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Toleranz bei John Locke : Staat und religiöse Toleranz in der "Epistola de Tolerantia"

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Academic year: 2022

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Universität Konstanz

Geisteswissenschaftliche Sektion Fachbereich Philosophie

Toleranz bei John Locke

Staat und religiöse Toleranz in der Epistola de Tolerantia

Magisterarbeit eingereicht von Anne Mone Sahnwaldt

Januar 2006

1. Gutachter: Prof. Dr. Peter Stemmer 2. Gutachter: PD Dr. Neil Roughley

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS) URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2006/1950/

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Terry Pratchett, Monstrous Regiment

Kontakt: anne@sahnwaldt.de

Diese Arbeit wurde in der Schrift Garamond geschrieben und mit dem Textsatzprogramm LATEX gesetzt.

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1

Danksagung

Ich danke meinen Prüfern Prof. Dr. Peter Stemmer und PD Dr. Neil Roughley.

Prof. Stemmer danke ich besonders für den Vorschlag dieses interessanten Themas, das sich leider mit einer so kurzen Arbeit und in einer so kurzen Zeit nicht befriedigend darstellen lieÿ.

Ich danke Martina Ziegler, Christopher von Bülow und Mechthild Sahnwaldt für (wiederholtes) Korrekturlesen, konstruktive Kritik und Verbesserungsvorschläge.

Christopher von Bülow danke ich für Rat und Tat bei LATEX-Problemen und für seinen Beistand in den letzten Tagen und Stunden der Fertigstellung.

Wolfgang Freitag und Christopher von Bülow danke ich für inhaltliche Diskus- sionen, die mich vor Irrtümern bewahrt haben.

Meiner Familie danke ich dafür, dass sie mich während meines Studiums unein- geschränkt unterstützt hat und immer auch thematisch interessiert war.

Ich danke den Bürgern der Bundesrepublik Deutschland, die mir dieses Studium ermöglicht haben.

(4)

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 4

2 Locke und Toleranz 7

2.1 Lockes Theorie religiöser Toleranz in der Epistola . . . 8

3 Die Entstehung des Briefes 9 4 Bewertung des Briefes 10 5 Inhalt 12 5.1 Einleitung . . . 13

5.2 Trennung von Staat und Kirche . . . 14

5.2.1 Der Staat . . . 14

5.2.2 Kirchen . . . 19

5.2.3 Fazit . . . 21

5.3 Toleranzpicht . . . 21

5.3.1 Toleranzpicht der Kirche gegenüber abtrünnigen Mitgliedern 21 5.3.2 Toleranzpicht von Personen und Kirchen gegenüber An- dersgläubigen . . . 22

5.3.3 Toleranzpicht kirchlicher Amtsträger . . . 23

5.3.4 Toleranzpicht der Regierung . . . 23

5.3.5 Fazit . . . 24

5.4 Das (bisherige) Verhältnis von Staat und Kirche . . . 24

5.5 Lockes Hauptpunkt . . . 25

5.6 Aspekte religiöser Toleranz gegenüber Kirchen . . . 25

5.6.1 Gottesdienste und Riten . . . 26

5.6.2 Glaubensartikel . . . 27

5.6.3 Indifferente Dinge . . . 28

5.7 Ausschluss von religiöser Toleranz . . . 29

5.8 Folgen von Intoleranz und Toleranz . . . 31

5.9 Zusammenfassung . . . 32

5.10 Anhang: Schismatiker und Häretiker . . . 33

6 Diskussion 35 6.1 Kritik am Ausschluss von Atheisten und Katholiken . . . 35

6.1.1 Katholiken . . . 35

6.1.2 Atheisten . . . 36

6.2 Proasts Einwand . . . 39

6.3 Waldron . . . 40

(5)

3

7 Fazit 43

8 Schluss 45

Literatur 46

(6)

1 Einleitung

Im Jahr 1685, also vor etwas mehr als dreihundert Jahren, schrieb Locke seine Epistola de Tolerantia. Knapp vierzig Jahre vorher war der Westfälische Friede geschlos- sen worden, mit dem der durch Konfessionsstreitigkeiten ausgelöste Dreiÿigjährige Krieg beendet wurde. 1689 wurde Wilhelm III. von Oranien König von England, und nach langer Zeit der religiösen Streitigkeiten erreichte man im konfessionell ge- spaltenen Europa einen modus vivendi. Das Zeitalter der Aufklärung begann, die Idee der Vernunftreligion breitete sich aus, Religion wurde zur Privatsache und jeder konnte nach seiner Façon selig werden. Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg tole- rieren sich die beiden groÿen Kirchen in Deutschland nicht nur gegenseitig, sondern arbeiten in der Ökumene sogar zusammen. Forderungen an den Staat bezüglich der Beschränkung anderer religiöser Gemeinschaften werden höchstens noch sporadisch und kraftlos gestellt und richten sich gegen Gruppierungen der eigenen Religion.

Religiöse Konikte scheint es keine zu geben. Wie es scheint, können wir auf Lockes veraltete Argumente verzichten. Diese Position wird von einigen Kritikern ver- treten; wobei Ebbinghaus sogar so weit geht, Locke jeglichen positiven Einuss auf die Entwicklung der Toleranz abzusprechen.1

Aber nicht erst seit dem Anschlag auf das World Trade Center und den Anschlä- gen in Madrid und London alle im Namen einer Gottheit begangen gibt es in Deutschland und (West-)Europa Konikte zwischen Staat und Religionsgemeinschaf- ten bzw. zwischen verschiedenen Religionen oder Religionsgemeinschaften. Es geht dabei auch nicht nur um so gewalttätige Konikte wie den jugoslawischen Bürger- krieg, in welchem zwei christliche Bekenntnisse (serbisch-orthodox und katholisch) und Muslime einander unter Beteiligung mindestens einer Regierung aufs Grausamste bekämpften.2

Es gibt genug Beispiele von Problemen und Kontroversen um religiöse Bedürf- nisse und Interessen aus dem Deutschland der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart. Einige sind Konikte zwischen Gruppen derselben Religion; hierzu zäh- len das Scheitern des Projekts einer ökumenischen Bibelübersetzung (2005) und die Kontroverse zwischen der Union progressiver Juden und dem Zentralrat der Ju- den in Deutschland (2005). Zahlreicher sind die Fälle, in denen der Staat betroffen ist: der Kopftuchstreit (1998), die Einführung eines muslimischen Religionsunter- richts bzw. die Abschaffung jeglichen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen, die nachrichtendienstliche Überwachung von Scientology, die Kontroverse um Verbot bzw. Zulassung des Schächtens, die Weigerung der Zwölf Stämme, ihre Kinder in staatlich-anerkannte Schulen zu schicken, und das Verbot des militant-islamistischen

1s. Zitat S. 10

2Man kann den jugoslawischen Bürgerkrieg selbstverständlich nicht auf einen Religionskonikt reduzieren. Dies gilt meiner Meinung nach aber für alle so genannten Religionskonikte, so z.B. auch für den Dreiÿigjährigen Krieg.

(7)

Einleitung 5 Verbandes Kalifatstaat (2001). Besonders aktuell ist auch der Versuch evangeli- kaler Gemeinschaften in den USA, die Evolutionstheorie im Schulunterricht durch Kreationismus und/oder Intelligent Design zu ergänzen oder zu ersetzen. Die- ses Beispiel ist im Zusammenhang mit der Frage nach angemessenem Verhalten des Staates gegenüber religiösen Interessen und Forderungen besonders interessant, da es zum Selbstverständnis der USA gehört, dass Staat und Religion streng von einander getrennt sind.

An diesen Beispielen wird deutlich, dass auch heute noch sehr wohl Bedarf be- steht, das Verhältnis des Staates gegenüber religiösen Ansprüchen und Interessen zu klären und die Rechte von Einzelnen oder Gemeinschaften im Zusammenhang mit Religion festzulegen. Nur mit guten argumentativen Grundlagen kann man hier Streitpunkte entscheiden und die richtige Vorgehensweise wählen. Dafür sind Lockes Argumente bzw. Prinzipien auch heute noch geeignet. Darüber hinaus sind seine Argumente auch auf andere Bereiche anwendbar.

Locke behandelt in der Epistola genau die Fragen, die uns auch heute (wieder) beschäftigen: Wie soll und darf eine liberale Gesellschaft mit religiösen Minderhei- ten umgehen? Wie soll und darf man mit Menschen umgehen, die einer liberalen, demokratischen Gesellschaft feindlich gegenüberstehen? Und besonders wichtig ist heute eine Frage, die man seit der Aufklärung für abschlieÿend beantwortet hielt: Was tun mit Menschen, die auf Grund ihrer Religion ihre Mitbürger für unwürdig und verdammt halten? Die sie sogar zu Feinden erklären, denen man zwar nicht wie zu Lockes Zeiten den eigenen Glauben aufzwingen will, die man aber im Namen des eigenen Gottes töten darf.

