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Academic year: 2022

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Monica PATSCHOK, BEd

Hier wird Deutsch gesprochen!

Eine Untersuchung über die Grundhaltung und den Umgang mit Mehrsprachigkeit in den Bildungsinstitutionen der

Elementar-, Primar- und Sekundarstufe

M a s t e r a r b e i t

zur Erlangung des akademischen Grades Master of Education im Studium Lehramt Sekundarstufe Allgemeinbildung

im Entwicklungsverbund Süd-Ost

vorgelegt an der Pädagogischen Hochschule Steiermark

Begutachter: HS-Prof. Mag. Dr. Univ.-Doz. Klaus-Börge Boeckmann

Institut für Sekundarstufe Allgemeinbildung Fachbereich: Deutsch

Graz, 2021

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Eidesstattliche Erklärung

Hiermit erkläre ich an Eides statt, die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne uner- laubte fremde Hilfe verfasst, dabei die Richtlinien guter wissenschaftlicher Praxis einge- halten und keine anderen als die angegebenen Quellen verwendet sowie die den Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht zu haben. Die Arbeit wurde bisher in identer oder ähnlicher Form an keiner anderen inländischen oder ausländischen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch nicht veröffentlicht. Die vorliegende Fassung entspricht der eingereichten elektronischen Version.

18. Juli 2021

(3)

DANKSAGUNG

An dieser Stelle ist es mir ein persönliches Anliegen, meinem Betreuer HS-Prof. Mag.

Dr. Univ.-Doz. Klaus-Börge Boeckmann Dank auszudrücken. Er unterstützte mich – in Zeiten der Corona-Pandemie virtuell via WebEx-Meetings – mit dem nötigen Fachwis- sen, richtete mein Selbstvertrauen auf und schaffte es, durch konstruktive Reflexionen meine Motivation zu steigern.

Ein herzliches Dankeschön gilt meinem Ehemann Albert, der es mir durch seine morali- sche Unterstützung ermöglichte, meine Arbeit unter angenehmen Bedingungen sowie nach bestem Wissen und Gewissen zu verfassen.

Besonderer Dank gebührt meiner Tochter Carolina, für ihre Ratschläge und die zuverläs- sige und hilfreiche Unterstützung bei der Finalisierung dieser Arbeit.

Für das Verständnis, wenn ich aufgrund der Schreibarbeit kaum Zeit für sie aufbringen konnte, bin ich meinen Kindern Julia und David zu tiefstem Dank verpflichtet. Stunden, Tage, Wochen und Monate entbehrten mich die beiden, ohne jeglichen Vorwurf durch- klingen zu lassen. Va iubesc!

(4)

Zusammenfassung

Unumstritten ist, dass Einsprachigkeit in unserer Gesellschaft nicht die Norm ist. Immer mehr Kinder bringen beim Eintritt in die Volksschule weitere Sprachen mit. Jedes Indi- viduum verfügt aufgrund seiner Lebensumwelt über ein ausgedehntes sprachliches Re- pertoire an Registern – sei es in Form von Dialekten, Soziolekten, Jargons oder auch Fachsprachen. Das Sprachregister unterliegt einem Wandel, je nachdem in welchem Kon- text Sprache situiert ist, verändert sich auch dessen Einsatz. Mal rückt eine Art zu spre- chen in den Vordergrund, mal eine andere. Wenn es um die Entscheidung geht, ob Mehr- sprachigkeit als Ressource betrachtet wird, nimmt die Bewertung der Umgebung eine wesentliche Rolle ein. Mitgebrachte Sprachen werden nicht nur im schulischen Bereich, sondern auch im privaten Umfeld bewertet. Erachtet man eine Sprache als irrelevant oder gar negativ, kann dies bei Mehrsprachigen zu einem negativen Selbstwertgefühl beitra- gen. Wird allerdings eine positive Grundhaltung gegenüber mehrsprachigen Menschen eingenommen – unabhängig davon, welche Sprachen im Raum stehen – kann Mehrspra- chigkeit als Ressource begriffen werden.

Die Relevanz der Forschungsfrage, welche Grundhaltung gegenüber Mehrsprachigkeit in den Bildungsinstitutionen der Elementar-, Primar- und Sekundarstufe vorherrscht, ergibt sich somit aus dem gesellschaftlichen Diskurs zum Thema „Deutsch als Schulsprache“.

