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Bestimmung des zuständigen EU-Mitgliedstaats nach der Dublin III-VO bei Familienangehörigen - Keine systemischen Mängel in Lettland

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VG Augsburg, Urteil v. 17.01.2018 – Au 6 K 17.50304 Titel:

Bestimmung des zuständigen EU-Mitgliedstaats nach der Dublin III-VO bei Familienangehörigen - Keine systemischen Mängel in Lettland

Normenketten:

AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7

Dublin III-VO Art. 7 Abs. 2, Abs. 8, Art. 10, Art. 12 Abs. 4 AsylG § 34a Abs. 1 S. 1

Leitsätze:

1. Art. 10 Dublin III-VO soll seinem Schutzzweck nach verhindern, dass Familien getrennt bleiben, weil für die einzelnen Familienmitglieder unterschiedliche Mitgliedsstaaten zuständig sind. Dagegen soll er es Antragstellern bei einer gestaffelten Einreise nicht ermöglichen, sich jeweils auf den Aufenthalt eines Familienangehörigen in einem für diesen unzuständigen Mitgliedsstaat zu berufen und so dessen Zuständigkeit herbeizuführen, obwohl für alle Familienmitglieder der Mitgliedsstaat nicht zuständig wäre. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

2. Im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung ist nicht davon auszugehen, dass ein Asylbewerber in Lettland aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der

Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. OVG Saarlouis BeckRS 2017, 110270). (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)

3. Die Frage, ob die Anforderungen, die das Bundesverfassungsgericht bei einer Abschiebung in die Türkei stellt, von den lettischen Behörden beachtet werden, bedarf keiner näheren Aufklärung, da nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung die Vermutung gilt, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen EU-Mitgliedstaat den Vorschriften der Genfer

Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der EU- Grundrechtecharta entspricht. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

4. Es ist nicht ersichtlich, dass eine chronische Wundheilungsstörung an beiden Beinen des Asylbewerbers, verschlechtert durch einen Diabetes mellitus, ein diabetisches Fußsyndrom mit Osteomyelitis, eine reaktive Depression und eine arterielle Hypertonie, eine Partialruptur der Supraspinatus-Sehne links sowie eine Fehlstellung des linken Beines, eine Abschiebung nach Lettland ohne Weiteres unmöglich machen. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)

Schlagworte:

Asylantrag, Zuständigkeit Lettlands, inlandsbezogenes Abschiebungsverbot, türkischer Staatsangehöriger, körperliche Behinderung, Grundsatz der Familieneinheit, Flüchtlingseigenschaft, humanitäre Lage in Lettland, Prinzip der normativen Vergewisserung, systemische Mängel

Rechtsmittelinstanz:

VGH München, Urteil vom 24.04.2018 – 9 ZB 18.50026 Fundstelle:

BeckRS 2018, 8606  

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.

II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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1

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste mit einem vom 8. Juli 2017 bis 1. August 2017 gültigen Schengen-Visum, ausgestellt von der Republik Lettland (Blatt 55 der Bundesamtsakte), am 14. Juli 2017 aus der Türkei kommend in die Republik Lettland ein. Von dort reiste er zwei Tage später nach Deutschland weiter und beantragte am 10. August 2017 in der Bundesrepublik Deutschland Asyl.

2

Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zur Zulässigkeit des Asylantrags gem. § 29 Abs. 1 AsylG am 4. September 2017 gab der Kläger an, wegen seiner Fußleiden einen türkischen Behindertenausweis zu haben. Er habe Diabetes und nehme hierfür das Medikament Glukofen 1000, er leide an Bluthochdruck und habe Herzrhythmusstörungen. Vor zehn Jahren sei er am Herzen operiert worden, vor drei Jahren habe er einen Herzinfarkt gehabt. In Deutschland sei er deswegen bisher nicht in Behandlung.

3

Das Bundesamt richtete am 5. September 2017 ein Übernahmeersuchen für den Kläger an Lettland, welches am 2. Oktober 2017 angenommen wurde.

4

Die Ehefrau und zwei minderjährige Töchter des Klägers reisten mit von den lettischen Behörden am 30.

August 2017 ausgestellten, vom 4. September 2017 bis 30. September 2017 gültigen Visa am 12.