Lockes eigentliches Thema in der Epistola ist meines Erachtens die Frage nach den Rechten, Pichten und Beschränkungen des Staates gegenüber seinen Bürgern in Bezug auf Religion und deren Begründung (Locke selbst nennt allerdings andere Themen). Ich möchte zeigen, dass die Prinzipien, die Lockes Argumentation zugrunde liegen, auch heute noch als grundlegende Prinzipien eines liberalen Staates dienen (können), und dies nicht nur in Bezug auf religiöse Interessen.

In der Epistola werden natürlich auch andere Aspekte religiöser Toleranz und der Religion allgemein behandelt. Da ich hier nicht auf alle eingehen kann, versuche ich, so weit es geht, Literaturhinweise auf Texte zu geben, die diese Aspekte behandeln.

Da es Locke in der Epistola nicht um die Frage ging, was Toleranz ist, was Toleranz ausmacht, sondern darum, warum man und besonders der Staat Toleranz in religiösen Angelegenheiten üben sollte, werde ich in dieser Arbeit nicht weiter auf den Begriff der Toleranz eingehen. Ich möchte dazu vor allem auf die sehr ausführliche Darstellung Forsts verweisen.3Eine kurze Darstellung ndet sich auch bei Cranston.4

Ich werde in dieser Arbeit nur auf den ersten der vier Toleranzbriefe Lockes

3Forst 2003

4Cranston 1991, S. 78f

(8)

die Epistola de Tolerantia eingehen. Der Grund dafür ist, dass die drei letzten Briefe Antworten auf den Einwand und die diversen Erwiderungen Jonas Proasts sind. Da sie Antworten auf und Kritik an Proasts Einwand und Argumenten sind, beschäftigen sie sich nur mit der von Proast aufgeworfenen Frage, ob die Anwendung von Zwang in Glaubensfragen effektiv sein kann und ob die Regierung daher das Recht oder die Picht hat, Zwang in religiösen Angelegenheiten anzuwenden. Für meine Fragestellung ob Lockes Argumentation für religiöse Toleranz auch für heutige Staaten tauglich ist sind sie nicht besonders hilfreich. Auÿerdem würde es den Umfang dieser Magisterarbeit sprengen, die Argumente weiterer Schriften zu diskutieren.

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Locke und Toleranz 7

2 Locke und Toleranz

Viele Notizen, Entwürfe und andere Texte aus verschiedenen Phasen seines Lebens belegen, dass Locke sich schon früh und häug mit dem Thema religiöser Toleranz beschäftigte.5Schon während seiner Ausbildung am Christ Church College (Oxford) kam Locke mit diesem Thema in Berührung, das dort Inhalt einer lang andauernden Kontroverse war.6 Um so erstaunlicher ist es, dass Locke selten mit diesem Thema in Verbindung gebracht wird, obwohl sich auch viele seiner Schriften, die nicht Toleranz zum Inhalt haben, immerhin mit Fragen der Religion, des Glaubens, des Gewissens, der Erkenntnis und der Möglichkeit von Wissen befassen, die alle Auswirkungen auf die Frage religiöser Toleranz haben.7

Der Überblick, den Gough über Lockes Texte bezüglich religiöser Toleranz gibt, legt die Vermutung nahe, dass diesem Thema Lockes Hauptinteresse galt.8Ein wei- teres Indiz für diese Annahme ist, dass Lockes Bibliothek viele Bücher zur Toleranz enthielt.9Allerdings sind viele der Texte Lockes zur Toleranz unveröffentlichte Noti- zen; selbst die Epistola hatte Locke selbst wohl nicht zur Veröffentlichung vorgesehen.

Innerhalb seiner eigenen Werke lässt sich eine Entwicklung hin zu weiter gefass- ter religiöser Toleranz und zu stärkerer Beschränkung der Regierung ausmachen.10 In jüngeren Jahren scheint Locke eine konservativere, obrigkeitlichere Haltung zur Freiheit des Glaubens gehabt zu haben:11

Locke's own attitude [ . . . ] became more liberal in the course of his life, though even at the end, in refusing toleration to atheists, he admittedly did not go as far as modern liberal opinion would wish he had gone. In this, as in other ways [ . . . ] he was the child of his age.12

Es gibt auch Stimmen, die ihn zumindest in früheren Jahren der Intoleranz bezichti- gen.13

5Gough 1968; Klibansky 1968, S. xxx; Cranston 1991, S. 79

6Mendus/Horton 1991, S. 1

7z.B. An Essay Concerning Human Understanding, Book IV, ch. 16, Ÿ4; in: Locke. Works II, S. 231f;

Klibansky 1968, S. xvi u. xxxiii; Gough 1968, S. 28f

8Gough 1968, S. 37. Lockes Interesse an Toleranz war nicht auf religiöse Toleranz beschränkt (Cranston 1991, S. 89); religiöse Kontroversen waren aber wohl zu seiner Zeit der wichtigste Anwen- dungsbereich für Toleranz.

9Klibansky 1968, S. xxx f

10Kelly 1991, S. 140; s.a. Cranston 1991, S. 79f u. 84, u. Gough, John W. 1991. The Development of Locke's Belief in Toleration. In: Horton/Mendus 1991, S. 5777

11Gough 1968, S. 8, s.a. Mendus/Horton 1991, S. 6. Was als Meinungsänderung erscheint, ist laut Gough in erster Linie eine Bedeutungsänderung der verwendeten Begriffe (Gough 1968, S. 11).

12Gough 1968, S. 41

13[Locke's] earliest writings on the subject are directed against toleration (Cranston 1991, S. 80).

Dies scheint mir aber eine zu enge Interpretation des Locke-Zitats zu sein, auf das sich Cranston an dieser Stelle bezieht.

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2.1 Lockes Theorie religiöser Toleranz in der Epistola

Nach Gough gründet sich Lockes Theorie der Toleranz auf verschiedene Prinzi- pien. Den Ausgangspunkt der Theorie bilden Lockes Prinzipien der Natur des Staates (Gesellschaftsvertrag) und der Regierung.14Seine Toleranzbegründung selbst beruht auf einem politischen und einem intellektuellen Prinzip. Letzteres ist Lockes Glaube an die Freiheit des Denkens, seine Sympathie für eine kritische Geisteshaltung und für eine liberale Theologie; ersteres ist die Trennung von Staat und Kirche. Aus dem protestantischen Prinzip ( Jeder kann mit Hilfe seiner gottgegebenen Vernunft die Bibel selbst interpretieren und Gottes Willen erkunden) ergibt sich die Trennung in wesentliche und unwesentliche Elemente einer Religion, wobei das Wesentliche nach Lockes Ansicht in ein paar wenigen grundlegenden Glaubensüberzeugungen besteht. Die Existenz Gottes ist eine Sache sicheren Wissens, die wahre Religion nicht.15 Atheisten verweigern sich diesem sicheren Wissen. Daraus folgt, dass sie dumm und unvernünftig sein müssen, was wiederum teilweise Lockes Ablehnung ihnen gegenüber erklärt.

Lockes Lösung für das Problem des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche ist die nonkonformistische Position, nach der eine Kirche eine freiwillige, vom Staat getrennte Vereinigung ist. Bestehen bleibt das Problem, dass Kirchen in Staaten exis- tieren und daher nicht völlig unabhängig von diesen sind, weshalb Staaten weiterhin Eingriffsrechte in Kirchen brauchen, denn: A government was not to tolerate as religious rites actions intolerable in the state.16

Selbstverständlich war Locke nicht der erste und nicht der einzige, der diese Argumente vorgebracht hat. In einigen Punkten blieb er sogar hinter dem damals schon Denkbaren und Geäuÿerten zurück, so lehnte er z.B. Toleranz gegenüber Atheisten ab, während Bayle und andere schon für diese argumentiert hatten.17

14Gough 1968, S. 23

15Gough 1968, S. 26ff. Es ist auffallend, dass Locke die Existenz Gottes für erkennbar hält, die wahre Religion dagegen nicht, obwohl die Beweislage für beide ähnlich gut bzw. schlecht ist.

16Gough 1968, S. 35f. Ein aktuelles Beispiel für die Anwendung dieser Prinzipien ist das Verbot des Kalifatstaat und die Verurteilung Metin Kaplans (Kalif von Köln).

17Inwieweit Locke mit den Gedanken Spinozas und Bayles, who, each in his own way, had made the most penetrating and daring contributions to the study of the problem (Klibansky 1968, S. xxxi), vertraut war, kann Klibansky nicht beurteilen. Allerdings ist bekannt, dass Locke im Oktober 1684 Bayles Letter on the Comets erstanden hatte und 1687 oder 1688 in Rotterdam Bayle persönlich traf (Klibansky 1968, S. xxxi f). In seinem Letter on the Comets vertritt Bayle die Meinung, dass Atheismus nicht notwendigerweise zu moralischer Verdorbenheit führt und Menschen nicht davon abhält, einen Begriff von Rechtschaffenheit (les idées de l'honnêteté) zu haben (Klibansky 1968, S. x). Ich würde daher annehmen, dass Locke Bayles Argumente zur Toleranz gegenüber Atheisten bekannt waren (s.a.

Klibansky 1968, S. x f). Eine gute Übersicht zur Reichweite von Toleranz zu Lockes Zeiten bietet Forst 2003, S. 276312; s.a. Klibansky 1968, S. x f.