Unter anderem ist das Ziel der vorliegenden Arbeit die Widerlegung der Annahme, die Erstsprache stelle ein Hindernis beim Erlernen der Zweitsprache dar. Es soll veranschau- licht werden, dass die Erstsprache für keinerlei Hemmungen des Zweitspracherwerbs ver- antwortlich ist. Andere Erstsprachen dürfen keineswegs als negativer Faktor gesehen werden, ganz im Gegenteil, die Schülerinnen und Schüler sollen das Bewusstsein erlan- gen, wie wertvoll das Beherrschen mehrerer Sprachen ist.

(5)

Abstract

Monolingualism is without doubt not the norm in our society. More and more children bring other languages with them when entering primary school. Every individual has be- cause of his or her living environment an extensive linguistic repertoire of registers - be it in the form of dialects, sociolects, jargons or technical languages. The language register is a subject to change, namely depending on the context, the use of register changes. It happens when a particular type of speaking is given priority to and there are times when different types are preferred. When it comes to the decision if multilingualism can be considered as a resource, then the evaluation of the environment plays a significant role.

Languages that one brings with him/her are not only assessed in schools, but also in one’s private life. If a language is judged as irrelevant or even negative, this can result in a negative self-esteem in multilingual people. But if, instead, a positive attitude is raised towards multilingual people – independent of which languages are present – then multi- lingualism can be understood as a resource.

The relevance of the research question, which basic attitude there is towards multilingual- ism in the educational institutions of the elementary, primary and secondary level quality, is thus derived from the social discourse on the subject of "German as a school language".

Furthermore, the goal of this paper is the disproving of the assumption that the first lan- guage is an obstacle when learning a second language. It should be illustrated that the first language is not responsible for any obstruction in the acquisition of the second lan- guage. Other first languages should not be seen as a negative factor, on the contrary, the students need to be aware of the value of mastering multiple languages.

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Inhaltsverzeichnis

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ... 1

Einleitung ... 2

Theoretischer Teil ... 5

1 Vorbemerkung ... 5

2 Kindliche Sprachentwicklung ... 7

2.1 Erstsprache und Zweitsprache ... 7

2.2 Bilingualer Erstspracherwerb ... 8

2.3 Strategien bilingualer Erziehung ... 9

2.4 Die kritische Periode beim Spracherwerb ... 10

3 Theoretische Ansätze zum Zweitspracherwerb ... 11

3.1 Die Kontrastivhypothese ... 12

3.2 Die Identitätshypothese ... 13

3.3 Die Interlanguagehypothese ... 14

3.4 Die Interdependenz- oder Schwellenhypothese ... 14

4 Der Einfluss der Erstsprache auf den Erwerb der Zweitsprache ... 16

4.1 Interferenz ... 16

4.2 Code-Switching ... 16

4.3 Code-Mixing ... 17

5 Die Bedeutung der Erstsprache für den Zweitspracherwerb ... 18

5.1 Das Potential der Erstsprache ... 19

5.2 Das Prestige der Erstsprache ... 20

5.3 Muttersprachlicher Unterricht ... 21

6 Mehrsprachigkeit im Kontext Schule ... 22

6.1 Bildungsmodelle in der Praxis ... 24

6.2 Pädagogische Expertise ... 25

6.3 Legitime und illegitime Sprachformen ... 26

6.4 Die Rolle der Lehrperson ... 28

6.5 Förderliche Lernumgebung im Unterricht ... 30

(7)

Empirischer Teil ... 32

7 Methodische Vorgehensweise ... 32

7.1 Qualitative Forschung ... 32

7.2 Begründung des Forschungszugangs ... 34

7.3 Hypothesenbildung ... 34

7.4 Leitfadengestütztes Interview ... 35

7.4.1 Aufbau des Leitfadens ... 36

7.4.2 Vorstellung des Leitfadens ... 38

7.4.3 Durchführung der Interviews ... 42

7.5 Qualitative Inhaltsanalyse ... 42

8 Darstellung und Interpretation der Untersuchungsergebnisse ... 44

8.1 Auswertung der Interviews ... 44

8.2 Zusammenführung der Ergebnisse ... 60

Conclusio ... 64

Literaturverzeichnis ... 66

(8)

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Abbildung 1: Übersicht Spracherwerb (Quelle: Rösch 2011, S. 11) ... 10

(9)

Einleitung

„Mehrsprachigkeit bedeutet, daß [sic] unsere Gedanken nicht an einer bestimmten Spra- che hängen, nicht an deren Worten kleben. Unsere Mehrsprachigkeit ist der sprachliche Spielraum unserer geistigen Freiheit.“