September 2017 nach Lettland und anschließend nach Deutschland weiter, wo sie am 6. Oktober 2017 Asyl beantragten.

5

Am 18. September 2017 legte der Kläger dem Bundesamt Kopien einer MR-Untersuchung, eines

Radiologieberichts, eines Echokardiografieberichts, Angaben zur Behinderung sowie eine Krankenakte der Aufnahmeeinrichtung vor.

6

Mit Bescheid vom 4. Oktober 2017, am 9. Oktober 2017 durch Aushändigung in der Aufnahmeeinrichtung dem Kläger zugestellt, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Lettland an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, da Lettland aufgrund erteilten Visums gem. Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Lettland würden nicht zu der Annahme führen, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art.

3 EMRK oder des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta vorliege. Systemische Mängel seien nicht gegeben. Der pauschale Vortrag guter Beziehungen Lettlands zur Türkei reiche hierfür nicht aus. Hinsichtlich einer drohenden Entdeckung durch seine Verfolger in Lettland sei er auf den Schutz durch die lettische Polizei zu verweisen. Etwaige medizinische Behandlungen könnten auch in Lettland durchgeführt werden. In allen Mitgliedsstaaten der Dublin-Verordnung herrsche grundsätzlich ein vergleichbarer

Mindestbehandlungsstandard. Außergewöhnliche humanitäre Gründe für ein Selbsteintrittsrecht der Bundesrepublik Deutschland seien nicht ersichtlich. Schutzwürdige Belange für eine weitere Reduzierung des Einreiseund Aufenthaltsverbots seien nicht ersichtlich.

7

Hiergegen erhob der Kläger am 16. Oktober 2017 Klage und beantragte, 8

den Bescheid des Bundesamts vom 4. Oktober 2017 aufzuheben.

9

Für den Asylantrag des Klägers sei die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 10 Dublin-III-VO zuständig.

Seit dem 14. September 2017 befänden sich seine Ehefrau und Kinder ebenfalls in Deutschland und hätten dort Asyl beantragt. Die Abschiebung des Klägers vor Abschluss des Verfahrens würde die Familie

entgegen dem in der Dublin-III-VO verankerten Grundsatz der Familieneinheit trennen. Wegen der guten Beziehungen Lettlands zur Türkei befürchte er, im Rahmen eines beschleunigten Asylverfahrens, in dem

(3)

Rechtsbehelfe gegen ablehnende Entscheidungen keine aufschiebende Wirkung hätten, in die Türkei abgeschoben zu werden. Der Kläger leide unter erheblichen Herzrhythmusstörungen und habe bereits einen Herzinfarkt erlitten. Nach ärztlicher Einschätzung müsse er deshalb zwingend Stress vermeiden, da ansonsten ein erneuter Herzinfarkt zu befürchten sei. Er leide zudem an einer körperlichen Behinderung im Bereich der Füße. Wegen der in Lettland bestehenden schlechten Lage für Menschen mit Behinderung sei zu befürchten, dass er dort menschenunwürdige Bedingungen vorfände. Im Hinblick auf die drohende Verfolgung in der Türkei stehe dem Kläger ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, jedenfalls auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG zu.

10

Die Beklagte hat sich bisher zum Verfahren nicht geäußert.

11

Die Regierung von ... als Vertreterin des öffentlichen Interesses hat auf jegliche Zustellungen mit Ausnahme der Endentscheidung verzichtet.

12

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 27. Oktober 2017 dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen (§ 76 Abs. 1 AsylG).

13

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe 14

Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des

Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

15

1. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer einen Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft zuständigen Staat gestellt hat. Solche Rechtsvorschriften finden sich aktuell in der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (sog. Dublin-III-VO, ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31).

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a) Vorliegend ist für die Durchführung des Asylverfahrens nach Maßgabe der Dublin III-VO nicht die Beklagte, sondern die Republik Lettland zuständig (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG). Die Zuständigkeit Lettlands für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz ergibt sich aus Art. 12 Abs. Abs. 4 Dublin-III-VO, weil der Kläger mit einem von den lettischen Behörden am 3. Juli 2017 ausgestellten, vom 8.

