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Sexueller Missbrauch in der DDR

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Sexueller Missbrauch in der DDR

Christian Sachse · Stefanie Knorr Benjamin Baumgart

Historische, rechtliche und

psychologische Hintergründe des sexuellen Missbrauchs an Kindern und Jugendlichen in der DDR

Sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend:

Forschung als Beitrag zur Aufarbeitung

(2)

Reihe herausgegeben von

S. Andresen, Frankfurt am Main, Deutschland J. Brachmann, Rostock, Deutschland

P. Briken, Hamburg, Deutschland B. Kavemann, Berlin, Deutschland H. Keupp, Unterschleißheim, Deutschland

Sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend:

Forschung als Beitrag zur Aufarbeitung

(3)

Sexuelle Gewalt wurde bis heute national und international häufig aus der For- schung ausgeblendet. Vor allem die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit sexueller Gewalt im familiären und privaten Umfeld, ebenso wie in Kontex- ten kirchlicher oder pädagogischer Institutionen gehörten lange zu den großen Tabus moderner Gesellschaften. Zur Überwindung dieser Defizite beizutragen, ist ein Anliegen dieser Buchreihe. Sie schließt dabei an die ersten Versuche durch mutige Initiativen von Betroffenen in den 1980er Jahren an. Diese haben die Ringe des Schweigens und Verleugnens zwar zunächst kaum durchbrechen kön- nen, aber seit einigen Jahren zeigen sich allmählich Veränderungen. Vor allem durch Betroffene von Missbrauch in Institutionen sind die ersten Schneisen für das Thema der sexualisierten Gewalt in die Öffentlichkeit, in das wissenschaft- liche Aufmerksamkeitsfeld und in die politische Arena geschlagen worden. Ein- zelne Institutionen beginnen sich ihrer Verantwortung zu stellen und haben die bis heute nachwirkenden Spuren von Missbrauch und Misshandlungen in der Geschichte ihrer Institution erforschen lassen. Hier zeigt sich, dass Forschung einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung leisten kann. Vor allem dann, wenn sie sich methodisch für die Erfahrungen der Betroffenen und für deren biografische Konsequenzen öffnet und sie in historische und systemische Kontexte einordnet.

Es hat sich gezeigt, dass die Komplexität der damit gestellten Aufgaben am ehes- ten durch interdisziplinäre Kooperation von Pädagogik, Psychologie, Soziologie und Medizin bewältigt werden kann. Die neue Buchreihe will dies zeigen und deshalb sind alle vier Disziplinen im Gremium der Herausgeberinnen und Her- ausgeber vertreten.

In der Buchreihe werden Studien veröffentlicht, die auf unterschiedlichen Metho- den und Herangehensweisen basieren, aber die der Aufarbeitung sexueller Gewalt verpflichtet sind.

Reihe herausgegeben von

Sabine Andresen, Goethe-Universität Frankfurt/Main Jens Brachmann, Universität Rostock

Peer Briken, Universitätsklinikum Hamburg

Barbara Kavemann, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin Heiner Keupp, Ludwig-Maximilians-Universität München

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15550

(4)

Christian Sachse · Stefanie Knorr Benjamin Baumgart

Sexueller Missbrauch in der DDR

Historische, rechtliche und

psychologische Hintergründe des

sexuellen Missbrauchs an Kindern

und Jugendlichen in der DDR

(5)

Christian Sachse

Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft e.V. (UOKG)

Berlin, Deutschland Stefanie Knorr

Gegenwind – Beratungsstelle für politisch Traumatisierte der SED-Diktatur

Berlin, Deutschland

Benjamin Baumgart

Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft e.V. (UOKG)

Berlin, Deutschland

Sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend: Forschung als Beitrag zur Aufarbeitung ISBN 978-3-658-20873-8 ISBN 978-3-658-20874-5 (eBook)

https://doi.org/10.1007/978-3-658-20874-5

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National- bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist Teil von Springer Nature

Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany Im Auftrag der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs

(6)

V

Grußwort

Über sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der DDR, in Heimen sowie im familiären Umfeld ist vor 2010 nichts an die Öffentlichkeit gelangt. Ich erinnere mich gut, wie mir, der damaligen Unabhängigen Beauftragten zur Auf- arbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, Betroffene erstmals berichteten, was sie in DDR-Heimen an körperlichen Misshandlungen, an Demütigungen und sexuellem Missbrauch erlitten haben und unter welchen gesundheitlichen und sozialen Folgen sie noch heute leiden. Um die Anerkennung des Unrechts, das sie erfahren haben, kämpfen viele der Betroffenen noch heute ebenso wie um Hilfen zur Verbesserung ihrer Situation. Auf Grund dieser Erfahrungen wurde bereits 2011 Aufklärung und Aufarbeitung des Missbrauchs und der Misshandlungen von DDR-Heimkindern als dringend notwendig empfohlen, zumal deren Schicksal am Runden Tisch „Heim- erziehung in den 50er und 60er Jahren“ keinen Eingang gefunden hatte.

Erst 2016 wurde die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kin- desmissbrauchs eingesetzt. Der Deutsche Bundestag benannte die Aufarbeitung von Missbrauch in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der DDR ausdrücklich als eine wichtige Aufgabe der Kommission. In den ersten vertraulichen Anhörungen von Betroffenen hörte die Kommission erschütternde Berichte über Missbrauch sowohl in den Heimen und Jugendwerkhöfen als auch im familiären Bereich. Die intensiven Gespräche zeigten aber auch sehr deutlich, dass für die Aufarbeitung Hintergrundwissen über das staatlich-repressive DDR-Erziehungssystem und das politische Umfeld notwendig ist – nicht nur für Personen, die nicht in der DDR aufgewachsen sind. Nur so kann die Dimension des Unrechts an den Kindern und Jugendlichen erfasst werden.

(7)

VI Grußwort

Das Thema sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen war in der DDR weit mehr und länger tabuisiert als in den alten Bundesländern. Sexueller Kindes- missbrauch war in der DDR ein Politikum. Es wurde weder privat noch öffentlich über Kindesmissbrauch oder über einen Aufenthalt im Jugendwerkhof gesprochen.

Und dieses lange Schweigen wirkt nach. Betroffene erzählen noch heute, dass sie nicht über einen Heimaufenthalt reden können und schon gar nicht über erlebten Missbrauch, sie fühlen sich noch immer stigmatisiert.

Die vorliegende Expertise wurde von der Kommission in Auftrag gegeben.

Sie liefert wertvolle Kenntnisse, die auf aufwändigen Recherchen in einschlägi- gen Archiven und der Auswertung von unter Verschluss gehaltenen Studien der DDR über den Umgang des Staates mit sexuellem Kindesmissbrauch beruhen.

Zusammen mit der juristischen Einordnung und den eindringlichen Geschichten aus der Beratung zeichnet die Expertise ein bedrückendes Bild über ein doppeltes Unrecht – den Missbrauch der Kinder und Jugendlichen und die Verweigerung der Anerkennung dieses Unrechts und von Hilfen über Jahrzehnte.

Unser Dank gilt allen, die unter großem Zeitdruck und mit außergewöhnlichem Engagement diese Expertise erarbeitet haben, die nicht nur für die Arbeit der Kommission wichtige Daten liefert. Sie dient dazu, der Gesellschaft Wissen zu vermitteln über das Ausmaß sexuellen Missbrauchs in der DDR und die politisch- ideologischen Hintergründe. Betroffene möchten ohne Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung über das Erlebte sprechen können. Das ist die Botschaft, die sie uns in den Anhörungen immer wieder vermitteln.