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Die Entstehung des Briefes 9

3 Die Entstehung des Briefes

In der Zeit, in der sich Locke im niederländischen Exil aufhielt (16831689), wurde in den Niederlanden religiöse Toleranz heiÿ diskutiert, unter anderem da sich viele (Religions-)Flüchtlinge aus Frankreich18 und anderen Ländern dort aufhielten.

Bei den Arminianern, zu denen Locke engen Kontakt hatte (z.B. Limborch), stieÿ das Thema auf reges Interesse. In dieser Zeit erschienen viele Schriften, die sich mit der Frage religiöser Toleranz (pro und contra) beschäftigten.19

Die Epistola de Tolerantia schrieb Locke im Winter 1685/86 in Amsterdam. Sie war an seinen Freund Philip van Limborch, Theologieprofessor am Seminar der arminianischen Kirche, gerichtet. Locke schrieb die Epistola auf Latein, da dies die einzige Sprache war, die beide beherrschten. Es gibt zwei verschiedene Versionen darüber, wer Locke veranlasste die Epistola zu schreiben: Nach Klibansky waren es Gespräche mit Limborch; Mendus und Horton gehen davon aus, dass Shaftesbury Locke dazu aufforderte.20 Als weiteren Anlass nennt Cranston die Aufhebung des Edikts von Nantes kurze Zeit vorher.21 Es kann und muss hier nicht entschieden werden, welche Version zutrifft.

Im Mai 1689 wurde die Epistola durch Limborch in Gouda veröffentlicht; kurz darauf übersetzte der Kaufmann William Popple den Text ins Englische.22 Schon Oktober/November 1689 wurde die erste englische Ausgabe unter dem Titel A Letter Concerning Toleration veröffentlicht. Der Erfolg war so groÿ, dass bereits im März 1690 eine zweite Auage erschien.23

Obwohl seine Autorenschaft lange inofziell bekannt war, bekannte Locke selbst sich erst in einem kurz vor seinem Tod (28. 10. 1704) geschriebenen Nachtrag in seinem Testament zur Epistola.24

Auf den sicherlich nicht unwichtigen politischen Hintergrund im England dieser Zeit kann ich hier nicht weiter eingehen. Darstellungen dazu sind u.a. zu nden in Ebbinghaus 1966, S. xiiixxii, Mendus/Horton 1991, S. 36, oder auch Forst 2003, S. 276ff.

181685 wurde das Edikt von Nantes aufgehoben, und viele Hugenotten ohen vor der einsetzenden Verfolgung (s. dazu z.B. Cranston 1991, S. 82).

19Klibansky 1968, S. xxiv; über Remonstranten/Arminianer s. Klibansky 1968, S. xiv f

20Klibansky 1968, S. xvi f; Mendus/Horton 1991, S. 3 u. 6. Allerdings starb Shaftesbury 1683, also 2 Jahre bevor Locke die Epistola schrieb. Zudem war Limborch der Adressat der Epistola, was meiner Ansicht nach dafür spricht, dass er der Auslöser war; s.a. Klibansky 1968, S. xviii f.

21Cranston 1991, S. 82

22Klibansky 1968, S. xixxxii. Mit ziemlicher Sicherheit wusste Locke von Popples Vorhaben;

s. Klibansky 1968, S. xli; Gough 1968, S. 44.

23Klibansky 1968, S. xxii

24Klibansky 1968, S. xxvi u. xlii; Cranston 1991, S. 85

(12)

4 Bewertung des Briefes

Das Neue an Lockes Epistola im Vergleich mit älteren Werken zum selben Thema ist die einfache Art und Weise des Argumentierens, der Sinn für praktische Politik,25 das Fehlen abstruser Spekulationen und theologischer Polemik, so Klibansky. Zum Erfolg beigetragen haben Lockes moderate Sprache, seine prägnanten Argumente und sein klarer literarischer Stil.26 Noch im Erscheinungsjahr schrieb ein Kritiker:

[F]ew books have dealt with this subject in so few words and with so much clarity and force, as this one has done [ . . . ].27

Dadurch konnte die Epistola eine gröÿere Wirkung entfalten als andere Schriften dieser Art. Hinzu kam, dass sie in den folgenden Jahrhunderten der Ausgangspunkt für Diskussionen über das Problem religiöser Toleranz wurde.28

Genau so, wie sich viele von Lockes anderen Schriften mit Aspekten religiöser Toleranz beschäftigen, the Letter also occupies an important place in Locke's polit- ical philosophy.29 Besonders die Grenzen staatlichen Eingreifens, die Pichten der Regierung und die Rechte der Bürger sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung.

Die Epistola hat aber nicht nur historische Bedeutung: Lockes allgemein tolerante und liberale Geisteshaltung macht seine Theorie auch für heute brauchbar, obwohl es für uns heute unakzeptabel ist, Atheisten prinzipiell von Toleranz auszunehmen. Im Gegensatz dazu steht Ebbinghaus' Kritik, die nicht nur meiner Meinung nach völlig überzogen ist:30

Daher kann man der Philosophie, ihrer Geschichte und dem Frieden auf Erden keinen schlechteren Dienst erweisen, als wenn man Locke als den groÿen Wegbereiter der Toleranz als eines allgemeinen Menschenrechts preist.31

Die Epistola richtet sich gegen staatliche Intoleranz bzw. Anwendung staatlicher Gewalt in religiösen Angelegenheiten ihrer Zeit; sie ist a diagnosis of the prevailing political ills of seventeenth-century England and Europe, and a proposed remedy for those ills.32Mendus und Horton meinen, dass die Epistola a quite specic defence of religious toleration sei und wenig zur Rechtfertigung von Toleranz allgemein sage.33

25Dies kommt vermutlich daher, dass Locke durch die Beziehung zu Shaftesbury in direkten Kontakt mit der Tagespolitik kam, s. Mendus/Horton 1991, S. 1.

26Klibansky 1968, S. xxxv. Dies wird auch an den von mir verwendeten Zitaten deutlich: In vielen Fällen war es unnötig, den Text zu paraphrasieren oder zu erklären, da Lockes Formulierungen so klar und prägnant sind, dass es sich kaum besser formulieren lässt.

27Bibliothèque universelle et historique (Dec. 1689), xv. 412, Amsterdam 1690 (hrsg. von Jean LeClerc); zitiert nach Klibansky 1968, S. xxxv.

28Klibansky 1968, S. xxxv

29Mendus/Horton 1991, S. 3; s.a. S. 7

30s. z.B. Gough 1968, S. 41f

31Ebbinghaus 1966, S. lxiii f

32Mendus/Horton 1991, S. 2

33Mendus/Horton 1991, S. 2; Hervorhebung im Original

(13)

Bewertung des Briefes 11 Dies trifft insofern zu, als Locke sich dort tatsächlich nur mit religiöser Toleranz beschäftigt. Für uns heute muss die Frage der Toleranz vor allem aber nicht nur34 im Zusammenhang mit politischen Fragen, kulturellen Unterschieden oder sexuellen Orientierungen beantwortet werden. Daher scheint seine Argumentation für heutige Belange too narrow, the circumstances too specic and the assumptions no longer commonly accepted as true.35

Meiner Ansicht nach ist Lockes Konzeption durchaus auch heute noch gültig, und seine grundlegenden Prinzipien können auch auf andere Bereiche angewandt werden. Hier stimme ich mit Cranston überein, der schreibt:

Locke was writing [ . . . ] with an argument of universal relevance, as much relevance to the problems of toleration in the England of today as of 300 years ago.36

Und Mendus und Horton weisen auf einen weiteren wichtigen Punkt hin:

However, A Letter Concerning Toleration also introduces important liberal themes such as the proper role and jurisdicton of the magistrate (the state), and the necessity of government neutrality in certain areas.37

Ich halte es auch nicht für ein Problem, dass Locke Toleranz nicht als Wert an sich verteidigt: Dies ist nicht unbedingt notwendig, um für Toleranz zu werben wie man an der Epistola sehen kann , und Lockes Ziel war es, Gründe dafür aufzuzeigen, dass vor allem der Staat religiöse Toleranz üben soll und muss.

Auch wenn die Kritik an Locke nicht völlig unberechtigt ist, so ist es doch wichtig, seine Argumentation mit Blick auf seine Zeit zu beurteilen. Für eine faire Bewertung sind daher die Umstände und die Zwecke zu berücksichtigen, unter denen bzw. für die Locke seine Schriften verfasste.38So muss man einerseits bedenken, dass Locke inso- fern für eine sehr homogene Gesellschaft schrieb, als alle Menschen Christen waren ( Juden und vor allem Muslime waren in (Mittel-)Europa eine zu vernachlässigen- de Gröÿe), d.h. die Diskussionen um den richtigen Glauben und religiöse Toleranz fanden alle auf derselben (Offenbarungs-)Grundlage der Bibel, insbesondere dem Neuen Testament statt. Unsere heutigen Probleme sind etwas schwieriger, da sich nicht mehr alle auf ein und dieselbe Offenbarung beziehen, sondern verschiedene Offenbarungen (in Europa vor allem Koran und Bibel) einander gegenüberstehen.