Juli 2017 bis 1. August 2017 gültigem Visum nach Lettland einreiste. Dem Wiederaufnahmegesuch der Beklagten vom 5. September 2017 hat Lettland am 2. Oktober 2017 stattgegeben.

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b) Die Beklagte ist nicht wegen eines dem Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO vorgehenden Kriteriums für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutzes zuständig.

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aa) Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats wird dabei von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Kläger seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt, Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-VO. Im Hinblick auf die Anwendung der in den Art. 8, 10 und 6 (richtig wohl „16“) der Dublin-III-VO genannten Kriterien berücksichtigen die Mitgliedstaaten alle vorliegenden Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im

Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sofern diese Indizien vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat

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dem Gesuch um Aufnahme- oder Wiederaufnahme der betreffenden Person gemäß den Artikeln 22 und 25 stattgegeben hat, und sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, Art. 7 Abs. 3 Dublin-III-VO.

19

bb) Art. 10 Dublin-III-VO ist hier nicht einschlägig. Nach dieser Vorschrift ist für einen Antragsteller, der in einem Mitgliedstaat einen Familienangehörigen hat, über dessen Antrag auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun.

20

Hierzu ist jedoch erforderlich, dass die Bundesrepublik Deutschland überhaupt für die Prüfung eines der Anträge eines Familienangehörigen auf internationalen Schutzes zuständig ist, da andernfalls durch eine gestaffelte Einreise die Zuständigkeitskriterien ausgehebelt werden könnten. Dem steht auch nicht Art. 6 GG entgegen.

Art. 10 Dublin-III-VO dient der Wahrung der Familieneinheit. Er soll damit verhindern, dass Familien getrennt bleiben, weil für die einzelnen Familienmitglieder unterschiedliche Mitgliedsstaaten zuständig sind.

Seinem Schutzzweck kann indes nicht entnommen werden, dass er es Antragstellern bei einer gestaffelten Einreise ermöglichen soll, sich jeweils auf den Aufenthalt eines Familienangehörigen in einem für diesen unzuständigen Mitgliedsstaat zu berufen und so dessen Zuständigkeit herbeizuführen, obwohl für alle Familienmitglieder der Mitgliedsstaat nicht zuständig wäre. Art. 10 Dublin-III-VO kommt folglich nur zur Anwendung, wenn für die Familienangehörigen unterschiedliche Mitgliedsstaaten und dabei auch derjenige, dessen Zulässigkeitsentscheidung angefochten wird, für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig sind.

21

Diese Voraussetzung liegen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt - hier der Stattgabe des Gesuchs auf Wiederaufnahme am 2. Oktober 2017 (Art. 7 Abs. 3 Dublin-III-VO) - nicht vor:

22

Die Zuständigkeit Lettlands für die Bearbeitung der Anträge der Familienangehörigen (Ehefrau und Töchter) auf internationalen Schutz ergeben sich aus Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO, weil sie mit einem von den

lettischen Behörden am 30. August 2017 ausgestellten, vom 4. September 2017 bis 30. September 2017 gültigem Visum am 12. September 2017 nach Lettland einreisten, bevor sie weiter nach Deutschland reisten. Gründe für eine Verpflichtung der Beklagten zur Ausübung ihres Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Dublin-III-VO in ihren Fällen sind im entscheidungserheblichen Zeitpunkt nicht gegeben. Hierfür reichen weder die Angst vor der Familie des in Lettland lebenden Ehemanns noch die (etwaig) besseren

Bildungsmöglichkeiten für die Kinder. Das Wiederaufnahmeersuchen an Lettland wurde am 14. November 2017 und damit innerhalb der Frist des Art. 21 Abs. 1 Dublin-III-VO gestellt.

23

Durch die oben dargestellte Auslegung des Art. 10 Dublin-III-VO kann es auch nicht zu einer unzulässigen Trennung der Familienangehörigen kommen. So ist der Kläger weder nach der Dublin-III-VO noch nach innerstaatlichem Recht daran gehindert, gemeinsam mit seinen Familienangehörigen freiwillig in den für sie nach der Dublin-III-VO zuständigen Mitgliedstaat auszureisen (vgl. ausführlich VGH BW, U.v. 27.8.2014 - A 11 S 1285/14 - InfAuslR 2014, 452; HessVGH, B.v. 25.8.2014 - 2 A 976/14.A - AuAS 2014, 247; OVG SH, B.v. 7.4.2014 - 2 LA 33/15; hierzu auch BayVGH, B.v. 28.4.2015 - 11 ZB 15.50065 - juris).