Ich hoffe und erwarte, dass die Expertise den Auftakt bildet für weitere umfassen- de Aufklärungsprojekte zur Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch in der DDR.

Und ich wünsche mir, dass die Erkenntnisse der Studie wie auch die Ergebnisse der Aufarbeitungskommission eine breite Öffentlichkeit erreichen. Unrecht muss benannt und anerkannt werden. Wir sind es den Betroffenen, die den Mut hatten und haben, das Schweigen zu brechen und den vielen, die im Verborgenen bleiben, schuldig.

Dr. Christine Bergmann

Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs

(8)

VII

Vorwort

Opfer in aller Welt haben sich daran gewöhnt, sich in Geduld zu üben. Das ist für die Opfer sexueller Gewalt nicht anders. Für die Gesellschaft ist die Geduld der Opfer jedoch kein Freibrief zur Untätigkeit. Dies gilt umso mehr, wenn die Zeit des Schweigens bereits ein Viertel Jahrhundert überschritten hat. Die Verantwort- lichen der SED-Diktatur haben alles getan, ihr Land als „Staat der Jugend“ er- scheinen zu lassen, der sich rührend um das Wohl der Kinder sorgte. Verschwiegen wurden die Schattenseiten menschlichen Zusammenlebens, die in jeder Gesell- schaft auftreten. Vorwerfen kann man der SED-Diktatur nicht, dass es sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gab. Aktiv verhindert wurde aber die öffentliche Wahrnehmung des Missbrauchs durch die Apparate des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), von Justiz, Jugendhilfe und Volksbildung. Jeder auf- gedeckte Fall wurde von Maßnahmen begleitet, die verhinderten, dass eine in- formierte Öffentlichkeit sich der Probleme bewusst wurde. Es ist eine traurige Tatsache, dass jeder Missbrauch, der nicht aufgedeckt oder gar vertuscht wurde, dem Täter die Gelegenheit zu neuen Missbräuchen gegeben hat. Aufklärung und Aufarbeitung derartiger Taten sind also kein Luxus, den sich eine reiche und an ihrer Historie interessierte Gesellschaft leistet. Sie sind ein unverzichtbarer Bei- trag zur Prävention.

Die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs hat die Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) im November 2016 mit der Aufgabe betraut, erste Erkenntnisse über den Miss- brauch an Kindern und Jugendlichen in der DDR zusammenzutragen. Entstanden ist auftragsgemäß eine dreiteilige Studie. Christian Sachse (UOKG) beleuchtet an- hand von Dokumenten den historischen Kontext, die inoffi ziellen Zahlen und den

(9)

VIII Vorwort

Umgang des Staates mit dem sexuellen Missbrauch. Benjamin Baumgart (UOKG) erläutert die Besonderheiten in den Rechtstexten und Verfahren. Stefanie Knorr (Beratungsstelle Gegenwind) bezieht sich in ihrer Darstellung auf die pädagogi- schen und psychologischen Veröffentlichungen und Archivdaten und nimmt die Perspektive der Opfer und ihrer Familien in der damaligen und heutigen Zeit in den Blick. Hinzuzufügen ist: Ohne den Sachverstand von Sandra Czech bei den Archivrecherchen wäre das Ausgangsmaterial wesentlich knapper gewesen. Dank- bar sind wir den Mitarbeitern des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) und des Bundesarchivs für die engagierte Zuarbeit.

Die UOKG, deren Aufgabe in der Vertretung der Opfer in Politik und Öffentlich- keit besteht, begrüßt dieses Projekt als einen Beginn der Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs im Osten Deutschlands, der in den westlichen Bundesländern bereits viel weiter fortgeschritten ist. Vor allem im Namen der Opfer, die ihr Schicksal bis heute zu tragen haben, ist eine möglichst weitgehende Aufklärung geboten.

Nur so sind spezifi zierte Angebote zur Therapie und Lebenshilfe möglich, die den Betroffenen weiterhelfen. Unbedingt nötig ist nun eine umfassende Erforschung des sexuellen Missbrauchs unter den Rahmenbedingungen der sozialistischen Diktatur, mit der über die Täter hinaus auch Strukturen namhaft gemacht werden, die Missbrauch begünstigten und Aufklärung verhinderten.

Ich hoffe, dass die entstandene Arbeit eine gute Grundlage wird, Opfer sexuellen Missbrauchs aus der DDR in den Anhörungen besser zu verstehen, genauer rück- fragen zu können und so diesen Menschen das Gefühl zu geben, verstanden zu werden.

Dieter Dombrowski

Bundesvorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft

(10)

IX

Inhaltsverzeichnis

Grußwort . . . V Vorwort . . . VII

I Einleitung . . . 1

1 Sprachliche Besonderheiten . . . 3

2 Die genutzten Quellen . . . 5

II Historische Aspekte sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen in der DDR . . . 9

Christian Sachse 1 Perioden der DDR-Geschichte . . . 9

1.1 Vor der Gründung der DDR . . . 9

1.2 Der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“ . . . 10

1.3 Gegenläufi ge Tendenzen nach dem Mauerbau . . . 11

1.4 Honecker: Militarisierung und Liberalisierung als Doppelstrategie . . . 13

1.5 Die Phase des Niedergangs . . . 15

2 Soziale Schichten und Milieus . . . 16

2.1 Unterschicht . . . 18

2.2 Mittelschicht . . . 20

2.3 Oberschicht . . . 21

2.4 Die Macht der Apparate . . . 22

(11)

X Inhaltsverzeichnis

2.5 Auswirkungen auf die Gelegenheitsstrukturen . . . 22

3 Staatliche Autorität und organisierte Mikrokontrolle . . . 23

3.1 Das Netz der staatlichen Strukturen . . . 23

3.2 Organisierte soziale Mikrokontrolle . . . 27

3.3 Die Effi zienz des Kontrollsystem . . . 30

4 Öffentliche und gelebte Sexualmoral . . . 31

4.1 Koedukation und Sexualität . . . 32

4.2 Verschränkungen von Alltag und Ideologie . . . 36

4.3 Das doppelte Tabu einer doppelten Moral . . . 38

5 Herrschaft und Sexualität in Jugendwerkhöfen, Durchgangs- und Spezialheimen . . . 39

5.1 Die Spezialheime als „totale Institution“ . . . 40

5.2 Isolation . . . 43

5.3 Disziplin . . . 45

5.4 Kollektiv . . . 47

5.5 Level der Gewalt . . . 49

5.6 Auswirkungen auf Begehungsweisen sexuellen Missbrauchs . 50 6 Öffentliche und geheime Statistiken nach Dokumenten . . . 52

6.1 Sexueller Kindesmissbrauch (§ 148 StGB-DDR) . . . 53

6.2 Sexueller Missbrauch von Jugendlichen (§§ 149, 150 und 121, 122 StGB-DDR) . . . 69

6.3 Gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen mit Jugend- lichen (§ 151 StGB-DDR) . . . 75

7 Möglichkeiten und Fälle der Vertuschung . . . 79

7.1 Das unmittelbare soziale Umfeld . . . 79

7.2 Die Volksbildung . . . 80

7.3 Das „Ansehen der bewaffneten Organe“ (MfS, MdI) . . . 84

7.4 Eingriffe von Oben? . . . 90

7.5 Folgen der Vertuschung: weitere Opfer . . . 92

8 Charakteristiken von Tätern nach historischen Dokumenten . . . 93

8.1 Täterprofi le aus DDR-Sicht . . . 93

8.2 Strategien der Täter – Gelegenheitsstrukturen . . . 98

8.3 Präsentiertes Selbstbild der Täter . . . 101

8.4 Umerziehung oder Heilbehandlung?. . . 103

8.5 Täter im Spiegel von Beurteilungen . . . 105

8.6 „Operative Nutzung“ von Tätern durch das MfS . . . 110

9 Handlungsmöglichkeiten der Opfer nach Dokumenten . . . 112

9.1 Das vertrauensvolle Gespräch (Familie, Umfeld, Funktionsträger) . . . 113

(12)