Daher mag es scheinen, dass Lockes Argumente auf die heutige Situation nicht mehr anwendbar sind, was ich allerdings bestreite.

34s. Beispiele S. 4

35Mendus/Horton 1991, S. 3

36Cranston 1991, S. 92

37Mendus/Horton 1991, S. 7

38s. Gough 1968, S. 12, u. Cranston 1991, S. 81

(14)

Von Locke eine so weit reichende Toleranz zu erwarten, wie wir sie heute für angebracht halten, ist meiner Ansicht nach vermessen. Lockes Toleranz ist für seine Zeit schon ein groÿer Schritt, eine Zeit, in der die Menschen lernen und sich damit abnden müssen, dass der eigene Glaube nicht der einzige ist und man ihn nicht anderen aufdrängen und gleichzeitig in Frieden leben kann.

Wir müssen auch bedenken, dass wir aus einer ganz anderen Ideenwelt auf Lockes Werke blicken, und dürfen nicht vergessen, dass er in der Ideenwelt seiner Zeit gelebt hat, in der Dinge selbstverständlich waren, denen wir heute mehr oder weniger kritisch gegenüber stehen. Genauso sind aber auch wir in unserer Ideenwelt gefangen und sehen vermutlich deren Fehler nicht. Hinzu kommt, dass unsere Ideenwelt nur deshalb so aussieht, wie sie aussieht, weil unter anderem Locke mit seinen Argumenten für Toleranz zu einem geistigen Wandel beigetragen hat.

Auÿerdem sollte man bedenken, dass (a) noch nach dem Zweiten Weltkrieg also vor gerade mal etwas mehr als 50 Jahren eine generelle Abneigung und Skepsis zwischen Katholiken und Protestanten bestand und (b) Atheisten mindestens bis ins 20. Jahrhundert hinein in (West-)Europa für suspekt gehalten wurden und in den USA heute teilweise immer noch werden.39

5 Inhalt

Bei der Gliederung des Inhalts der Epistola orientiere ich mich an den Glie- derungen Ebbinghaus' und Goughs.40 Argumente zu den verschiedenen Aspekten der Toleranzkonzeption Lockes, die Locke oft an verschiedenen Stellen des Textes bringt, habe ich zusammengefasst, wenn sie denselben Aspekt betreffen. Wenn ich es für die Verständlichkeit der Argumentation für förderlich hielt, habe ich Argumente auch vorgezogen. Daher entspricht die Reihenfolge hier nicht mehr im Detail der Original-Reihenfolge Lockes.

Die Locke-Zitate in dieser Arbeit stammen (fast) immer aus der englischen Über- setzung der Epistola durch Gough und unterscheiden sich zum Teil stark von den entsprechenden Textstellen der Poppleschen Übersetzung in The Works of John Locke.

Dafür habe ich mich entschieden, weil es sich bei Goughs Übersetzung zum einen um a more scrupulously exact modern translation41 als bei Popples Übersetzung handelt, die an vielen Stellen stark vom lateinischen Original abweicht.42 Aus die-

39s. z.B. Hansen, Susan. Summer Camp That's a Piece of Heaven for the Children, but Please, No Worshipping. In: New York Times, Metropolitan Desk, 29. Juni 2005, Late Edition Final, Section B, Page 9.

40Ebbinghaus 1966, S. xxiixxvi; Gough 1968, S. 5255

41Mendus/Horton 1991, S. 10

42Klibansky 1968, S. xli; als Beispiel s. Zitate S. 15 u. Gough William Popple's Translation und Anmerkungen zur Übersetzung (Gough 1968, S. 4351 u. 156163); zu Kritik an Popples Übersetzung und zu Popple allgemein s. z.B. Cranston 1991, S. 85f u. 88f

(15)

Inhalt 13 sem Grund wollte ich mich auch nicht auf die auf Popples Übersetzung beruhende deutsche Übersetzung Ebbinghaus' stützen. Zum anderen halte ich auf Grund des moderneren Englischs die Übersetzung Goughs für verständlicher. Ich gebe aber immer auch die entsprechenden Seiten in The Works of John Locke an. Dabei bedeutet eine Seitenangabe ohne Nennung des Briefes immer, dass das Zitat aus der Epistola stammt; bei einem Zitat aus einem der drei anderen Briefe ist der jeweilige Brief mit angegeben.

5.1 Einleitung

Locke beginnt die Epistola gleich im ersten Satz mit einem wichtigen Aspekt seiner Konzeption religiöser Toleranz:

I regard it [toleration] as the chief distinguishing mark of a true church.43

Anschlieÿend geht er auf sein Verständnis des Christentums ein. An Christen bzw. solche, die es sein wollen stellt er hohe, sich auf das Neue Testament stützende Forderungen bezüglich des Verhaltens gegenüber anderen, aber auch gegen sich selbst.44Fanatikern, who persecute, mutilate, despoil, and kill other men on the plea of religion,45wirft er zum einen vor, dass sie nicht mit derselben Strenge und Härte gegen Sünder in den eigenen Reihen wie gegen Menschen anderer Bekenntnisse vorgehen. Zum anderen widerspricht die gewaltsame Verfolgung Andersgläubiger dem Geist der christlichen Religion, which worketh [ . . . ] by love.46 Auÿerdem bezweifelt er, dass Fanatiker auf Grund christlicher Tugenden handeln:

But nobody, surely, will ever believe that such an attitude can proceed from love, good will, and charity.47 [ . . . ] I do not doubt that such a one desires to have a numerous assembly joined in the same profession with himself; but who can believe that what he desires is a Christian church?48

Ein weiteres wichtiges Argument gegen die Verfolgung Andersgläubiger im Na- men Christi ist:

[T]hat the Gospel frequently declares that the true disciples of Christ must ex- pect and suffer persecution; but that the true church of Christ should persecute or censure others, or compel them by force, by sword and re, to embrace

43Klibansky/Gough 1968, S. 59; Locke Works VI, S. 5

44Klibansky/Gough 1968, S. 5963; Locke Works VI, S. 5ff

45Klibansky/Gough 1968, S. 61; Locke Works VI, S. 6

46Klibansky/Gough 1968, S. 59ff; Locke Works VI, S. 6f

47Christliche Tugenden, ohne deren Anwendung man kein Christ sein kann; s. Klibansky/Gough 1968, S. 59; Locke Works VI, S. 5f.

48Klibansky/Gough 1968, S. 63; Locke Works VI, S. 8

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her faith and doctrines, I do not remember to have read anywhere in the New Testament.49

Für Locke besteht eine enge Verbindung zwischen christlicher Religion und To- leranz:

The toleration of those who hold different opinions on matters of religion is so agreeable to the Gospel and to reason, that it seems monstrous for men to be blind in so clear a light.50

Danach leitet er zum eigentlichen Problem über: die Kontroverse zwischen jenen zu beenden, denen es einerseits um die Rettung der Seelen und andererseits um die Sicherheit des Gemeinwesens geht.51 Dafür hält er eine strikte und klare Trennung von Staat und Kirche für notwendig:

I regard it as necessary above all to distinguish between the business of civil government and that of religion, and to mark the true bounds between the church and the commonwealth.52

5.2 Trennung von Staat und Kirche

Die Trennung von Staat und Kirche ergibt sich für Locke aus den jeweiligen Funktionen des Staates und der Kirche, welche sich wiederum aus den (Gründungs-) Zielen und (Gründungs-)Zwecken einer menschlichen Vereinigung ergeben. Durch die Ziele, Zwecke und Funktionen einer Vereinigung werden deren Aufgaben, Rechte und Grenzen festgelegt.53

5.2.1 Der Staat

Locke vertritt ein neuzeitliches Staatsverständnis, in dem sich Herrschaft nicht mehr auf Gott gründet:

No security or peace, much less friendship, can ever be established or preserved amongst men, if the opinion prevails that dominion is founded in grace and that religion is to be propagated by force of arms.54

49Klibansky/Gough 1968, S. 77; Locke Works VI, S. 15; s.a. Klibansky/Gough 1968, S. 87 u. 147;

Locke Works VI, S. 22 u. 54

50Klibansky/Gough 1968, S. 65; Locke Works VI, S. 9; Hervorhebung von mir. Zur Problematik eines intoleranten Christentums s. z.B. Schmidt-Leukel, Perry. 2000. Ist das Christentum notwendig intole- rant? In: Forst, Rainer. Toleranz: Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend.

Frankfurt/Main, S. 177213.

51s. hierzu auch Kelly 1991

52Klibansky/Gough 1968, S. 65; Locke Works VI, S. 9

53Laut Cranston ist dies Lockes eigentliches Thema: The central theme of Locke's Epistola de Tolerantia is the radical distinction, as he sees it, between the church and the state. Cranston 1991, S. 82.

54Klibansky/Gough 1968, S. 85; Locke Works VI, S. 20; Hervorhebung von mir.

(17)

Inhalt 15 Daraus folgt, dass es nicht-religiöse Begründungen für Herrschaftsrechte geben muss.