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cc) Die Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich auch nicht aus Art. 11 Buchst. a) Dublin-III-VO.

Stellen mehrere Familienangehörige und/oder unverheiratete minderjährige Geschwister in demselben Mitgliedstaat gleichzeitig oder in so großer zeitlicher Nähe einen Antrag auf internationalen Schutz, dass die Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemeinsam durchgeführt werden können, und könnte die Anwendung der in dieser Verordnung genannten Kriterien ihre Trennung zur Folge haben, so gilt für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nach der Norm, dass für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz sämtlicher Familienangehöriger und/oder unverheirateter minderjähriger Geschwister der Mitgliedstaat zuständig ist, der nach den Kriterien für die Aufnahme des größten Teils von ihnen

zuständig ist.

(5)

Diese Voraussetzungen liegen im Fall des Klägers nicht vor. Die Anträge der Familienangehörigen auf internationalen Schutz wurden nicht gleichzeitig oder in so großer zeitlicher Nähe gestellt, dass die

Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemeinsam hätten durchgeführt werden können.

Der Kläger hat in der Bundesrepublik Deutschland am 10. August 2017 Asyl beantragt. Die Ehefrau und die beiden Töchter des Klägers reisten hingegen erst am 14. September 2017 in die Bundesrepublik

Deutschland ein und stellten am 6. Oktober 2017 einen Asylantrag. Bereits am 5. September 2017 wurde das Wiederaufnahmeersuchen an die Republik Lettland gestellt und am 2. Oktober 2017 angenommen, wodurch das Dublin-Verfahren in ein Stadium eingetreten ist, das eine gemeinsame Durchführung nicht mehr möglich macht.

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Darüber hinaus liegen derzeit auch keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Anwendung der in der Dublin- III-VO genannten Kriterien die Trennung des Klägers und seiner Familie zur Folge haben könnte, wie von Art. 11 Dublin-III-VO weiter vorausgesetzt. Für die Prüfung der Asylbegehren alle Familienangehörigen ist jeweils nach Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO Lettland der zuständige Mitgliedsstaat.

26

c) Gründe, von einer Überstellung nach Lettland gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013/EU abzusehen, sind nicht ersichtlich. Diese Vorschrift setzt voraus, dass es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für den Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GrCH mit sich bringen. In diesem Fall setzt der die

Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der Zuständigkeitskriterien nach Kapitel III der Dublin-III- VO fort, um ggf. die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festzustellen. Kann keine Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festgestellt werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

27

aa) Dieser Regelung liegt das Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 - juris) bzw. der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v.

21.12.2011 - C-411/10, C-493/10 - juris) zugrunde. Danach gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der EU-Grundrechtecharta

entspricht. Allerdings ist diese Vermutung widerleglich. Den nationalen Gerichten obliegt die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der

Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v.

Art. 4 GrCH ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH v. 21.12.2011 a.a.O.). Die Vermutung ist jedoch nicht bereits bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen in dem jeweils zuständigen Mitgliedstaat widerlegt. An die Feststellung systemischer Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013/EU sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von derartigen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im betreffenden Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Rn. 9). Eine tragfähige Grundlage für die Annahme systemischer Mängel dürfte jedenfalls dann vorliegen, wenn hierfür kompetente Stellen wie der UNHCR und das EASO

(Europäisches Unterstützungsbüro für Asylfragen, errichtet durch die Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. L 132 v. 29.5.2010, S. 11) derartige Mängel feststellen.

28

bb) Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe und im Einklang mit der aktuellen Rechtsprechung ist nach Überzeugung des Gerichts nicht davon auszugehen, dass der Kläger in Lettland aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. OVG Saarl, B.v. 15.5.2017 - 2 A 410/17 - juris Rn. 11; BayVGH, U.v. 29.3.2017 -15 B 16.50080 - juris Rn. 13; VG Ansbach, B.v.