XI Inhaltsverzeichnis

9.2 Die Anzeige . . . 115

9.3 Das Opfer im Ermittlungsverfahren . . . 116

10 Extremfälle . . . 119

10.1 Jugendwerkhof Rödern . . . 119

10.2 Jugendhaus Wriezen . . . 124

10.3 Jugendwerkhof Klaffenbach . . . 126

11 Die öffentliche Wahrnehmung heute . . . 126

12 Zusammenfassung . . . 129

III Juristische Hintergründe zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in der DDR . . . 133

Benjamin Baumgart 1 Einleitung . . . 133

2 Das sozialistische Strafrecht . . . 134

3 Gesetzlicher Hintergrund . . . 135

3.1 Gesetzliche Entwicklung . . . 135

3.2 Die einschlägigen Gesetzestexte . . . 136

4 Einblicke in die Verfahren . . . 156

4.1 Das Ermittlungsverfahren . . . 156

4.2 Aufbau der Gerichte . . . 158

4.3 Beispiel: Der Fall B. . . 162

4.4. Probleme der Strafverfolgung bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen aus Sicht der DDR- Generalstaats anwaltschaft. . . 165

5 Mögliche Entschädigungsleistungen . . . 170

6 Fazit . . . 171

IV Zum Umgang mit sexuellem Missbrauch in der DDR und dessen Folgen aus psychosozialer Sicht . . . 173

Stefanie Knorr 1 Überblick . . . 173

2 Das gesellschaftliche Erziehungsideal und seine konkreten Ausformungen . . . 174

2.1 Das Erziehungsziel im Sozialismus und die Umerziehung von Fehlverhalten . . . 174

2.2 Geschlechtererziehung und Sexualerziehung in der DDR . . . . 184

2.3 Exkurs zu den sozialen Kontexten sexuellen Missbrauchs nach Auswertung der Archiv-Akten . . . 192

(13)

XII Inhaltsverzeichnis

2.4 Der erzieherische Umgang mit den Tätern von sexuellem

Missbrauch . . . 193

2.5 Der Umgang mit den Opfern von sexuellem Missbrauch im Ermittlungs- und Strafverfahren . . . 198

3 Die Psychiatrisch-psychotherapeutische Auseinandersetzung mit sexuellem Missbrauch in der DDR . . . 205

3.1 Einführung in das Verständnis von Psychiatrie und Psycho therapie in der DDR . . . 205

3.2 Empirische Daten aus der psychotherapeutischen Arbeit in der DDR . . . 206

3.3 Schlussfolgerungen, Bezug zu weiteren Forschungs- ergebnissen und offene Fragen . . . 208

4 Institutionelle Gewalt, Gewalt in der Familie und im sozialen Nahraum . . . 212

4.1 Formen der Gewalt durch Heimerzieher am Beispiel eines Kinderheims . . . 212

4.2 Individuelle Bewältigungsstrategien im Kontext der Lebenswirklichkeit in der DDR . . . 219

4.3 Die sozialen und psychischen Auswirkungen auf die Be- troffenen und ihre Familien heute . . . 234

5 Resümee zum Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch in der DDR . . . 244

V Anhang . . . 247

1 Literatur . . . 247

2 Abbildungsverzeichnis . . . 252

3 Abkürzungen . . . 252

4 Die wichtigsten Gesetzestexte . . . 255

(14)

1

I

Einleitung

Die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen kann nicht auf die Seite der subjektiven Erinnerung beschränkt werden. Bestimmte Ausformungen des Schicksals des Opfers erklären sich erst, wenn man sie in den zeitgeschichtlichen Kontext einbettet. Der Bildungshistoriker Jens Brachmann hat im Dezember 2016 darauf hingewiesen: „Nicht nur der eigentliche Täter, sondern auch das systemische und ideologische Umfeld müssen für die Tatfolgen zur Verantwortung gezogen werden können. […] Für Mitwissende, Duldende, Leug- nerinnen oder Leugner – unbeachtet ihrer individuellen Motivlage für das Schwei- gen – gibt es keine neutralen Tätigkeitsfelder innerhalb des systemischen Zusam- menhangs. Alle diese sind nach dieser Bewertung Mittäterinnen oder Mittäter und tragen demzufolge Schuld.“1 Dies gilt mutatis mutandis auch für die Opfer und de- ren Schicksal. Wenn ein junges Mädchen wegen „Herumtreiberei“ in ein Spezial- heim eingewiesen wird und dort als „sowieso verdorben“ vom Personal, dass über alle Machtmittel verfügt, missbraucht wird, sind strukturelle Gründe namhaft zu machen. Wandte ein MfS-Vernehmer seine berufl ich erworbenen Fähigkeiten von der ersten „Kontaktierung“ über die Erfi ndung einer plausiblen „Legende“ bis hin zur Bedrohung an einem missbrauchten Kind an, dann wird persönliche Aufarbei- tung erst möglich, wenn diese professionelle und perfi de Strategie durchschaubar

1 Brachmann, Jens: Die Aufarbeitung pädosexueller Gewalt als zivilgesellschaftliche Aufgabe: Die DDR-Heimerziehung im Fokus der Arbeit der Unabhängigen Kommis- sion zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Vortrag auf der Tagung „Jahr- hundertkind“ Evangelische Hochschule Berlin, 10.12.2016 (Manuskript), S. 6.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 C. Sachse et al., Sexueller Missbrauch in der DDR, Sexuelle

Gewalt in Kindheit und Jugend: Forschung als Beitrag zur Aufarbeitung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20874-5_1

(15)

2 I Einleitung

gemacht wurde. Das Schweigen von Opfern in der Familie wird in seiner erdrü- ckenden Dimension erst erklärlich, wenn man die reale Bedrohung eines Gefäng- nisaufenthaltes unter DDR-Bedingungen in Rechnung stellt. Mit dieser ungewollt schweren Verantwortung waren Kinder überfordert. Schließlich erklärt erst die Machtfülle von staatlichen Vertretern in der DDR, wieso ein Täter, der sich als Vertreter der Jugendhilfe ausgibt, ungehindert eine Wohnung betreten und mit der Drohung einer Heimeinweisung ein Mädchen zu sexuellen Handlungen nötigen kann.

Um dieses – wie Brachmann es nennt – systemische Umfeld besser zu verste- hen und eventuell auch genauer abfragen zu können, werden im Folgenden einige Rahmenbedingungen geschildert, innerhalb derer sexueller Missbrauch stattfand.

