A974 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 20⏐⏐15. Mai 2009
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ie psychiatrische Forschung definiert den Begriff „Amok“als „nicht materiell-kriminell moti- vierte, tateinheitliche, mindestens in selbstmörderischer Absicht durch- geführte, auf den unfreiwilligen Tod mehrerer Menschen zielende plötz- liche Angriffe“. Ein Amoklauf ist in das Spektrum homizidal-suizidaler Handlungen einzuordnen (1).
Am Vormittag des 11. März 2009 ereignete sich in Winnenden, einem Dorf 20 Kilometer nordöstlich von Stuttgart, an einer Realschule ein Amoklauf: Er endete mit 15 Toten und dem Suizid des 17-jährigen Tä- ters. Die dabei den Amokläufen und -läufern zukommende Aufmerk- samkeit der Medien ist beispiellos.
Ein Amoklauf hat umso eher Nach- richtenwert, je gefährlicher er ist (2).
Das geplante Fernsehprogramm in den Medien wurde zugunsten einer Liveberichterstattung unter- brochen. Zeitgleich begann nach dem Amoklauf in Winnenden der Wettkampf um die sensationellsten Bilder, die waghalsigsten Spekula- tionen über Ursache und Motiv und
die ersten Interviews. Da vom Amok- lauf selbst keine Bilder existieren, wurde hier nachgeholfen. Die Bou- levardpresse stellte mithilfe eines Zeichners eine Fotomontage des Amoklaufs in einem der Klassen- zimmer nach (3). Nach knapp zwei Wochen waren auf „YouTube“ – ei- nem Internetportal zum kostenlosen Ansehen und Hochladen von Vi- deoclips – unter den Stichworten
„Amoklauf Winnenden“ mehr als 1 000 Videoclips abrufbar.
Im Laufe des anhaltenden Medi- eninteresses wurden dann Stimmen laut, die die unseriöse Berichterstat- tung monierten und mit erhobenem Zeigefinger auf die Gefahr der Nachahmung hinwiesen. Und dies nicht zu Unrecht: In der wissen- schaftlichen Aggressions- und Sui- zidforschung zeigt die Mehrzahl der Studien, dass entsprechendes Ver- halten durch Imitation gelernt wer- den kann; in der Diskussion steht hierbei auch der Einfluss von Mas- senmedien (4). In der Suizidfor- schung wird auf durch Medien ge- triggerte Nachahmungstaten unter dem Schlagwort „Werther-Effekt“, das heißt der Anstieg der Suizid- raten nach ausführlicher Berichter- stattung über Suizide, bereits seit Langem hingewiesen: Schmidtke und Häfner (1988) konnten nach Ausstrahlung der sechsteiligen Fern- sehserie „Tod eines Schülers“ im ZDF einen Anstieg der Eisenbahn- suizide von 15- bis 19-jährigen männlichen Schülern um bis zu 175 Prozent nachweisen (5). In Österreich wurden auf Initiative der Österreichischen Gesellschaft für Suizidprävention Medienleitli- nien über die Berichterstattung fest- gelegt. Daraufhin gingen U-Bahn- Suizide in Wien um 75 Prozent (6) zurück. Auch bei Amokläufen kann ein solcher Zusammenhang vermu-
tet werden. Die Mehrzahl der Amok- läufe ereignet sich nicht zufällig. Es werden signifikant mehr Taten in ei- nem relativ kurzen Zeitraum nach der ersten Berichterstattung began- gen (4). Auf Berichterstattungen über Amokläufe an Schulen erhal- ten weitere Bildungsstätten ver- mehrt Amokdrohungen (7, 8). Im Rahmen einer extensiven Berichter- stattung können Personen, die sich in einem ähnlichen Stimmungszu- stand befinden, durch das Modell ei- nen letzten Anstoß bekommen (4).
Nicht selten nahmen Amokläufer vor der Tat Bezug auf frühere Amok- läufer. Zum Beispiel glorifizierten sie diese in Internetportalen.
