch
geht, dieMagenbeschwerden
zurücktreten
und
derZustand
erträglich wird.Nach
unan-genehmen Aufregungen, besonders nach Zurücksetzungen und Demütigungen,
meldet sich der nervöseMagen.
Soforttritt das bekannte
Aufstoßen
auf, mitunter sogar heftigeSchmerzen,
der Appetit schwindet, derGeschmack
der Speisen ist nicht zu konstatieren, allesschmeckt
fade, esist, als
ob
derganze Mund
„verpappt“wäre usw.
Daß
nervöseMagenleidende
inschweren Mengen nach
Karlsbad fahrenund
sich ihrÜbel
daselbst verschlimmert,ist eine bekannte Tatsache.
Gerade
dieser Badeort, der so herrlich bei organischenErkrankungen
zu wirkenvermag, macht
die Seele der eingebildetenKranken ganz
rebellisch.Die, strenge Diät, die vielen Kranken,
von denen
sieum- geben
sind, die Schilderung derfremden
Leidenund
Be-schwerden,
dasWasser,
das alles versetzt sie ih hoch- gradige Aufregung. Sie glaubendann
selbst an ihrMagen-
leiden,
während
sie vorherdoch
hieund da
einen leisen Zweifel nicht unterdrücken konnten.Solchen
Kranken
istüberhaupt
das vieleBehandeln und Ausfragen
sehr schädlich. Jeder Arzt hat andere Vor- schriften andere Erfahrungen, andere Ansichten. Jeder hält«ine
bestimmte
SpeisefW besonders
gefährlich,was
jazum
20
Teil
von
eigenen Erlebnissenund
Zufällen abhängt.Auf
diese
Weise kommt
derKranke
inVerwirrung und
sein Repertoir wirdimmer
kleiner.Es
ist das beste,man
hält sichauch
in solchen Fällen an einen Arztund zwar
an seinen Hausarzt, derdurch
längereBeobachtung schon herausbekommt, daß
er es miteinem Magenhypochonder
zu tun hatund
wenigstens keinenSchaden
stiftet,indem
er
den Kranken immer
wieder beruhigtund ihm Mut
zu- spricht,ihm zum Essen
zuredet, kurz, ihn auf seineWeise
der
Heilung
näherbringt.Denn man
glaube es nicht,daß
der nervöseMagen
nicht zu heilen ist.
Es
sind nurbesonders böse
Fälle, indenen
sich dasÜbel immer
weiter einfrißtund
schließlichden Menschen
fast lebensunfähig macht. In jvielen Fällen'kommt
esnach
Jahren zuüberraschenden
Heilungen. Irgend- ein zufälligempfohlener Tee
oder irgendein harmloses Mittel gibtden Kranken
das Vertrauen zu sich wieder.Manchmal
ändert sich das Leiden,-wenn'
dieLage
desKranken
sich besser gestaltet;und
das Schicksalihm
gut gesinnt' ist.Man
erlebt diemerkwürdigsten Überraschungen.
So
kannte ich einen solchen Kranken, mitdem
ich einenSommer
ineinem Gasthause zusammen
speisie.Er
bat mich'um
die Erlaubnis, sich anmeinen
Tisch setzen zu dürfen,,wie
ich es bald heraus hatte,um mich
bei jeder Speisezu
befragen,ob
sieauch „gesund“ wäre und auch
hieund da
anmeinen Geschmack und Geruch zu
appelieren.Da
ich abervon Haus
aus alsmäßiger
Esser miteinem
kräftigenMagen begnadet
bin,konnte mir
dieserKauz meinen
Appetitund meine
Lebensfreude nicht stören.Der Tischgenosse kam
ausdem Staunen
nicht heraus.Wie
ich als Arztsa
leichtsinnig sein könnte, Alles zu essen!