Die als erstes beschriebenen Perioden der DDR-Geschichte sind weitestgehend bekannt und sollen eine erste Orientierungshilfe geben. Die Begehungsweise, Möglichkeiten der Vertuschung und andere Parameter der Tat hängen offenbar stark von der Schichtzugehörigkeit des Täters ab. Zu diesem Zweck wurde in An- lehnung an Michael Hofmann ein modifi ziertes Modell der sozialen Schichten in der DDR entwickelt, das sich deutlich vom Schichtenmodell der Bunderepublik unterscheidet.2 Zu beachten sind auch die besonderen Bedingungen, die durch die staatlich organisierte soziale Mikrokontrolle in der DDR entstanden sind. Sie hat sexuellen Missbrauch und dessen Beschweigen nicht unbedingt erschwert, hatte aber Auswirkungen, wenn die Tat auf einer bestimmten administrativen Ebe- ne bekannt wurde. Es folgen einige Anmerkungen zur öffentlichen und alltäg- lichen Sexualmoral in der DDR. Anschließend wird die heute kaum noch vor- stellbare Situation in den Spezialheimen dargestellt. Hier war die Verschränkung von sexuellem Missbrauch mit Gewalt besonders hoch und hat zu sehr speziellen Schadensbildern geführt. Die Analyse von Strukturen und Verhaltenstypen in der

„totalen Institution“ sollen einen tragfähigen Ansatz zur Aufarbeitung für diese Opfergruppe bieten.

An den aufgefundenen unveröffentlichten Statistiken zum sexuellen Miss- brauch können nunmehr erstmals Zahlen präsentiert werden, die über die in den statistischen Jahrbüchern weit hinausgehen. Die Statistiken ermöglichen einen Überblick, wie viele Anzeigen zu den einzelnen Straftaten jährlich eingegangen sind, wie hoch die Zahl der darauf folgenden Ermittlungen und schließlich Ver- urteilungen gewesen ist. Es zeigt sich, dass die Strafpolitik in der DDR Schwan- kungen unterworfen war.

2 http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-ein- heit/47261/soziale-strukturen?p=0 (Zugriff: 2.2.2017).

(16)

3 I Einleitung

Anhand der eingesehenen Akten der Justiz und der Staatssicherheit werden Einzelheiten deutlich, wie mit entdeckten Straftaten umgegangen wurde, ob es Vertuschungen gab und welche Handlungsmöglichkeiten den Opfern in ihren je- weiligen Situationen offen standen.

Insgesamt haben die Untersuchungen in den Archiven eine Unmenge Material zu Tage gefördert, deren Aufarbeitung die Wissenschaft über Jahre hinweg fordern wird.

1 Sprachliche Besonderheiten

Bei der sprachlichen Wiedergabe von Ergebnissen der DDR-Forschung gibt es eine bekannte Schwierigkeit. Bestimmte Begriffe gibt es außerhalb der DDR-Idio- matik nicht oder sie haben eine andere Bedeutung. Ein Versuch, die Bedeutung solcher Begriffe aus der Umgangssprache abzuleiten, führt oftmals in die Irre.

So gibt es den Begriff „bewaffnete Organe“ außerhalb der DDR nicht. Das heu- te mit vielfachen Bedeutungen aufgeladene Wort „Disziplin“ hatte in der DDR den Rang eines streng defi nierten philosophischen Fachbegriffs. Im Rahmen der Möglichkeiten dieser Untersuchung wird auf solche abweichenden Bedeutungen hingewiesen. Dort, wo es wichtig ist, sich diese speziellen Sinnzusammenhänge zu vergegenwärtigen, werden diese Begriffe in Anführungszeichen gesetzt.

Zitate aus der DDR-Zeit werden in der originalen Rechtschreibung, die in ei- nigen wenigen Details von der damaligen bundesdeutschen Rechtsschreibung ab- weicht, wiedergegeben. Marginale Fehler (z.B. Tippfehler) wurden stillschweigend korrigiert. In einigen Fällen, in denen eine fehlerhafte Rechtschreibung zum Ge- samtbild gehört, wurden buchstabengetreue Abschriften angefertigt. Irritierende Schreibweisen, die so aus dem Original übernommen worden sind, wurden mit dem üblichen „(sic)“ gekennzeichnet.

Für die Seitenangaben in den Fußnoten wurde, wenn möglich, die sekundäre Paginierung der Archive verwendet. Bei BStU-Dokumenten wird dies durch das Kürzel BStU vor der Seitenzahl angezeigt (S. BStU 225). War dies nicht möglich, wurde die originale Seitenzählung verwendet. Bei kleineren Dokumenten können Seitenangaben auch entfallen.

Für einzelnen Fassungen der Strafgesetzbücher gelten folgende Regeln: Das bundesdeutsche Strafgesetzbuch wurde mit StGB abgekürzt. Der Zusatz a.F. (alte Fassung), also StGB (a.F.), weist darauf hin, dass es sich um eine ältere Fassung des besprochenen Paragraphen handelt. Die Datierung wird angegeben. StGB-alt steht für die mit dem bundesdeutschen Strafgesetzbuch weitgehend identische Fassung des in der DDR bis 1968 gültigen Strafgesetzbuches. StGB-DDR ist die

(17)

4 I Einleitung

Abkürzung für das ab 1968 gültige Strafgesetzbuch. Spätere Modifi kationen wer- den mit Datum angegeben. Wenn sich durch mehrfachen Gebrauch hintereinander der Sinnzusammenhang intuitiv erschließt, wird wegen der besseren Lesbarkeit gelegentlich auf die Zusätze verzichtet.

Den Anforderungen an eine gendergerechte Sprache konnte n die Autorin und die Autoren nicht vollständig gerecht werden.3 Diese Besonderheit hat formale und inhaltliche Gründe. Der Umgang mit diesen Anforderungen wurde mit den Auf- traggebern ausführlich diskutiert.

Zu den formalen Gründen gehört, dass die historischen Texte aus der DDR sich grundsätzlich der männlichen Form bedienen. Wird nun die weibliche Form hinzugefügt, wird eine Information generiert, die dem Dokument so nicht zu ent- nehmen ist. Mit anderen Worten: Die Aussage des Dokumentes wird inadäquat wiedergegeben. Es folgt eine Erläuterung:

In einem Bericht eines Staatsanwaltes heißt es beispielsweise: „Die Täter stammten vorwiegend aus dem familiären Umfeld.“ In einer gendergerechten Sprache sollte jetzt paraphrasierend fortgesetzt werden, Täterinnen und Täter würden also ihrer familiären Verantwortung nicht gerecht. Eine solche Paraphra- se erweckt den Eindruck, das Dokument bezöge sich auf Frauen und Männer in gleicher Weise. Ob das so ist oder nicht, ist dem Dokument nicht zu entnehmen.

Vermutet werden kann, dass zumindest vorwiegend Männer als Täter gemeint sind. Es müsste also korrekt folgendermaßen paraphrasiert werden: Die Täter – und möglicherweise auch in die Untersuchung des Staatsanwaltes einbezogenen Täterinnen, das ist nicht bekannt – würden ihrer familiären Verantwortung also nicht gerecht. Möglich wäre auch ein geschlechtsneutraler Ersatz, etwa in An- lehnung an § 177 (1) StGB: Wer eine solche Tat beginge, würde also der fami- liären Verantwortung nicht gerecht. In diesem Fall ginge die vom Staatsanwalt intendierte Täter-Opfer-Relation verloren. Formulierungen dieser Art müssten mit hoher Regelmäßigkeit verwendet werden.