Nach Lockes Vorstellung werden Staaten nur errichtet, um die zivilen Güter der Menschen (Leben, Freiheit, körperliche Unversehrtheit, Besitz) zu wahren und zu fördern.55Um diese zivilen Güter wirksam schützen zu können und nur zu diesem Zweck , verfügen Regierungen über Zwangs-, d.h. Waffengewalt.

Locke hält folgende Überlegungen für hinreichend, um zu zeigen, dass die Regie- rung nur für zivile Güter zuständig ist und nicht für religiöse.56Dabei verwendet Locke meiner Ansicht nach drei unterschiedliche Argumente oder Argumentationslinien.

Die erste Argumentationslinie ergibt sich aus der Beschaffenheit des Glaubens.

Aufgaben und Rechte der Regierung betreffen nicht das Seelenheil, also auch nicht die Religion, denn

1. Gott hat niemandem die Sorge um das Seelenheil eines anderen anvertraut;

auch keiner Regierung. Nicht einmal die Menschen selbst können anderen eine solche Macht verleihen, da niemand die Sorge um sein Seelenheil aufgeben und einen (gesetzlich) vorgeschriebenen Glauben annehmen kann. Dies liegt an folgendem Aspekt des Glaubens:

It is faith that gives force and efcacy to the true religion that brings salvation. [ . . . ] if you are not fully persuaded in your own mind that it [profession, outward worship] is both true and well pleasing to God [ . . . ] it is an obstacle to salvation.57

In der Übersetzung Popples wird meiner Meinung nach klarer, dass der Kern dieser Annahme genuiner Glaube ist:

All the life and power of true religion consists in the inward and full persuasion of the mind; and faith is not faith without believing.58

2. Die Macht der Regierung besteht ausschlieÿlich im Zwang. Überzeugungen können aber nicht durch Strafen erzwungen werden. Daher sind Strafen in diesem Zusammenhang sinnlos.59

If anyone wishes to adopt some doctrine or form of worship for the salvation of his soul, he must rmly believe that the doctrine is true, and that the form of worship will be pleasing and acceptable to God; but penalties are in no way capable of producing such belief.60

55Klibansky/Gough 1968, S. 65ff; Locke Works VI, S. 9f

56Klibansky/Gough 1968, S. 71; Locke Works VI, S. 12f

57Klibansky/Gough 1968, S. 67; s.a. Abschnitt 5.5, S. 25

58Locke Works VI, S. 10f; Hervorhebung von mir; s. Abschnitt 5.5, S. 25f

59Klibansky/Gough 1968, S. 69f; Locke Works VI, S. 11f

60Klibansky/Gough 1968, S. 69; Locke Works VI, S. 12

(18)

Aus 1. und 2. folgt die aus Lockes eigener Sicht wichtige Annahme, dass wahrer, genuiner Glaube nicht erzwingbar ist.61

3. Selbst wenn Gesetze und Strafen Überzeugungen ändern könnten, würde dies nicht zur Erlösung beitragen:

For there being but one true religion,62 one way to heaven, what hope is there that most men would reach it, if mortals were obliged to ignore the dictates of their own reason and conscience, and blindly accept the doctrines imposed by their princes, and worship God in the manner laid down by the law of their country?63

Unter den verschiedenen Regierungen gibt es eine Vielfalt religiöser Über- zeugungen. Erlösung oder Verdammnis eines Menschen würden von seinem Geburtsort (besser: von der jeweiligen Regierung und ihren religiösen Über- zeugungen) abhängen und nicht von dem jeweiligen Menschen selbst.64 Wenn der Herrscher die Machtbefugnis zur Unterdrückung einer götzendie- nerischen Kirche hätte, träte das Problem auf, dass er diese Machtbefugnis auch gegen eine orthodoxe Kirche wenden könnte. Für jeden Herrscher ist das eigene Bekenntnis orthodox65 Herrscher würden also immer diejenigen Bekenntnisse un- terdrücken, die sie für götzendienerisch halten. Und so würden und werden in jedem Land Bekenntnisse unterdrückt, die im Nachbarland durchgesetzt werden.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten zur Regelung der Rechte der Regierung in Bezug auf religiöse Angelegenheiten:

The civil power can either change everything in religion according to the prince's pleasure, or it can change nothing. If it be allowed to introduce anything into sacred matters by law, force, and penalties, there can be no bounds put to it; the magistrate will be entitled by the same means to compel everything to conform to a rule of truth which he has invented for himself.66

Wenn man der Regierung Regelungen in religiösen und/oder kirchlichen Angelegen- heiten unter Berufung auf religiöse Zwecke und Ziele gestatten will, so muss man

61s.a. Abschnitt 5.5, S. 25

62True religion and christian religion are, I suppose, to you and me, the same thing. Locke. 1690.

A Second Letter concerning Toleration. In: Locke Works VI, S. 63

63Klibansky/Gough 1968, S. 71; Locke Works VI, S. 12

64Because the magistrates of the world [ . . . ] being few of them in the right way; not one of ten, [ . . . ] perhaps you [Proast] will grant not one of an hundred, being of the true religion; it is likely your indirect way of using of force would do an hundred, or at least ten times as much harm as good [ . . . ].

Locke. 1690. A Second Letter concerning Toleration. In: Locke Works VI, S. 77.

65[ . . . ] the religion of every prince is orthodox to himself. Klibansky/Gough 1968, S. 113; Locke Works VI, S. 35.

66Klibansky/Gough 1968, S. 113; Locke Works VI, S. 35

(19)

Inhalt 17 ihr diese Eingriffe für jedes die Religion betreffende Detail gestatten. Die von Locke bevorzugte Alternative ist ein (fast) absolutes Verbot von staatlichen Bestimmungen in religiösen Angelegenheiten.67

Der (Gründungs-)Zweck des Staates bestimmt die zweite Argumentationslinie.

Menschen gründen Gesellschaften, um ihren Besitz und ihre Freiheit zu bewahren.

Daraus folgt für die Machtbefugnis der Regierung:

The care of all these things [arms, laws], and the power to use them, is entrusted by the society to the magistrates. This is the origin, these are the uses and the bounds of the legislative power, which is the supreme power, in any common- wealth, namely, to provide security for the private possessions of individuals, as also for the whole people and its public interests [ . . . ].68

Einziges (Gründungs-)Ziel und einziger (Gründungs-)Zweck eines Gemeinwesens, durch die das Gesetzgebungsrecht der Regierung bestimmt wird, ist das öffentliche Wohl in zivilen Angelegenheiten. Dies ist auch der einzige Grund für den Eintritt in ein Gemeinwesen. Den Menschen bleibt folglich die Freiheit bezüglich der Religion, namely that each may do what he believes to be pleasing to God, on whose good pleasure men's salvation depends.69

Da, bzw. wenn, Religion das bürgerliche Gemeinwesen nicht betrifft und sie anderen Bürgern keinen Schaden (in weltlichen Dingen) zufügt, kann sie nicht als Begründung für das Erlassen von Gesetzen dienen:70

The public good is the rule and measure of lawmaking. If anything is not useful to the commonwealth, however indifferent it may be, it cannot thereupon be established by law.71

Bei der dritten Argumentationslinie geht es darum, dass Herrscher nicht qua Herrscher-Sein gröÿeres Wissen in Bezug auf Religion haben. Aufgabe und Stellung der Regierung in der Welt bringen keinen Erkenntnisvorsprung in religiösen Dingen mit sich. Auch deshalb hat die Regierung kein Recht auf die Entscheidung religiöser Fragen und folglich die Picht zu religiöser Toleranz:

Neither the care of the commonwealth, nor the right of enacting laws, reveals the way that leads to heaven more certainly to the magistrate than a private man's study reveals it to himself. [ . . . ] Because there is only one way for

67Ausnahmen sind Fälle, in denen religiöse Überzeugungen oder Interessen die Sicherheit des Staates, das Zusammenleben mit anderen oder Besitz und Leben anderer gefährden. Dies sind aber keine religiösen Gründe.

68Klibansky/Gough 1968, S. 127; Locke Works VI, S. 42; Hervorhebung von mir.

69Klibansky/Gough 1968, S. 127; Locke Works VI, S. 43

70Klibansky/Gough 1968, S. 129; Locke Works VI, S. 43

71Klibansky/Gough 1968, S. 103; Locke Works VI, S. 30; Hervorhebung von mir.

(20)

me to escape death, will it therefore be safe for me to do what the magistrate ordains?72

Erschwerend kommt hinzu, dass man nicht wissen kann, welches Bekenntnis das wahre ist:

Only one of them [the different roads] is truly the way of salvation, but amongst the thousand ways by which men travel, it is still doubtful which is the right one.73

Da Erlösung etwas ist, das jeder Mensch für sich selbst erforschen muss, kann sie nicht die Aufgabe einer bestimmten Sorte von Menschen sein. Fürsten sind in Bezug auf Macht anderen Menschen überlegen (geboren), ansonsten aber anderen Sterblichen gleich. Weder das Recht noch die Kunst des Herrschens bringen ein sicheres Wissen über andere Dinge mit sich, and least of all of true religion.74Wie könnte es sonst sein, dass sich die Fürsten der Welt in religiösen Fragen so erheblich von einander unterscheiden?75

[T]he one and only narrow way that leads to heaven is no better known to the magistrate than to private persons, and therefore I cannot safely follow him as my guide who may probably be as ignorant of the ways as I am, and who certainly must be less concerned for my salvation than I am myself.76

Herrscher hatten und haben immer sehr unterschiedliche Ansichten bezüglich Reli- gion, so dass man nicht ernsthaft glauben kann, das vom Herrscher vorgeschriebene Bekenntnis sei prinzipiell das allein selig machende.