Wie
ichmich
traute, solche
Wagnisse
zu leisten!Er
scheint mirdoch etwas abgeguckt
zu haben.Denn am Ende
desSommers begann auch
er alle Speisen/
21
zu
essen, die ich aß. Erwar
eigentlichgesund und
hatte sichden Weg
zurGesundheit
selbst gefunden.Außerdem begann
dieserMensch
seinWesen
zu verändern.Er wurde
lebenslustig
und
ein „feschesHaus“ und
keinerwurde heute
indem übermütigen Menschen den
mißgelauntenMagenhypochronder von ehedem
erkennen.Ja
—
dieWege
zur Krankheitund Gesundheit
sindsonderbar
verschlungenund
dunkel.Was dem einem zum
Verderben
wird, wirddem
anderenzum
Heile;was den einen
aufrichtet, wirftden
anderen nieder.Es
gibt keineSchablone
in der Medizin. Alle Bücherweisheit versagt vordem ungeheuren Reichtum
des Lebens. JederKranke
ist«in
neues
Problem.Deshalb kann
die Medizin nie einHandwerk
sein.Der
Arztmuß etwas vom
Künstler an sich haben. Ermuß neue Menschen
schaffen können, ermuß
,neue
Wege
findenkönnen und
ermuß auch den Mut
v
haben,
von
derSchablone abzuweichen und
alleserwägend und
überlegenddem Menschen
dieHoffnung
einzupflanzen,welche
die Mutter aller Erfolge ist.Nach diesem
allgemeinen Überblick über die verschie-denen Formen
des nervösenMagens möchte
ichnochmals
betonen;daß
dieses Leiden inden
mannigfachstenFormen vorkommt, von
der einfachsten Appetitlosigkeit bis zu dejnschwersten
Formen von Angst
vordem
Essen, dieauch
zum Tode
führen kann.Zum Glücke
sind die letzteren Fälle sehr seltenund kommen
nur beiden
schwerstenFormen von
Hysterie vor. Inden
leichten Fällengenügt
' die
beruhigende
Aufklärung des Arztes. Inschwereren
je-doch
ist esschon
nötig auf die tieferenWurzeln
des Leidens einzugehen.Eine sehrschwierige kamplizierte Aufgabe! Ich
habe
ge- schildertwie
die falsche Erziehung, die Überfütterung, derZwang zum
Essen,dieMagenkrankheiten
züchten.Nun kommt
noch
ein wichtigesMoipent
hinzu,daß uns anerzogene
22
und
eingebläute Schuldbewußtein, dipböse
PhilistermoraF mit allen ihrenForderungen und Beschränkungen
der Indi- vidualität.Im
Mittelpunkre vieler Krankheitsbilder steht der Ekel.Der
Ekelwürde
eine gesondertegroße Besprechung
verdienen. Ich
kann
hier auf seine Psychologienur
mit ein paarWorten
eingehen.Der
Ekel spielt bei nervösenMagen-
leiden eine
ebenso große
Rollewie
die Furcht vordem
Essen.
Der
Ekelund
sein polaresGegenstück
die Begierde sind beideAusdrücksformen
einer'und
derselben Kraft.Die Begierde ist der
Wunsch nach Berührung,
der Ekel dieAngst
vor Berührung.Der
Ekel ist ein Sexualgefühl miteinem
negativen Vorzeichen. Nichts ist leichter, als'derÜbergang vön
Begierdezum
Ekelund von
Ekel zur Be- gierde.Nun
spielt der Ekelim modernen
Kulturleben einegroße
Rolle.Hunger und
Liebe sind sonahe verwandte
Kräfte,
(^ß
sich ihreBeziehungen
gar nichtvon
einanderlösen lassen.
Man
sprichtvon einem
appetitlichen Frauen- zimmer,man
findetden
oder jenenMenschen
ekelhaft.So kommt
es auch,daß
sich dasgeheime
Kräftespiel unserer Sexualitätam Magen
zeigen kann, sich in derSpräehe des Magens
ausdrückt.Das werde
ich gleich aneinem
Beispiele näher erklären. Ichmöchte
abernoch
vorher einigeWorte
über dieSchutzwälle der Moral sprechen.
Da
derGeschlechts-trieb
naturgemäß nach
Betätigung drängt, baut sichdpr Kulturmensch um
seinen Trieb drei Wälle, mitdenen
er sich vofden Gefahren
derWelt
schützt. DieseWälle
sind:Die
Angst, dieScham und
der Ekel.Alle drei spielen
auch beim
nervösenMagen
eine Rolle.Es
ist interessant zu konstatieren,daß
bei vielen Naturvölkern sich 'dieScham mehr
auf dasEssen
erstreckt als aufden
Sexualakt.Es
gibt viele Naturvölker* derenFrauen
nie vorfremden Männern
essenwürden,
ja sieJ
I
nehmen
sogar nie vorden Augen
des eigenenMannes
ihre
Nahrung
ein.Es
istauch im Grunde genommen
nichtimmer
ein erfreulicher Anblick,Menschen
essen zusehen und
mir ist esimmer schwer
begreiflichgewesen, daß man
alle
großen
Errungenschaften, alle wichtigen historischenMomente im Leben
des Einzelnenund
der Völker durlrh ein Festessen feiert, als sollte nachden Triumphen
des Geistesauch
derMagen
sein Recht fordernEs
gibt
auch nervöse Menschen,
die sichschämen
vörden anderen Menschen
zu essen. Sie essen nur auf ihremZimmer und auch da nur w^nn
ihnetj keinMensch
Zu-sehen
kann.Das Essen übernimmt symbolisch
leicht dieBedeutung
eines Geschlechtsaktes.