30.12.2015 - AN 14 S 15.50476 -juris Rn. 29). Auf die angeführten Entscheidungen wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen; Gegenteiliges hat auch der Kläger nicht substantiiert vorgebracht.

(6)

29

Der vom Kläger angeführte Report „Lettland 2017“ von Amnesty International führt zu keiner anderen Bewertung. Für die Beachtung des Non-Refoulement-Gebots ist der jeweilige Mitgliedsstaat verantwortlich.

Lettland als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention unterliegt hinsichtlich seines Asylrechtsvollzugs auch mit Blick auf die Türkei keinen schwächeren Rechtsstandards als Deutschland.

Dass das Non-Refoulement-Gebot von der Republik Lettland regelhaft defizitär nicht beachtet würde, kann mit Verweis auf die äußerst knappen Ausführungen im Bericht von Amnesty International nicht in Zweifel gezogen werden. So wird im Human Rights Report 2016 des United States Department of State (Bureau of Democracy, Human Rights and Labor) bestätigt, dass das Asylsystem in Lettland grundsätzlich wirksam und zugänglich ist (https://www.state.gov/ documents/organization/265650.pdf, Seite 11). Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger ein solches Verfahren, ggf. unter Ausschöpfung des dortigen Rechtswegs, nicht möglich wäre, wurden nicht dargelegt. Allein möglicherweise guten Beziehungen Lettlands zur Türkei reichen hierfür nicht aus.

Ebenso wenig zeigt der vom Kläger angeführte Bericht von Amnesty International eine Gefahr regelhaft defizitärer Aufnahmebedingungen bei Personen wie dem Kläger, die im Bereich der Füße an einer

Behinderung leiden. Die im Bericht angeführte Besorgnis des Menschenrechtskommissars bezieht sich auf Personen mit Behinderungen, die in speziellen Einrichtungen untergebracht waren, insbesondere die Situation von Kindern mit geistigen oder psychosozialen Einschränkungen. Dies betrifft erkennbar nicht den Fall des Klägers, der - wie sich aus seinem Vortrag beim Bundesamt ergibt - nicht auf den Aufenthalt in speziellen Behinderteneinrichtungen angewiesen ist, sondern Probleme bei längerem Stehen und Gehen hat und extra dicke Schuhsohlen benötigt.

30

Näherer Aufklärung bedarf hier auch nicht die Frage, ob die Anforderungen, die das

Bundesverfassungsgericht bei einer Abschiebung in die Türkei stellt (BVerfG, B.v. 18.12.2017 - 2 BvR 2259/17 - juris), von den lettischen Behörden beachtet werden. Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen

Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der EU-Grundrechtecharta entspricht. Diese Vermutung wurde hier nicht widerlegt (vgl. soeben).

31

d) Für ein Abhängigkeitsverhältnis i.S.d. Art. 16 Abs. 1 Dublin-III-VO bestehen vorliegend keine

Anhaltspunkte. Die Behinderung des Klägers im Bereich seiner Füße macht ihn voraussichtlich nicht von der Unterstützung seiner Kinder abhängig. Entsprechendes ergibt sich weder aus den Akten, noch wurde diesbezüglich etwas vorgetragen.

32

e) Aus den genannten Gründen kann der Kläger auch keine Verpflichtung der Beklagten zum Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO beanspruchen. Nach dieser Vorschrift kann jeder Mitgliedstaat einen Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in der Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Bei Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO handelt es sich um eine restriktiv zu handhabende

Ausnahmebestimmung, die eine Zuständigkeitsübernahme in Fällen ermöglicht, in denen außergewöhnliche humanitäre, familiäre oder krankheitsbedingte Gründe vorliegen, die nach Maßgabe der Werteordnung der Grundrechte einen Selbsteintritt erfordern. Die Familieneinheit kann gewahrt werden (siehe oben). Auch die Behauptung des Klägers, das Bundesamt lehne teilweise Anträge unter Verweis auf eine anderweitige Zuständigkeit ab, prüfe hingegen anderer Anträge in der Sache trotz fehlender Zuständigkeit nach der Dublin-Verordnung, kann keine Verpflichtung zum Selbsteintritt der Beklagten begründen. Das

Selbsteintrittsrecht steht im Ermessen der Beklagten, Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO. Es wurde schon nicht dargelegt, dass es sich bei den Fällen, bei denen vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch gemacht wurde, um vergleichbare Fälle handeln würde, die zu einer Selbstbindung des Verwaltungshandelns der Beklagten in diesem Verfahren führen könnten.