Locke weist noch auf eine Gefahr hin, die sich ergibt, wenn der Herrscher (s)eine Religion für alle Untertanen vorgibt: Wenn durch einen Irrtum des Fürsten die Erlösung nicht erlangt wird, besteht keine Möglichkeit einer Wiedergutmachung oder Erstattung.77

Ein besonders wichtiges Argument Lockes für religiöse Toleranz bzw. allgemein für eine Beschränkung der Eingriffsrechte und -pichten des Staates ist die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten, eine bestimmte Überzeugung oder eine bestimmte Praxis dem Staat, dem inneren Frieden oder einem anderen Bürger an seinen vom Staat

72Klibansky/Gough 1968, S. 93; Locke Works VI, S. 25. Die Frage, die man beantworten müsste, wenn man anderer Meinung ist, wäre, an welchen Kriterien ein Herrscher die wahre, erlösende Kirche erkennen sollte, wenn andere Menschen dies nicht können.

73Klibansky/Gough 1968, S. 93; Locke Works VI, S. 25; s.a. Klibansky/Gough 1968, S. 61 u. 83;

Locke Works VI, S. 7 u. 19; s.a. S. 22

74Klibansky/Gough 1968, S. 95; Locke Works VI, S. 25

75s. Fn 64, S. 16

76Klibansky/Gough 1968, S. 97; Locke Works VI, S. 26

77Klibansky/Gough 1968, S. 95; Locke Works VI, S. 25f

(21)

Inhalt 19 zu schützenden zivilen Gütern schadet. Weil durch einen unrechtmäÿigen Gottes- dienst, durch das Nicht-Teilen einer Überzeugung oder durch die eigene Verdammnis weder dem Staat noch anderen geschadet wird, geht die Sorge um das Seelenheil nur jeden selbst an.

Zusammenfassend kann man mit Lockes eigenen Worten sagen:

It is the duty of the civil magistrate, by impartially enacted equal laws, to preserve and secure for all the people in general, and for every one of his subjects in particular, the just possession of these things that belong to this life. [ . . . ] the whole jurisdiction of the magistrate is concerned only with these civil goods, and that all the right and dominion of the civil power is bounded and conned solely to the care and advancement of these goods; and that it neither can nor ought in any way to be extended to the salvation of souls [ . . . ].78

Cranston behauptet, es wäre Lockes Meinung, that it is everybody's duty to uphold morality, und Locke [ . . . ] assigned to the civil magistrate a specic duty to enforce morality.79 Aus der Epistola kann man dies nicht schlieÿen. Mir scheint, dass Cran- ston die Passage, auf die er seine Argumentation stützt,80 aus dem Zusammenhang reiÿt, in dem sie steht. Locke will meinem Verständnis nach nicht jeden (ausdrücklich) dazu verpichten, die Moral zu verteidigen. Es geht ihm an der betreffenden Stelle um Fanatiker und die Kritik an deren Verhalten: Statt sich um die Ausrottung der im Neuen Testament genannten Sünden zu bemühen auch und gerade bei den eigenen Leuten , sind sie ausschlieÿlich mit der Vernichtung anderer religiöser Gemeinschaf- ten beschäftigt. Locke würde wohl nicht bestreiten, dass jeder sich um die Moral bemühen sollte vor allem um seine eigene. Er zeigt aber auch, dass die Regierung nicht alle Sünden bekämpfen kann und muss. Es würde auch der Staatskonzeption widersprechen, die er in der Epistola zeichnet: Die Regierung hat sich (als Regierung) nur darum zu kümmern, dass ihren Untertanen kein Schaden an Leben, Besitz und Rechten geschieht.

5.2.2 Kirchen

Kirchen deniert Locke folgendermaÿen:

A church seems to me to be a free society of men, joining together of their own accord for the public worship of God in such manner as they believe will be acceptable to the Deity for the salvation of their souls.81

78Klibansky/Gough 1968, S. 67; Locke Works VI, S. 10; Hervorhebungen von mir.

79Cranston 1991, S. 91f; Hervorhebung im Original.

80Klibansky/Gough 1968, S. 63; Locke Works VI, S. 8

81Klibansky/Gough 1968, S. 71; Locke Works VI, S. 13. Cranston bemerkt dazu: The church then is voluntary in a sense in which the state is not voluntary, Cranston 1991, S. 83; zu Lockes Vorstellung einer christlichen Kirche s. Cranston 1991, S. 87ff.

(22)

Jeder tritt einer Kirche freiwillig bei. Der einzige Grund für den Beitritt zu und den Verbleib in einer Kirche ist die Hoffnung auf Erlösung. Niemand wird als Mitglied einer Kirche geboren, da man sonst seine Religion seiner Abstammung verdanken würde.82Auÿerdem besteht für Locke die Notwendigkeit, sich öffentlich zu Gott zu bekennen, und die Picht, einer Kirche beizutreten:

All men know and acknowledge that God ought to be publicly worshipped [ . . . ].

Men endowed with this [religious, ecclesiastical] liberty must therefore enter some religious society [ . . . ] to testify to the world that they are worshippers of God [ . . . ].83

Jede menschliche Vereinigung muss durch Gesetze geregelt werden, die sie sich selbst geben darf, so auch Kirchen.84

The business of true religion is [ . . . ] regulating men's lives in accordance with virtue and piety.85 The sole business of the church is the salvation of souls.86

Da der Zweck einer religiösen Gemeinschaft die öffentliche Verehrung Gottes und die Erlangung ewigen Lebens ist, muss jede Kirchenordnung auf diesen Zweck hin ausgerichtet und müssen alle kirchlichen Gesetze auf diese Aufgaben beschränkt sein.

In [a religious] society nothing is or can be done that relates to the possession of civil or earthly goods; no force is to be employed here for any reason whatever.

For force belongs wholly to the civil magistrate, and the possession and use of outward goods is subject to his jurisdiction.87

Der Kirche stehen Ermahnung, Verweis, Rat und als letztes und äuÿerstes Mittel die Exkommunikation zur Verfügung.88

Die notwendigen Glaubensvoraussetzungen einer christlichen Kirche sollten aus- schlieÿlich in Dingen bestehen, die klar und ausdrücklich als für die Erlösung not- wendig in der Bibel genannt werden. Menschen sollten keine eigenen Erndungen oder Interpretationen als göttliche Vorschriften einführen.89

82Klibansky/Gough 1968, S. 73; Locke Works VI, S. 13. Es fällt auf, dass Locke nicht sieht, dass man faktisch als Mitglied einer Kirche geboren wird. Für seine Theorie würde es keinen Unterschied machen, wenn er dies zugeben würde: Man kann mit denselben Argumenten begründen, warum man aus einer Kirche austreten darf.

83Klibansky/Gough 1968, S. 101; Locke Works VI, S. 29; s. hierzu auch Lockes Fundamental Constitu- tions of Carolina, Art. 95 bis 110 (S. 177180). Dieser Picht kommen Atheisten nicht nach. Allerdings stellt sich die Frage, ob eine solche Picht bestehen kann, da es kein Recht auf Mitgliedschaft in einer Kirche gibt, s. S. 21 (Abschnitt 5.3.1).

84Klibansky/Gough 1968, S. 79; Locke Works VI, S. 16

85Klibansky/Gough 1968, S. 59; Locke Works VI, S. 5f

86Klibansky/Gough 1968, S. 103; Locke Works VI, S. 30; zu Glaube s. S. 15(1.3.)