Auch inhaltliche Gründe sprechen gegen eine formalisierte Nennung beider Geschlechter. Die elektronische Statistik von 1980 bis 1986 über Straftaten in der DDR weist in einigen Bereichen Täterinnen gesondert aus. Hier zeigt sich, dass im Bereich des sexuellen Missbrauchs ein Verhältnis von Täterin zu Täter von 1:100 bis 1:1.000 vorliegt, das heißt auf eine Täterin kommen 100 bis 1.000 Täter.4 Eine Parallelisierung der Formulierungen würde den Eindruck erzeugen, es handelte

3 Vgl. http://www.frauenbeauftragte.uni-muenchen.de/genderkompetenz/sprache/index.

html

4 BArch DP1/8655 ff.

(18)

5 I Einleitung

sich bei Kindesmissbrauch um ein Phänomen, an dem Frauen wie Männer glei- chermaßen beteiligt sind.

In der Regel wurde also auf eine genderkonforme Sprache verzichtet. Dies gilt insbesondere dort, wo unmittelbar im Anschluss an DDR-Zitate paraphrasiert oder kommentiert wird.

2 Die genutzten Quellen

Im Rahmen des viermonatigen Projektes konnten aus den Archiven nur Stich- proben en tnommen werden. In Anspruch genommen wurden das Bundesarchiv und das Archiv des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Auf diese Weise konnten sowohl polizeiliche Ermittlungen, die Urteile von Kreisgerichten und be- sondere Fälle, welche die Staatssicherheit an sich gezogen hat, ausgewertet wer- den. Insgesamt wurden ca. 250 Akten gesichtet, von denen aber nicht alle in die Expertise eingegangen sind. Nach Möglichkeit wurden Akten ausgewählt, die für verschiedene Perioden der Geschichte der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR ab 1946 bis 1989 stehen. Trotz der relativ hohen Zahl der Akten bleibt fest- zuhalten, dass einzelne Themenfelder nur punktuell bearbeitet werden konnten.

Die BStU legte eine ca. 80-seitige Liste in Schriftgröße 9 mit Aktentiteln vor, die untersucht werden könnten. Hinzu kommen die Ergebnisse einer weiteren Recher- che im Umfang von ca. 5.000 Seiten.5 Daraus wurden 150 Signaturen mit durch- schnittlich drei Bänden stichprobenartig ausgewählt. Nicht alle untersuchten Vor- gänge sind explizit in die Untersuchung eingegangen. Die Stichproben sollten einen Überblick über verschiedene Tätergruppen und den Umgang der Staatssicherheit in den Ermittlungsverfahren mit ihnen ermöglichen. Ausgewählt wurden daher als Täter: Mitarbeiter der Staatssicherheit, der Nationalen Volksarmee, Parteifunktio- näre und Intensivtäter ohne staatliche Funktion. Untersucht wurden hier Besonder- heiten im Verfahren wie informelle Voruntersuchungen, Vertuschungen, die Urteile und ihre Begründungen sowie Strafaussetzungen auf Bewährung.

Im Bundesarchiv lag ein Schwerpunkt auf der unveröffentlichten Statistik. In diesem Bereich sind zwei umfassende Datensammlungen gefunden worden, die ein wesentlich differenzierteres Bild erlauben als die Analyse der öffentlichen Daten. Untersucht wurden weiterhin Vorgänge aus dem Bereich der Justiz. Aus- gewählt wurden zentrale Ermittlungs-, Berufungs- und Kassationsverfahren beim Generalstaatsanwalt der DDR. Diese Vorgänge sind gut geeignet für eine schnelle Analyse, da sie Urteile von niederen Gerichten auf ihre Bewertungsmaßstäbe und 5 BStU Recherche-Sammlung Az. 010976/10Z.

(19)

6 I Einleitung

mögliche Fehler hin untersuchen. Hier sind etwa 100 Akten ausgewählt worden.

Hinzugezogen wurden zusammenfassende Analysen des Generalstaatsanwaltes zu Urteilen über sexuellen Kindesmissbrauch sowie rechtspolitische Aussagen zur Verfolgung derartiger Verbrechen durch das Oberste Gericht der DDR. Die beiden letzten Archivbestände zu untersuchen, erwies sich deshalb als nötig, weil es in der DDR keinen öffentlichen Diskurs über die Rechtsprechung in diesem Feld gab. Für das gesamte Strafgesetzbuch der DDR gab es nur einen einzigen schmalen, zwei- bändigen Kommentar, der zwischen 1968 und 1990 kaum verändert worden ist.

Insofern war es wichtig, die interne Entwicklung der Rechtsprechung wenigstens ansatzweise in die Beurteilung aufzunehmen. Urteile der Kreisgerichte wurden ebenso nur stichprobenartig ausgewählt. Sie ermöglichten einen Einblick in die Strafpraxis der zivilen Gerichte im Unterschied zu den Militärgerichten, die Ange- hörige der „bewaffneten Organe“ einschließlich MfS aburteilten. Ergänzend wur- den interne Ermittlungsakten des Ministeriums des Innern hinzugezogen. Wenn beispielsweise die Täter Angehörige der Volkspolizei waren, zog eine spezielle Abteilung des Ministeriums des Innern (MdI) die Ermittlungen an sich. Auch hier wurde das Augenmerk auf Besonderheiten im Verfahren gelegt. Die Durchsicht der Hinterlassenschaften des Ministeriums für Volksbildung einschließlich Ju- gendhilfe und Heimerziehung konnte nur punktuell erfolgen. Da die Aktentitel selten Verweise auf sexuellen Missbrauch enthalten, obwohl in den Akten derarti- ge Vorgänge zu fi nden sind, hätte man eine zu große Zahl an potenziellen Quel- len durchsehen müssen. Diese relativ aufwändigen Recherchen waren in der vor- gegebenen Zeit und dem vorgegebenen Finanzrahmen nicht zu leisten. Dennoch konnten einige Fälle gefunden werden, die begründete Aussagen über den Umgang der Volkbildung mit sexuellem Missbrauch erlauben. Eingesehen und ausgewertet wurden weiterhin Akten aus dem Ministerium für Gesundheitswesen, die über die Entwicklung der Ehe- und Sexualberatung in der DDR Aufschluss geben.

In einigen Fällen ist es gelungen, Fälle und Vorgänge aus dem Bundesarchiv und aus dem BStU-Archiv aufeinander zu beziehen, so dass beide Sichten sich ergänzen.

Ältere westliche oder neuere Forschungsliteratur zur DDR, die substanziell Weiterführendes berichtet, wurde nicht gefunden. Aufgenommen wurden Quel- lenangaben und Darstellungen aus der Fachliteratur über die DDR-Heime (Heim- expertise6, Untersuchungen von Sachse7). Als hilfreich erwies sich die Unter-

6 Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR. Expertisen. Hrsg.: Beauftragter der Bundesregierung für die Neuen Bundesländer, Berlin März 2012.

7 Sachse, Christian: Der letzte Schliff. Jugendhilfe der DDR im Dienst der Diszipli- nierung von Kindern und Jugendlichen (1949-1989). Hrsg.: Die Landesbeauftragte

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7 I Einleitung

suchung von Elz und Fröhlich, die Hinweise auf zwei DDR-eigene Befragungen enthielt.8 Die Rohdaten der DDR-eigenen Befragungen konnte nicht ausfi ndig gemacht werden, dafür aber eine Präsentation der wesentlichen Ergebnisse.9 Die Rohdaten der Befragung durch Fikentscher et al. wurden durch die Autorin selbst vernichtet, da sie nicht mehr an ihre Verwertung glauben mochte.10

An Literatur aus der DDR wurden die einschlägigen Kommentare zum Strafge- setzbuch hinzugezogen. Einige Zahlen und Bewertungen wurden nach kritischer Bewertung aus einem Fachbuch des Staatsverlages der DDR übernommen.11 Ein- zelne weitere Zitate sind in den Fußnoten nachgewiesen.