33

f) Die Abschiebung nach Lettland kann auch im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden.

Die Feststellung im angefochtenen Bescheid, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, ist rechtmäßig. Der Kläger kann sich auf zielstaatsbezogene - bezogen auf

(7)

Lettland – oder inlandsbezogene Abschiebungsverbote, die in Bezug auf die Abschiebungsanordnung gegenüber der Beklagten geltend gemacht werden können (vgl. BayVGH, B.v. 12.10.2015 - 11 ZB

15.50050 -, juris Rn. 4; VGH BW, B. v. 31.5.2011 - A 11 S 1523/11 - juris; OVG Hamburg, B. v. 3.12.2010 - 4 Bs 223/10 – juris), nicht berufen. Die Familieneinheit kann über eine gemeinsame Ausreise nach Lettland sichergestellt werden (siehe oben).

34

Der Gesundheitszustand des Klägers steht der Abschiebung nicht entgegen. Insoweit wird auf die zutreffende Begründung des Bescheids des Bundesamtes verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und darüber hinaus ausgeführt:

Gemäß Attest vom 15. Januar 2018 (...) leidet der Kläger an einer chronischen Wundheilungsstörung an beiden Beinen, in letzter Zeit verschlechtert durch einen Diabetes mellitus, an einem diabetischen

Fußsyndrom mit Osteomyelitis, was prinzipiell bei nicht optimaler Behandlung zu einem Verlust eines oder beider Beine führen könne, einer reaktiven Depression, einer arteriellen Hypertonie, einer Partialruptur der Supraspinatus-Sehne links und an einer Fehlstellung des linken Beines. Es ist nicht ersichtlich, dass die geltend gemachten multiplen körperlichen Einschränkungen und Krankheiten des Klägers die Abschiebung unmöglich machen. Dass der Kläger nicht reisefähig wäre, wurde in den vorgelegten Attesten nicht

angegeben. Der bloße Verweis auf einen Internetartikel der Ärztezeitung, wonach psychischer Stress das Risiko für schwere kardiovaskuläre Komplikationen auch bei Patienten mit stabiler KHK, die eine

medikamentöse Sekundärprävention erhielten, erhöhe, reicht hierfür nicht, da es auf die konkreten

gesundheitlichen Umstände des Klägers ankommt. Es ist darüber hinaus Aufgabe der mit der Abschiebung betrauten Ausländerbehörde, diese für den Kläger so schonend wie möglich zu gestalten. Letztlich kann der Kläger selbst die belastende Situation einer Abschiebung durch eine freiwillige Ausreise vermeiden. Des Weiteren ist den vorgelegten Attesten nicht zu entnehmen, dass es mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit der Abschiebung zu einer wesentlichen Verschlechterung einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung kommen würde (§ 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c AufenthG).

Auch handelt es sich bei den dargelegten Krankheitsbildern nicht um außergewöhnliche medizinische Spezialfälle, sodass auch davon auszugehen ist, dass diese in Lettland behandelbar sind.

35

g) Auch läuft die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO von sechs Monaten seit der Ablehnung des Eilantrags durch Beschluss vom 27. Oktober 2017 noch und ist daher noch nicht abgelaufen, so dass es keiner Entscheidung über die Frage bedarf, ob dem Kläger allein aus dem Fristablauf ein

subjektivöffentliches Recht erwachsen kann. Die Rückübernahmefrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO kann derzeit also noch gewahrt werden.

36

2. Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots (§ 11 Abs. 1 AufenthG) stellt sich ebenfalls als rechtmäßig dar. Wesentliche familiäre Belange wurden nicht substantiiert dargelegt. Denn auch für die Prüfung der Asylanträge seiner Ehefrau und Töchter ist der Zielstaat Lettland zuständig. Die Befristung hält sich innerhalb des von § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffneten gesetzlichen Rahmens von bis zu fünf Jahren. Das nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen wurde erkannt und ermessensfehlerfrei ausgeübt.

37

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83 b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).

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