87Klibansky/Gough 1968, S. 77; Locke Works VI, S. 16; s. Abschnitt 5.2.1, S. 15

88Klibansky/Gough 1968, S. 77; Locke Works VI, S. 16; s. Abschnitt 5.3.1, S. 21

89Klibansky/Gough 1968, S. 75; Locke Works VI, S. 15

(23)

Inhalt 21 Der Herrscher muss Kirchen tolerieren, da bzw. wenn sie sich nur mit Dingen beschäftigen, mit denen sich auch jeder Bürger rechtmäÿig beschäftigen darf, im Fall der Kirche die Erlösung. Darin unterscheidet sich die nationale Kirche nicht von anderen Kirchen.90

No man, therefore, with whatsoever ecclesiastical ofce he may be dignied, can deprive any other man who is not of his church or faith of life, liberty, or any part of his worldly goods on account of religion.91

5.2.3 Fazit

The boundaries on both sides [state and church] are xed and immovable. He mixes heaven and earth together, things most remote and opposite, who confuses these two societies, which in their origin, their end, and their whole substance are utterly and completely different.92

[W]hereas if each of them [state and church] conned itself within its own boundsthe one attending only to the worldly welfare of the commonwealth, the other to the salvation of soulsthere could not possibly be any disagreement between them.93

5.3 Toleranzpicht

5.3.1 Toleranzpicht der Kirche gegenüber abtrünnigen Mitgliedern Als erstes nennt Locke eine Grenze kirchlicher Toleranz:

[N]o church is bound in the name of toleration to cherish in her bosom a man who, after admonition, continues obstinately to offend against the laws established in that society. [ . . . ] This will always be the immutable right of a spontaneous society, that it can expel any member it thinks t [ . . . ].94

Exkommunikation kann und darf den Betroffenen aber nicht seiner zivilen Rechte oder seines Besitzes berauben, die unter dem Schutz des Staates stehen.95 Die ganze Macht der Exkommunikation besteht in der Aufhebung der Verbindung zwischen Gemeinschaft und Mitglied. Niemand hat ein ziviles Recht auf Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft.96

90Klibansky/Gough 1968, S. 101; Locke Works VI, S. 29; s. Abschnitt 5.2.1, S. 14

91Klibansky/Gough 1968, S. 87; Locke Works VI, S. 21

92Klibansky/Gough 1968, S. 85ff; Locke Works VI, S. 21

93Klibansky/Gough 1968, S. 149; Locke Works VI, S. 54

94Klibansky/Gough 1968, S. 79ff; Locke Works VI, S. 16ff

95s. Abschnitt 5.2.1, S. 1419

96Klibansky/Gough 1968, S. 79; Locke Works VI, S. 17. Wenn man kein Recht auf Mitgliedschaft hat, kann man dann die Picht zur Mitgliedschaft haben, wie Locke meint? (s. Abschnitt 5.2.2, S. 20)

(24)

5.3.2 Toleranzpicht von Personen und Kirchen gegenüber Andersgläubigen Für jeden einzelnen gilt:

[N]o private person ought in any way to attack or damage another person's civil goods because he professes another religion or form of worship.97

und

Man's rst care should be of his soul, and he should do his utmost to maintain peace [ . . . ].98

Es besteht also neben einer Picht zu (religiöser) Toleranz auch die Picht, ein friedliches Zusammenleben zu ermöglichen bzw. dieses nicht zu stören. Daraus folgt meiner Ansicht nach obendrein die Picht zu allgemeiner Toleranz, da Intoleranz auch in anderen Bereichen das Zusammenleben und den inneren Frieden erheblich stören kann.

Wenn jemand irrt, ist dies sein eigenes Unglück und kein Unrecht an einem anderen. Man darf einen irrenden Menschen nicht an diesseitigen Dingen strafen, nur weil man glaubt, dass dieser im nächsten Leben zu Grunde geht.99

Dies gilt auch für Kirchen, die in derselben Art von Beziehung zu einander stehen wie Personen. Daher hat keine Kirche Rechtsprechungsgewalt über eine andere. Keine Regierung kann einer Kirche dieses Recht verleihen. Menschen- und Bürgerrechte sind nicht Sache der Kirche, because the church itself is absolutely separate and distinct from the commonwealth and civil affairs.100 Gewalt und Unrecht müssen unterbleiben, sowohl gegen Christen als auch gegen Heiden.

Weitere, eher praktische Gründe, warum Kirchen Toleranz üben müssen, fasse ich kurz zusammen:

• Man kann nicht feststellen, welche die wahre oder orthodoxe Kirche ist.101

• Da ihr Zweck die Verehrung Gottes und die Erlösung ist, haben Kirchen keine Rechte in weltlichen Dingen.

• Gewalt ist kein angemessenes Mittel zur Widerlegung von Fehlern und zur Verbreitung der Wahrheit.

• Keine Regierung kann einer Kirche Autorität über andere Kirchen geben.102

97Klibansky/Gough 1968, S. 79; Locke Works VI, S. 17

98Klibansky/Gough 1968, S. 131; Locke Works VI, S. 44

99Klibansky/Gough 1968, S. 79ff; Locke Works VI, S. 17; s.a. S. 19 (Abschnitt 5.2.1)

100Klibansky/Gough 1968, S. 85; Locke Works VI, S. 21; s.a. Abschnitt 5.2.2, 19f

101s.a. S. 18

102Locke bringt das Beispiel eines muslimischen Herrschers, der einer christlichen Kirche in seinem Land Macht über eine andere christliche Kirche gibt. Da er dazu kein Recht hat, hat auch kein christlicher Herrscher dieses Recht, da [t]he civil power is the same everywhere. Klibansky/Gough 1968, S. 83; Locke Works VI, S. 20.

(25)

Inhalt 23 Ein weiteres wichtiges Argument Lockes ist, dass man sich als gläubiger Christ nicht anmaÿen darf, an Gottes Statt zu entscheiden, zu urteilen und zu handeln ohne dessen ausdrücklichen Auftrag (den es nicht gibt), besonders dann, wenn man glaubt, dass Gott allmächtig ist.103

5.3.3 Toleranzpicht kirchlicher Amtsträger

Da die Autorität der Geistlichen eine kirchliche ist, wird sie durch die den Kirchen auferlegten Beschränkungen begrenzt:104

For whatever is not lawful to the whole church cannot by any ecclesiastical right be lawful to any member of it.105

Lockes Forderungen gegen Geistliche gehen sehr weit: Es reicht nicht aus, dass sie Gewalt und Verfolgung nicht praktizieren. Sie sind sogar obliged also to warn [their] hearers of the duties of peace and good will towards all men, towards the erroneous as well as the orthodox; towards those who differ from [them] in faith and worship as well as towards those who agree with [them].106Geistliche sollen alle Menschen auch die Regierung zu Barmherzigkeit, Milde und Toleranz ermahnen.

Prediger dürfen Fehler der Menschen mit Argumenten widerlegen; die Person aber müssen sie verschonen. Ein Mangel an Argumenten darf nicht mit (staatlicher) Gewalt wettgemacht werden.

5.3.4 Toleranzpicht der Regierung

Locke zeigt an Hand einer Parallele zu nicht-religiösen Angelegenheiten, dass die Regierung sich um gewisse Angelegenheiten ihrer Bürger nicht angemessen kümmern kann (Berufswahl, Gesundheit etc.). Da sich die Regierung nicht um die Selbstvernach- lässigung eines Menschen in anderen Bereichen (Finanzen, Gesundheit etc.) kümmert, gibt es erst recht keinen Grund, sich zu kümmern, wenn jemand sein Seelenheil vernachlässigt, was nur jedermann selbst etwas angeht.

103Wenn Gott allmächtig ist, wird er schon dafür Sorge tragen, dass alle Menschen erlöst werden wenn er das will. Dann ist es unnötig, dass Menschen dies mit Gewalt versuchen. Wenn Gott nicht per se alle Menschen erlösen will, dann hat auch kein Mensch das Recht, dies mit Gewalt zu versuchen, denn er würde die Entscheidung, die Gott in seiner unendlichen Weisheit getroffen hat, nicht akzeptieren was eine Sünde wäre. Und: Even God himself will not save men against their wills (Klibansky/Gough 1968, S. 91; Locke Works VI, S. 23). Dann können andere Menschen dies erst recht nicht; s.a. Abschnitt 5.5, S. 25.

104s. Abschnitt 5.2.2, S. 19f u. Abschnitt 5.3.2, S. 22f

105Klibansky/Gough 1968, S. 85ff; Locke Works VI, S. 21

106Klibansky/Gough 1968, S. 87; Locke Works VI, S. 21

(26)

Laws endeavour, as far as possible, to protect the goods and health of subjects from violence of others, or from fraud, not from the negligence or prodigality of the owners themselves.107

Daraus, dass Götzendienerei eine Sünde ist, folgt nicht, dass sie zu bestrafen ist.

Denn es ist nicht die Aufgabe der Regierung, alles zu bestrafen, was sie für Sünde hält. Bei viele Dingen, die im Neuen Testament genannte Sünden sind (Habsucht, Müÿiggang etc.), käme niemand nicht einmal Fanatiker auf die Idee, sie vom Staat mit Strafen belegen zu lassen. Wenn Sünden gesetzlich verfolgt werden (wie z.B. Meineid), dann nicht, weil sie Gott ärgern oder unmoralisch sind, sondern weil sie eine Schädigung des Staates oder einer anderen Person zur Folge haben.108 5.3.5 Fazit

None therefore, neither individuals, nor churches, nor even commonwealths, have any just title to invade civil rights and rob each other of worldly goods on the plea of religion.109

5.4 Das (bisherige) Verhältnis von Staat und Kirche

Locke beginnt mit der Widerlegung des Einwands, die Regierung setze nur um, was die Kirche lehrt: Zum einen wurde die Kirche oft missbraucht, um Menschen zu täuschen. Und selbst wenn der Herrscher nur von der orthodoxen Kirche erlassene Dekrete vorschriebe, wären es zum anderen doch immer die derjenigen Kirche, die dem Herrscher gefällig ist, denn the religion of every prince is orthodox to himself.110 Der Herrscher wird immer sein eigenes Urteil mit einieÿen lassen, wenn er Menschen mittels Gesetzen in eine bestimmte Kirche zwingt. Daher wäre es letztendlich immer der Herrscher, von dem das Seelenheil der Untertanen abhinge.111

If a king presumes to impose laws on another man's religion, it is all one whether he does it by his own judgement or by the ecclesiastical authority and advice of others. The decisions of churchmen [ . . . ] cannot be any sounder or safer than his [ . . . ]. Though this also is worth noticing, that princes seldom have any regard for the opinions and suffrages of ecclesiastics who do not favour their own faith and way of worship.112

Viel wichtiger ist aber, dass

107Klibansky/Gough 1968, S. 91; Locke Works VI, S. 23

108Klibansky/Gough 1968, S. 115; Locke Works VI, S. 36f

109Klibansky/Gough 1968, S. 85; Locke Works VI, S. 20

110Klibansky/Gough 1968, S. 113; Locke Works VI, S. 35

111Ein katholischer Herrscher würde niemals zu einer protestantischen Kirche gesetzlich verpichten, und vice versa.