Der Hunger
tritt für die Liebe ein.So
.kenne
ichMädchen,
dievon dem Wahne
befallenwurde,
ste
müsse
sehr dickwerden und
sehr viel essen. Sieaß nur
auf ihremZimmer und
legte ‘ sich zu jeder Mahlzeit ins Bett.Das
Mittagmahl,dem
keinMensch
zuschaufen dürfte, dauertezwei Stunden und noch
länger. Dies Leidenwar
lange Zeit allen Ärzten räthselhaft. DieMotive
diesesHandelns waren
unverständlich. Alleinwenn man
einmal gelernt hatte,daß Essen
für dasMädchen
Lieben heißt,so
war
alles verständlich. Sie wollte alle ihre erotischen Triebe ausleben!Das
verlegte sie auf dasEssen und wurde
ein Vielfraß.
Aber
sie wollte dasDing Roch
plastischermachen. Deshalb
legte sie sichzu
jeder Mahlzeit ins Bett, weifdann
dieunbewußte
Phantasie eines Sexualaktes einen Stützpunkt in der Realität erhielt. IhrHunger nach Nahrung war
ein symbolischerHunger nach
Liebe.Es
gibtauch
einen solchen nervösenMagen! Menschen werden von einem
unstillbarenHunger
überfallen. Sie essenmehr
als ihnen zuträglich ist, aber derHunger
läßt nichtnach und
will sich nicht stillen lassen.
So
erinnere ichmich'an einen
Mann,
derimmer am
Vormittagevon einem
solchenHunger-
24
gefühle befallen wurde. Er
war
ziemlich weitvon
derWohnung
entferntund
eilteimmer nach
Hause,um etwas
zu frühstücken. Er fragtemich wegen
diesermerkwürdigen Erscheinung um
Rat. '„Um
wievielUhr
stellt sich dasHungergefühl
ein?“„Immer um
die gleiche Stunde.So gegen zehn
Uhr-Da werde
ichschwach
vorHunger und
schaue,daß
ich' so bald als
möglich nach Hause komme.“
„Warum
laufen Sieimmer nach Hause? Können
Sie nicht ineinem Gasthause
ihr Frühstückeinnehmen?“
„Das
ist ja däsMerkwürdige, Herr
Doktor! Ichkann
nur zuHause den Hunger
stillen...
„Sind Sie so an die
Küche
Ihrer Fraugewöhnt
?“„Meine
Frau istum
diese Zeit gar nie zu Hause.Das Dienstmädchen
bereitet mirimmer
ein kleines Frühstück vor . ..“ ’
Nun war
mir dieEntstehung
desHungers
ziemlichklar.
Es war
offenbar einHunger nach dem Dienstmädchen, daß
derMann
begehrteund
liebte,ohne
es sich zugestehen*
Die Begierde
nach dem Mädchen
verwandelte sich in das nervöse Hungergefühl, dasden Mann nach Hause
trieb,wo
er dasDienstmädchen
allein antreffen konnte. Eine ent-sprechende Aufklärung
wirktewahre Wunder. Das Hunger-
gefühlverschwand
sofort,nachdem
dasMädchen
unter irgendeinem Vorwände
entlassenwurde ...