Die wichtigsten Gesetzestexte sind am Ende dieses Buches abgedruckt.

für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Schwerin 2011.

Sachse, Christian: Ziel Umerziehung. Spezialheime der DDR-Jugendhilfe 1945-1989 in Sachsen. Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2013.

8 Elz, Jutta; Fröhlich, Almut: Sexualstraftäter in der DDR. Wiesbaden 2002.

9 Fikentscher, Erdmuthe et al.: Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen unter Berücksichtigung latenter Kriminalität. In: Kriminalistik und forensische Wissen- schaften Heft 33/1978, S. 67-82.

10 Telefongespräch mit Erdmuthe Fikentscher am 15. August 2017.

11 Friebel, Wilfried; Manecke, Kurt; Orschekowski, Walter: Gewalt- und Sexualkrimi- nalität. Erscheinungsformen, Ursachen, Bekämpfung. Staatsverlag der DDR, Berlin 1970.

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9

II

Historische Aspekte sexuellen Missbrauchs von Kindern

und Jugendlichen in der DDR

Christian Sachse

1 Perioden der DDR-Geschichte

Die Periodisierung der DDR-Geschichte orientiert sich auch heute noch der Selbst- darstellung der DDR folgend an abgeschlossenen Etappen des „sozialistischen Aufbaus“. Dieser Blickwinkel verkennt aber den höchst gewaltförmigen Charakter dieses Prozesses, der von vielen Menschen (Bauern, Handwerker, Intellektuelle) nicht als Fortschritt, sondern als Verlust von Freiheit registriert wurde. Aus diesem Grund werden für die folgende Periodisierung die Wellen der Umstrukturierungen und dazugehörigen Repressionen in den Fokus genommen. Am Ende jedes Ab- schnittes werden die vermutlichen Auswirkungen der gesellschaftlichen Verände- rungen auf den sexuellen Kindesmissbrauch benannt.

1.1 Vor der Gründung der DDR

Die Vorgeschichte der DDR ist geprägt von der abnehmenden gesamtdeutschen Option Stalins. Sie reicht von 1945 bis 1952 (Stalin-Note), kann aber im Kern auf die Zeit zwischen 1945 und 1949 begrenzt werden. Diese Periode war geprägt von vielfältigen Unsicherheiten. Die Nachkriegskriminalität war enorm. Wanderungs- bewegungen der Vertriebenen prägten noch über einige Jahre die Wohnsituation.

Der Wiederaufbau geriet mehrfach durch tiefe Eingriffe in die Wirtschaft (Bo- denreform, Enteignungen) und Verwaltungsstrukturen ins Stocken. Hoffnungen auf die Errichtung demokratischer Verhältnisse, welche vor allem die jüngere

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 C. Sachse et al., Sexueller Missbrauch in der DDR, Sexuelle

Gewalt in Kindheit und Jugend: Forschung als Beitrag zur Aufarbeitung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20874-5_2

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10 Christian Sachse

Generation prägten, wurden sukzessive zerstört. Auf demokratische Initiativen reagierte die sowjetische Besatzungsmacht mit drakonischen Mitteln. Die oft für diese Phase beschworene „Euphorie des Aufbaus“ teilte nur der relativ kleine Teil der Bevölkerung, der unverhofft erhebliche Aufstiegschancen erhielt (z.B. Neu- lehrer, Parteifunktionäre, Volksrichter, Jugendfunktionäre). Die von der Propa- ganda gezielt verbreitete Mär von der allgemeinen Aufbaustimmung hat die Deu- tungshoheit bis heute nicht verloren. Wie sich unter diesen Bedingungen sexueller Missbrauch von Kindern gestaltete, war den untersuchten Dokumenten nicht zu entnehmen. Hierzu bedarf es eines spezifi zierten Forschungsansatzes.

1.2 Der „planmäßige Aufbau des Sozialismus“

Mit der 2. Parteikonferenz im Jahr 1952 wurde eine grundlegende Umstrukturie- rung der überkommenen Gesellschaft eingeleitet. Die ideologische Komponente führte zur Verkündung einer neuen – sozialistischen – Moral, die sich entspre- chend der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung automatisch durchsetzen würde (Spontanitätsthese). Das Feindbild „Imperialismus“ mit seiner „propagier- ten Kriminal- und Sexualmoral“ (Zitat) sollte die „sozialistische Moral“ gegen alle Wünsche nach Veränderung, Liberalisierung und Pluralisierung schützen. Die ideologischen Inhalte stützten die folgenden politischen und wirtschaftlichen Um- strukturierungen, die – so würde man heute sagen – ein „Durchregieren“ von der Zentrale bis in das kleinste Dorf ermöglichen sollten.

Die Verwaltungsreform von 1952 etablierte neue, zentralistische staatliche Strukturen. Die Länder mit ihrer relativen Eigenständigkeit wurden abgeschafft und durch administrative Zwischenebenen ohne wesentliche Entscheidungsbefug- nis (Bezirke) ersetzt. Polizei, Strafvollzug und weitere Machtmittel wurden im Ministerium des Innern konzentriert. Die damit verbundene „innere Militarisie- rung“ der staatlichen Strukturen wiederholte sich in den Jugendorganisationen, der SED und paramilitärischen Verbänden. In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Amtsbezeichnungen sowohl beim MfS als auch bei der Volkspolizei den militärischen Dienstgraden nachempfunden waren. Mehrere Wellen der Zwangskollektivierung und Verstaatlichung des privaten Mittelstandes (Handel, Handwerker) erschütterten die Wirtschaft nachhaltig. Das Ministerium für Volksbildung erhielt fast unumschränkte Vollmachten zur Erziehung der Ju- gend. Schulen in freier Trägerschaft wurden bis auf Einzelfälle der Volksbildung angegliedert und damit faktisch aufgelöst. Ebenso erging es Kinderheimen in pri- vater oder kommunaler Trägerschaft. Damit wechselte auch das Konzept der Hei- me von der sozialen Fürsorge zur Erziehung. Heimeinweisungen wurden nun auf

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11 II Historische Aspekte sexuellen Missbrauchs von Kindern …

der Basis von Verwaltungsentscheidungen vorgenommen. Unabhängige Familien- gerichte waren damit in diesem Feld obsolet. Das noch in Kraft befi ndliche Bür- gerliche Gesetzbuch war in vielen Fällen nicht mehr anwendbar. Damit entstand eine lange Phase rechtlicher Willkür. Das Strafgesetzbuch, das ebenfalls weiter in Kraft blieb, konnte viele neue Straftatbestände gegen die sozialistischen Ver- hältnisse nicht abbilden. Auch hier kam es zu erheblichen rechtlichen Unsicher- heiten. Mit dem Gesetz zur Ergänzung des Strafrechtes konnte ab 1957 jeglicher Widerstand gegen die Diktatur mit hohen Haftstrafen belegt werden. Nur geringe Auswirkungen hatte das vom XX. Parteitag der sowjetischen kommunistischen Partei ausgehende „Tauwetter“, das offenere Diskussionen und Meinungsvielfalt versprach. In dieser Zeit wurden an den Universitäten die Gremien demokratischer Mitbestimmung abgeschafft und erstmals die Wehrerziehung von Studenten ein- geführt. Verstärkt wurde das bedrückende allgemeine Klima durch eine regelrech- te Wanderungsbewegung über die noch offene Grenze. Mit 2,7 Millionen Flücht- lingen zwischen 1949 und 1961 verlor die DDR 15 Prozent ihrer Bevölkerung.12