112Klibansky/Gough 1968, S. 99; Locke Works VI, S. 27f

(27)

Inhalt 25

[ . . . ] the church [ . . . ] is for the most part more apt to defer to the court than the court to the church.113

So zeigt die Geschichte zur Genüge, dass

[ . . . ] the clergy changed their decrees, their articles of faith, their form of worship, everything, at a nod from the prince.114

5.5 Lockes Hauptpunkt

Der Hauptpunkt, der laut Locke die Kontroverse bestimmt, ist folgender:

[E]ven if the magistrate's opinion in religion is sound, and the way that he directs truly evangelical, yet, if I am not thoroughly convinced of it in my own mind, it will not bring me salvation. [ . . . ] I cannot be saved by a religion that I distrust, or by a worship that I dislike. It is useless for an unbeliever to assume the outward appearance of morality; to please God he needs faith and inward sincerity. [ . . . ] this at least is certain, that no religion which I do not believe to be true can be either true or protable to me. In vain therefore does the magistrate force his subjects into his church on the plea of saving their souls.

[ . . . ] if they do not believe, they will perish none the less, however much they come. [ . . . ] a man cannot be forced to be saved. In the end he must be left to himself and his own conscience.115

Dadurch hofft Locke, die Menschen von gegenseitiger Herrschaft in religiösen An- gelegenheit befreit zu haben.

Diesen Hauptpunkt muss Locke fallen lassen, da Proast erfolgreich der Annah- me widerspricht, dass in vain therefore does the magistrate force his subjects into his church on the plea of saving their souls. Es ist zumindest nicht von vornher- ein auszuschlieÿen, dass Zwang in Bezug auf Überzeugungen eine Wirkung haben kann.116

5.6 Aspekte religiöser Toleranz gegenüber Kirchen

Bei der Frage der Toleranz der Regierung gegenüber Kirchen spielen laut Locke zwei Aspekte eine wichtige Rolle: einerseits Gottesdienste und Riten, andererseits Glaubensartikel.

113Klibansky/Gough 1968, S. 99; Locke Works VI, S. 27

114Klibansky/Gough 1968, S. 99; Locke Works VI, S. 27. Und: They do not willingly or fervently de- vote their energy to attacking errors which are favoured by the court or magistrate (Klibansky/Gough 1968, S. 85; Locke Works VI, S. 20).

115Klibansky/Gough 1968, S. 99ff; Locke Works VI, S. 28; s.a. S. 15, 1. u. 2.

116s. Abschnitt 6.2, S. 39

(28)

5.6.1 Gottesdienste und Riten

Der Herrscher hat keine Machtbefugnis, Gottesdienstformen oder Riten durchzu- setzen, da (a) Kirchen freie, also sich selbst Regeln gebende, Gemeinschaften sind117 und (b) der einzige Grund, der eine Form des Gottesdienstes rechtfertigt, ist, dass man diese Form für gottgefällig hält. Whatever is not done with that assurance is neither lawful nor acceptable to God.118

Sollte es das Allgemeinwohl erfordern, dürfen Praktiken des Gottesdienstes ver- boten werden.

But in this case the law is made not about a religious but a political matter [ . . . ] Things which in themselves are harmful to the commonwealth, and which are forbidden in ordinary life [ . . . ], cannot be allowed for sacred use in church, nor can they deserve impunity. But the magistrates should take the utmost care that they do not misuse the pretext of the public welfare to curtail the liberty of any church [ . . . ].119

Aus Gründen des Gemeinwohls und der staatlichen Sicherheit dürfen Praktiken des Gottesdienstes verboten werden. Wie Locke selbst bemerkt, schlieÿt dies die Gefahr des Missbrauchs ein. Es ist jedoch gleichzeitig ein Rechtsschutz gegenüber dem Staat, der nun begründen muss, inwiefern eine bestimmte Praxis das Gemeinwohl gefährdet.

Dabei ergibt sich ein Problem, das Locke nicht bemerkt oder unterschätzt. Er selbst bringt das Beispiel des Meliboeus,120dem es prinzipiell gestattet ist, im Rahmen des Gottesdienstes Kälber zu schlachten. Wenn es allerdings im Land zu einem Mangel an Kälbern kommt, darf der Staat das Schlachten von Kälbern grundsätzlich, also auch im Gottesdienst, verbieten. Locke hat natürlich recht, wenn er sagt, dies geschehe aus politischen und nicht aus religiösen Gründen. Dem Meliboeus wird das egal sein: Ihm wird verboten, Gott auf angemessene Weise zu verehren. Und da, wie Locke selbst sagt, indifferente Dinge (adiaphora) in sacred worship [ . . . ] immediately cease to be indifferent,121handelt es sich bei einem solchen Verbot zwar nicht um Machtmissbrauch durch den Staat. Aber Entscheidungen, die religiöse Bedürfnisse betreffen, werden von den Betroffenen mit Sicherheit als unrechtmäÿiger Eingriff empfunden. Dies soll kein Argument dafür sein, dass der Staat Dinge, die religiöse Bedürfnisse betreffen oder betreffen könnten, nicht regeln soll oder darf, sondern ein Hinweis darauf, dass man in solchen Fällen vorsichtiger sein bzw. Ausnahmen für religiöse Situationen zulassen sollte.

117s. S. 19

118Klibansky/Gough 1968, S. 103; Locke Works VI, S. 29f; s. Abschnitt 5.5

119Klibansky/Gough 1968, S. 111; Locke Works VI, S. 34f

120Klibansky/Gough 1968, S. 109ff; Locke Works VI, S. 34; s. S. 29

121Klibansky/Gough 1968, S. 107; Locke Works VI, S. 32

(29)

Inhalt 27 Auf diese und ähnliche Weise werden immer wieder staatlich-gesellschaftliche Belange mit religiösen Bedürfnissen kollidieren. Daher halte ich folgende Interpreta- tion Goughs für zutreffend: Da eine absolute Freiheit des Gewissens, Glaubens und Handelns keine praktikable Alternative darstellt (anwendbare Freiheit kann es nur im Rahmen von Regeln geben) und das andere Extrem (Totalitarismus) nicht wün- schenswert ist, kann eine sinnvolle Lösung nur ein Kompromiss zwischen der vom Gewissen geforderten Freiheit und den für ein vernünftiges Regieren notwendigen Beschränkungen sein, wie Gough bemerkt:

This is in effect what Locke pleaded for, even if he did not fully realize that it was a compromise. In other words, each side must make concessions to the other.122

5.6.2 Glaubensartikel

Laut Locke gibt es praktische und spekulative Glaubensartikel.123

Spekulative Überzeugungen müssen nur geglaubt werden. Durch sie wird anderen kein Schaden zugefügt. Dazu zählt z.B. die Frage, ob das Brot oder die Oblate im Rahmen des Abendmahls tatsächlich der Leib Christi ist eine Frage, die nicht nur zwischen Katholiken und Protestanten ein Streitpunkt ist, sondern auch zwischen Lutheranern und Reformierten.

[ . . . ] the magistrate ought not to forbid [ . . . ] any speculative opinions in any church, because they have no bearing on the civil rights of his subjects.

[ . . . ] The power of the magistrate and the property of citizens may be equally secure whether any man believes these things or not.124

Spekulative Überzeugungen können nicht durch Gesetze auferlegt werden, da etwas zu glauben nicht dem menschlichen Willen unterworfen ist. Und ein rein äuÿerliches Glaubensbekenntnis zu verlangen, widerspricht dem Wesen der Erlösung.125

Da für Locke die Existenz Gottes keine (spekulative oder praktische) Glau- bensüberzeugung ist (sondern eine Erkenntniswahrheit), können Atheisten dies jedoch nicht als Begründung für die Forderung nach religiöser Toleranz ihnen gegenüber vorbringen.

Praktische Überzeugungen fallen sowohl in den Bereich des Gewissen als auch in den der Regierung. Hier besteht die Gefahr, dass es zu Konikten zwischen

122Gough 1968, S. 41

123zu praktischen und spekulativen Glaubensüberzeugungen bei Locke s.a. Cranston 1991, S. 80f

124Klibansky/Gough 1968, S. 121ff; Locke Works VI, S. 40

125s. S. 15 u. Abschnitt 5.5, S. 25

Referenzen

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