Für die Medien ist die Berichterstattung ein Spagat
Die Forderung (4, 7), nach Amok- taten ähnlichen Prinzipien der Be- richterstattung zu folgen, wie sie seit Längerem für die Berichterstat- tung über Suizide empfohlen wer- den (9), erscheint an dieser Stelle durchaus gerechtfertigt. Allein schon die Quantität der Berichterstattung zu reduzieren, könnte einen präven- tiven Effekt haben (9). Falls – wie bei mehr als 50 Prozent der Fälle (10) – Anzeichen für eine psychia- trische Erkrankung des Amok- läufers bestehen, sollte dies ebenso genannt werden wie adäquate Hilfsangebote. Eine Glorifizierung oder Dämonisierung des Amokläu- fers sollte vermieden werden. Dar- über hinaus sollten Informationen über die Tatwaffe in keinem Fall de- tailliert preisgegeben werden (7).Das „Recht auf Information“ und eine „Schadensvermeidung“ ist ein Spagat für die Medien. Im Fall des Amoklaufs in Winnenden musste sich eine verantwortungsvolle, zu- rückhaltende Berichterstattung im Sinne einer Prävention von Folge- taten im Angesicht des „öffentlichen Interesses“ wohl hinten anstellen.I Dipl.-Psych. Tanja Neuner Dipl.-Psych. Bettina Hübner-Liebermann Dr. med. Helmut Hausner
Anschrift für die Verfasser
Dipl.-Psych. Tanja Neuner, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie der Universität am Bezirksklinikum Regensburg
AMOKLAUF IN WINNENDEN
Im Kreuzfeuer der Medien
Sensationsgier prägt häufig die Berichterstattung der Medien über Amokläufe. Gerade dies kann aber andere Menschen dazu animieren, die Taten nachzuahmen.
Literatur im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2009
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Foto:ddp
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LITERATUR
1. Adler L: Amok im Spektrum homizidal-sui- zidaler Handlungen. Suizidprophylaxe 2001; 28: 103–8.
2. Adler L, Lehmann K, Räder K, Schüne- mann KF: „Amokläufer“ – kontentanalyti- sche Untersuchung an 196 Pressemittei- lungen aus industrialisierten Ländern.
Fortschr Neurol Psychiat 1993; 61:
424–33.
3. http://www.bild.de/BILD/news/2009/03/
12/winnenden/tim-kretschmer/wie-wurde -er-zum-amoklaeufer.html (aufgerufen am 31.03.2009)
4. Schmidtke A, Schaller S, Müller I, Lester D, Stack S: Imitation von Amok und Amok- Suizid. Suizidprophylaxe 2002; 29:
97–106.
5. Schmidtke A, Häfner H: The Werther effect after television films: new evidence for an old hypothesis. Psychol Med 1988; 18:
665–76.
6. Sonneck G, Etzersdorfer E, Nagel-Kuess S:
Imitative suicide on the Viennese subway.
Soc Sci Med 1994; 38: 453–7.
7. Preti A: School shooting as a culturally en- forced way of expressing suicidal hostile intentions. J Am Acad Psychiatry Law 2008; 36: 544–50.
8. Kostinsky S, Bixler EO, Kettl PA: Threats of school violence in Pennsylvania after me- dia coverage of the Columbine High School massacre: examining the role of imitation. Arch Pediatr Adolesc Med 2001;
155: 994–1001.
9. Stack S: Media coverage as a risk factor in suicide. J Epidemiol Community Health 2003; 57: 238–40.
10. Adler L, Marx D, Apel H, Wolfersdorf M, Hajak G: Zur Stabilität des „Amokläufer“- Syndroms. Kontentanalytische Vergleich- suntersuchung von Pressemitteilungen über deutsche Amokläufer der Dekaden 1980–1989 und 1991–2000. Fortschr Neurol Psychiat 2006; 74: 582–90.