Sucht man in diesem politischen Umfeld begünstigende Bedingungen für se- xuellen Missbrauch, so lässt sich vermuten, dass Täter, die mit den Unwägbar- keiten der neu entstandenen Macht ausgestattet waren, auf einen schnellen Erfolg hoffen konnten. Die Strafverfolgungsbehörden waren zu einem hohen Anteil mit politischer Verfolgung oder der Absicherung der Umstrukturierung beschäftigt, so dass ein geringeres Interesse an diesen Delikten zu vermuten ist. In Rechnung zu stellen sind auch die massiven sozialen Verwerfungen, die der Aufl ösung des Mittelstandes und dem Austausch der politischen Eliten folgten. Kurz: man kann hier mit den Wirren einer Übergangszeit rechnen. Bis zum Mauerbau bot auch Berlin ein günstiges Umfeld für Straftaten. Da nicht nur die Stadt, sondern auch die Polizei geteilt war, konnten Straftäter sich relativ leicht einer Verfolgung ent- ziehen.

1.3 Gegenläufi ge Tendenzen nach dem Mauerbau

Sieht man einmal von den Repressionen im zeitlichen Umfeld des Mauerbaus 1961 ab, dann nahm die Umstrukturierung der Gesellschaft in den 1960er Jahren syste-

12 Monatsmeldungen des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegs- geschädigte; Jürgen Rühle/Gunter Holzweißig, Der 13. August. Die Mauer von Ber- lin, 3. Aufl., Köln 1988, S. 154. Zitiert aus: http://www.chronik-der-mauer.de/mate- rial/178761/fluchtbewegung-aus-der-ddr-und-dem-ostsektor-von-berlin-1949-1961 (Zugriff: 18.2.2017).

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12 Christian Sachse

matischeren Charakter an. Die erste Hälfte der 1960er Jahre gestaltete sich dabei deutlich liberaler als die zweite, weswegen man von zwei Perioden (1961 bis 1965, 1965-1972) sprechen sollte.

Zunächst einige Anmerkungen zur ersten Hälfte der 1960er Jahre: In der Kul- tur- und Jugendpolitik wurden nach 1961 einige Ventile geöffnet. Jugendmusikkul- turen konnten sich teilweise sogar staatlicher Unterstützung erfreuen. Die parami- litärische Gesellschaft für Sport und Technik war angehalten, technische Hobbies zu pfl egen. In den Jugendklubs der Freien Deutschen Jugend (FDJ) wurde über Selbstbestimmung diskutiert. Es entstanden Filme und Romane, die sich immer- hin ansatzweise mit dem vorfi ndlichen Sozialismus kritisch beschäftigten (Das Kaninchen bin ich, Spur der Steine, Der geteilte Himmel). Die DEFA berichtete auch zum ersten – und einzigen? – Mal über den Strafvollzug in der DDR. Auch die Zahl der Strafgefangenen ging in dieser Zeit leicht zurück. Mit dem Rechts- pfl egeerlass wurden die schlimmsten juristischen Verfolgungsmaßnahmen abge- mildert. Auch der straffe zentrale Dirigismus der Wirtschaft wurde von einem erhöhten Selbstbestimmungsrecht der Betriebe abgelöst. Es wurden Gesetzes- werke geschaffen (z.B. Familiengesetzbuch, Volksbildungsgesetz), welche die re- pressiven Strukturen zwar festschrieben, damit aber auch kalkulierbarer machten.

Das neue Strafgesetzbuch wird erst 1968 folgen.

In dieser Phase entdeckte die SED-Führung eine neue Bedrohung in den west- lich orientierten Jugendmusikkulturen, die sich auch in einer freizügigen Sexuali- tät äußerten.13 Diese Form der Sexualität verunsicherte zu dieser Zeit auch den Westen, der diese Kultur allerdings relativ schnell integrierte. Im Osten wurde diese Kultur als langfristige Bedrohung der politischen Stabilität betrachtet und (absichtsvoll?) mit sexuellem Missbrauch in Zusammenhang gebracht.14 Die Zu- sammenhänge müssen erst geklärt werden, doch stieg tatsächlich die Zahl der An- zeigen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs zwischen 1960 und 1964 dramatisch (Vgl. Grafi k auf S. 55). Mit ziemlicher Sicherheit sind die Jugendmusikkulturen nicht für einen Anstieg des sexuellen Missbrauchs verantwortlich zu machen. Eher ist zu vermuten, dass zu dieser Zeit Anzeigen in dieser Richtung ernster genom- men wurden. Auch hier fehlt noch das konkrete Wissen. Die Ausbreitung der west- lich orientierten Jugendmusikkulturen in der DDR wurde zum Anlass genommen, die liberale Jugendpolitik wieder zurückzunehmen.

13 Ein Beispiel unter vielen: Konzeption zur politischen Arbeit mit labilen und gefähr- deten Jugendlichen (Beschluss des Zentralrats der FDJ vom 9. Januar 1969). In: BArch DC 4/789.

14 Einige Probleme und Beispiele zu Sexualdelikten (Gruppendelikten) [o.D., Oktober 1965]. BArch DY 24/21028.

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13 II Historische Aspekte sexuellen Missbrauchs von Kindern …

Der Sturz des sowjetischen Führers Nikita Chruschtschows im Oktober 1964 läutete die Rückkehr zur Ideologie und streng hierarchischen Strukturen ein. For- mal wurde dieser Schwenk der politischen Linie in der DDR mit dem sogenannten

„Kahlschlag-Plenum“ im Dezember 1965 durch die SED-Spitze vollzogen. Ab 1966 nahm die Zahl der Strafgefangenen wieder zu (1966: 21.000/ 1974: 31.000).

Die Jugendwerkhöfe waren überfüllt. Das repressive Mittel der Arbeitserziehung in Arbeitserziehungskommandos wurde verstärkt eingesetzt. Ab 1967 wurden die ersten Zwangselemente der Wehrerziehung an Schulen, Fach- und Hochschulen eingeführt. Die westlich orientierten Jugendmusikkulturen wurden verboten, deren Bands zum Teil inhaftiert, jugendlicher Widerstand (Leipziger Beataufstand) massiv unterdrückt und mit Arbeitslager bestraft. Die Zahl der Insassen von Arbeitslagern wird von 2.400 (1966) auf 12.100 (1974) ansteigen. Im Jahr 1974 wird mit 350 Straf- gefangenen einschließlich Arbeitserziehung auf 100.000 Einwohner der höchste Gefangenenstand seit 1953 erreicht sein. Zum Vergleich: Die Bundesrepublik hatte zu diesem Zeitpunkt einen Gefangenenstand von 80 auf 100.000 Einwohner.