Ungleich häufiger als der
Hunger
spielt der Ekel beiden
nervösenMagenleiden
seineTrümpfe
aus. Ja vieleMagenleiden
sind nichts anderes als sexueller Ekel.Beson-
ders die rätselhaften Fällevon
Erbrechen,welche
jeder Be-* Über den seelischen Mechanismus dieser sonderbaren Formen von Lieberund Begierde, die
man
sich nicht eingesteht, habe ich aus- führlich in meiner Broschüre„Das nervöse Herz“
(Nr. 10. derHygienischen Zeitfragen) berichtet. \
handlung
spotten. Ichhabe
inmeinen» Werke „Nervöse Angstzustände nnd
ihreßehandlung“
(Verlagvon Urban
8cSchwarzenberg, Wien,
1913, II. Auflage) eineganze
Reihe solcher Fälleeingehend
analysiert.. Ichmöchte
hier nur einen einzigen Fall anführen,um
dieBedeutung
des Ekelsin der
Genese
derMagenleiden
zu illustrieren.Ein
Mädchen
erkrankt plötzlich aneinem
heftigen Er- brechen, das fast unstillbar ist.Es
gelingt aber schließlich derKunst
mehrerer Ärzteden Magen
soweit zu beruhigen,daß
sie einige Speisen,besonders
aber eiskalte Milchohne Beschwerde
verträgt. Allmählich bessert sich derZustand und
siekann
alles essen bis auf das Fleisch. Sie wird Vegetarianerinund macht
für dieneue
Heilslehregroße Propaganda.
Ihr Ekel vordem
Fleisch geht soweit,daß
sie nicht voreinem
Fleischladen oder Selcherladen Vorbeigehen kann.Da
sie aber eskaum vermeideu
kann,obwohl
sie sich die redlichsteMühe
gibt, so leidet sie sehr heftig unterdiesem
Ekelund möchte davon
befreit werden. (Siemußte
sogar auf derGasse
brechen, weil ein Fleischerwagen mit einigen geschlachteten Kälbern vorbeifuhr.)Wir merken
sofort die starke pathologischeBetonung von
Ekel, der jaim
allgemeinen sehr verbreitet ist.Wir merken auch
dieTendenz
sichdurch den Anschluß
an eine sozialeBewegung
(den Vegetarismus) Stützen für die indi- viduellenMotive zu
schaffen.Denn]
dieses Leidenmuß
n einem bestimmten
Erlebnis oder in einerbestimmten
Phanthasie seinenAusgangspunkt
haben.Meine Aufgabe war
es nachzuforschen,was
sich er- eignet hatte, ehe dergroße
Brechanfallgekommeh
war.Sie behauptete, sie hätte sich
damals durch
einen Fisch ver- dorben,von dem
allerdings dieganze
Familiegenossen
hatte,
ohne Schaden
zunehmen. Der
Hausarzt hätte gemeint, gerade das Stück das siegegessen
habe,wäre
verdorbengewesen.
-„Haben
Sie nicht andiesem Tage etwas Abstoßendes
erlebt, das Sie mit Ekel erfüllt hat?“
„Bestimmt
nicht!“„Denken
Sie ein \venig nach.So bestimmt
sind unsere Erinnerungen nicht,wia
Sie es meinen.Es
gibtDinge
an die wir nichtdenken
wollen, weil esuns
peinlich ist daran zu denken. Sollte das nicht in diesem Falle möglichsein?
4„Vielleicht . . . Bitte lassen Sie uiich ein
wenig
nach-denken ...
Ja richtig. Jetzt fällt miretwas
ein, aber ichkann
daran nicht denken, ichmuß
sofort brechen.“Das arme Mädchen machte
die heftigsten Brech-und Würgbewegungen. Es war
alsob
sie einSchauder
schüttelnwürde ...
,4
Nach
einerWeile
fragte Sie:„Kann
das einenZu- sammenhang
mitmeinem
Leidenhaben?'
„Höchstwahrscheinlich. Sie
merken
doch,daß
Sie bei derErinnerung
sofort mitBrechen und Würgen,
also mit Ekel reagieren.Warum
sollte dasganze
Leiden nicht auf eineErinnerung
zurückgehen, die Sie mit Ekel erfüllt?“„Sie
können
rechthaben ...
Ich willnun
alles ge- stehen.wie
ich es andem
Tage, andem
ich erkrankte er- lebt habe.Sehen
Sie, ich bin24
Jahre altgeworden und habe
nie ein Gefühl gehabt,daß
miretwas
fehlt. Ichhabe meinen
Beruf, der mirgroße Freude
macht,vollkommen
erfüllen
können und machte
mir über die Liebe nicht vielGedanken. Die
rohenFormen
des Geschlechtslebenswaren
mir ein Mysterium,das
ich nicht erforschen wollte. 'Ich hatte einen jüngeren Bruder, derganz
so geartet schien als ich.Nie
sprachen wir über andereThemen
als über Familien-.angelegenheiten und- über Kunstfragen. Er