Die massive Disziplinierung der Jugend wirkte sich – trotz gegenteiliger Be- teuerungen – nicht auf die Zahl der sexuellen Straftaten aus. Möglicherweise erga- ben sich auch neue Gelegenheitsstrukturen im institutionellen Bereich. Schule und Massenorganisationen nahmen zunehmend die Freizeit von Kindern und Jugend- lichen in Beschlag. Deren Lebensschwerpunkte verlagerten sich von Familie, der

„Straße“, von privaten Zusammenkünften zunehmend in die „gelenkte Freizeit“

in Schule und Massenorganisationen. Dies dürfte die Gelegenheitsstrukturen für Täter verändert haben. Zahlen liegen hierüber nicht vor. Es gibt einige Hinweise, dass mögliche Veränderungen in der Täterstruktur verwischt wurden (Siehe Ab- schnitt über Vertuschung S. 84). Ob und inwieweit die in diesen Jahren installierte gesellschaftliche und staatliche Mikrokontrolle sich auf die Zahl der Missbräuche ausgewirkt hat, wird weiter unten beschrieben (Vgl. Abschnitt Organisierte soziale Mikrokontrolle ab S. 27).

1.4 Honecker: Militarisierung und Liberalisierung als Doppelstrategie

Betrachtet man die Zahl der Strafgefangenen und Insassen15 von Spezialheimen, die Militarisierung der Volksbildung (Einführung der Wehrerziehung für alle

15 Die in Spezialheime eingewiesenen Minderjährigen werden im Folgenden als Insassen bezeichnet. Damit soll der gefängnisartige Charakter dieser Heimform ins Gedächtnis gerufen werden.

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14 Christian Sachse

Lehrlinge und Studenten) zu Anfang der 1970er Jahre, dann ist von der oftmals diagnostizierten Liberalisierung der DDR zu Beginn der Honecker-Ära wenig zu spüren. Dass es sich dabei um einen Propagandafeldzug handelt, belegt die mas- sive Repressionswelle gegen unbotmäßige Jugendliche im Umfeld der Weltfest- spiele der Jugend und Studenten 1973, die der Weltöffentlichkeit ein weltoffenes und überaus tolerantes Land präsentierte. Der neue politische Kurs Honeckers, der der Bevölkerung mehr Wohlstand versprach, wurde über Schulden im Ausland realisiert und führte in die Schuldenfalle der 1980er Jahre.

Seit 1973 nahm die Zahl der Anzeigen wegen sexuellen Kindesmissbrauchs kontinuierlich ab. Dies könnte eine Folge der installierten Mikrokontrolle ge- wesen sein. Andererseits könnte es auch sein, dass die verschärfte Strafverfol- gung in anderen Bereichen, die zu einem Anstieg der Zahl der Strafgefangenen bis 1975 führte, die Kräfte der Strafverfolgungsbehörden in anderen Bereichen gebunden haben. Erklärungsbedürftig bleibt das im Jahr 1970 diagnostizierte dramatische Ansteigen „latenter Kriminalität“ (in der DDR oft für Dunkelziffer gebraucht) im Bereich des sexuellen Missbrauchs. (Vgl. S. 56) Die naheliegende Vermutung, dass die Mikrokontrolle Täter zu mehr Vorsicht motivierte oder auch zu einer schnelleren Aufdeckung der Straftaten führte, ließ sich an den Untersu- chungen nicht bestätigen.

Eine gewisse Lockerung trat innenpolitisch für kurze Zeit mit der Unterzeich- nung der Schlussakte von Helsinki ein. Die Gefangenenquote reduzierte sich von 300 Strafgefangenen pro 100.000 Einwohner (1976) auf 200. Im Jahr 1988 wird die DDR die einmalig niedrige Quote von 100 erreichen, womit sie fast auf bun- desdeutschem Niveau ankam. Diese Reduzierung war dem internationalen An- sehen der DDR geschuldet. Die DDR hatte sich seit Helsinki völkerrechtlich zur Einhaltung von Menschenrechten verpfl ichtet. Westliche Kredite hingen davon ab.

Da die DDR zu Anfang der 1980er Jahre überschuldet war, wurde die Beschaffung von Krediten immer schwieriger. Im Jahr 1983 „verkaufte“ die DDR sogar Grenz- schutzanlagen gegen den von Franz Josef Strauß vermittelten Milliardenkredit.

Ausgelöst durch die Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermann und die Selbstverbrennung des Pfarrers Brüsewitz im Jahr 1976 wuchsen etwa seit 1978 die damals bereits bestehenden Protestgruppen zur Friedens-, Umwelt- und Bür- gerrechtsbewegung zusammen. Obwohl die Staatssicherheit in dieser Zeit per- sonell und technisch massiv aufgestockt wurde, konnten diese Bewegungen nicht mehr „zurückgedrängt“ werden. Der Staat reagierte zwar mit einigen spektaku- lären Verhaftungswellen, konnte die Bewegungen aber nicht mehr in der Breite stoppen. Eine weitere Bewegung, die der damals so genannten „Ausreisewilligen“

oder „Antragsteller“ sollte zunächst mit unnachgiebiger Härte (Verhaftungen) zer- schlagen werden. Als diese Strategie ins Leere lief, verlegte sich der Staat auf

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15 II Historische Aspekte sexuellen Missbrauchs von Kindern …

weniger spektakuläre Methoden wie Berufsverbote, Diskriminierung der Kinder in der Schule, Versuche der Kriminalisierung auf anderen Gebieten.

In der Zeit nach der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im August 1975, mit der sich die DDR zur Einhaltung gewisser Mindeststandards an Men- schenrechten verpfl ichtete, gab es Bestrebungen, staatliches Handeln weniger willkürlich erscheinen zu lassen. Dies hatte – soweit an den untersuchten Verfah- ren erkennbar – Auswirkungen auf die Verfahren gegen die Täter sexuellen Kin- desmissbrauchs, die damit „rechtsförmiger“ wurden, d.h. Verfahrensvorschriften wurden seitdem genauer eingehalten. Veränderungen in den Gelegenheitsstruk- turen für die Täter ergaben sich bis zum Ende der DDR nicht mehr.

1.5 Die Phase des Niedergangs

Spätestens ab 1983 machte sich ein wirtschaftlicher Niedergang bemerkbar.

Deutlich wurde dies zunächst in der Industrie und der Infrastruktur. Investitionen blieben aus, das Straßen- und Schienennetz verrotteten. Auf ein Telefon oder Auto musste man bis zu 15 Jahre warten. Da es zu wenige Waren zum Konsumieren gab, entwickelte sich ein immenser Bargeldüberhang bei der Bevölkerung, der nicht mehr abzuschöpfen war.

Der letzte Versuch, die alten Machtverhältnisse wieder herzustellen, fand im November 1987 statt. Mit einem Rundumschlag wurden die führenden Köpfe der Oppositionsbewegung verhaftet. Da die Bürgerbewegungen jedoch dezentral vernetzt waren, misslang der „Enthauptungsschlag“. Die nachfolgende Protest- welle erreichte, dass alle Verhafteten entlassen wurden. Dennoch wurde das Jahr 1988 zum „bleiernen Jahr“. Große Protestaktionen gab es nicht. Man wartete auf den Rücktritt Honeckers. Im beginnenden Jahr 1989 formierte sich die Protest- bewegung zunächst um das von der Kirche einberufene Konzil für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. Der nachgewiesene Wahlbetrug und das Massaker in China an Studenten auf dem Pekinger Tiananmen-Platz trieben die Proteste wieder in die Öffentlichkeit. Die Staatsmacht hatte dem allerdings nicht mehr viel entgegenzusetzen. Selbst in der Armee und bei den Kampfgruppen gab es bereits Aufl ösungserscheinungen. Demonstrationen in Leipzig und die Beset- zung der Prager Botschaft lösten schließlich die friedliche Revolution aus.

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