(Wandruszka 1979, S. 334)

Sprache stellt nicht nur ein elementares Kommunikationsmittel dar, sie ist ein wesentli- cher Bestandteil unseres alltäglichen Lebens. Das Phänomen Mehrsprachigkeit ist keine Seltenheit und zieht sich mittlerweile durch alle Schultypen hindurch. Ein prägender Ab- schnitt – meist verbunden mit Unsicherheiten, Nervosität und Freude – ist der Übergang von der Elementar- in die Primarstufe. Die Schuleingangsphase ist speziell für Kinder mit einem Migrationshintergrund ein äußerst sensibles Thema. Die Erwartungshaltung der Gesellschaft, Deutsch beherrschen zu müssen – man lebe schließlich in Österreich – führt zu einem erheblichen Druck bei den Kindern. Es wird von einer Notwendigkeit ausge- gangen, sich zuerst einmal die deutsche Sprache zur Gänze anzueignen und diese auch korrekt zu beherrschen, ehe eine Förderung in der Erstsprache angedacht wird. Um diese Hypothese zu widerlegen, befasst sich die vorliegende Masterarbeit mit der Bedeutung der Erstsprache, indem aufgezeigt wird, dass diese keine Gefahr beim Erlernen der Zweit- sprache darstellt, sondern in vielerlei Hinsicht Ressourcen mit sich bringt. In diesem Zu- sammenhang geht die vorliegende Masterarbeit der Frage nach, welche Grundhaltung gegenüber Mehrsprachigkeit in den Bildungsinstitutionen der Elementar-, Primar- und Sekundarstufe vorherrschend ist. Zur Beantwortung der Frage erscheint es notwendig, untergeordnete Fragestellungen zu formulieren:

• Wie wird in den Bildungseinrichtungen in unterschiedlichen Situationen mit sprachlicher Vielfalt umgegangen?

• Wird die Erstsprache als Ressource oder als Hindernis für den Zweitspracherwerb betrachtet?

• Welche Möglichkeiten existieren, um eine förderliche Lernumgebung für den Zweitspracherwerb zu schaffen?

(10)

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in zwei Teile, einen theoretischen – der die Grund- lage bildet und hauptsächlich anhand von Literaturrecherche erarbeitet wurde – sowie einen empirischen, der in Form von drei leitfadengestützten Interviews in den Bildungs- einrichtungen der Elementar-, Primar-, und Sekundarstufe realisiert wurde.

In Kapitel 1 wird unter Bezugnahme auf die Praxis das breite Feld Mehrsprachigkeit zum Thema gemacht.

Kapitel 2 behandelt die kindliche Sprachentwicklung, wobei die Begriffe Erstsprache und Zweitsprache definiert werden, um sie in weiterer Folge näher in den Fokus zu rücken.

Anschließend wird der bilinguale Erstspracherwerb unter Berücksichtigung unterschied- licher Familienkonstellationen beleuchtet. Weiters liegt das Hauptaugenmerk auf den Strategien bilingualer Erziehung, wobei das „Eine-Person-eine Sprache-Prinzip“ heran- gezogen wird. Der zweite Abschnitt befasst sich mit dem Zusammenhang der Förderung der Muttersprache und dem Erlernen der Zweitsprache Deutsch. Das Potential der Erst- sprache soll mit pädagogischen Ansichten untermauert werden.

Kapitel 3 gewährt einen Einblick in die theoretischen Ansätze des Zweitspracherwerbs, wobei zuerst eine Unterscheidung zwischen Theorie, Hypothese und Modell vorgenom- men wird, um im Anschluss folgende vier Spracherwerbshypothesen vorzustellen: die Kontrastivhypothese, die Identitätshypothese, die Interlanguagehypothese sowie die In- terdependenzhypothese.

In Kapitel 4 demonstrieren Sprachmischungen den Einfluss der Erstsprache auf den Er- werb der Zweitsprache. Zur Diskussion werden die Phänomene Code-Mixing, Code- Switching und Interferenz gestellt.

Kapitel 5 befasst sich mit der Bedeutung der Erstsprache für den Zweitspracherwerb. Da- bei liegt das Augenmerk auf dem Potential sowie auf dem Prestige der Erstsprache. Wei- ters wird die Wichtigkeit des muttersprachlichen Unterrichts hervorgehoben.

Kapitel 6 steht im Kontext der Schule, Bildungsmodelle in der Praxis werden mit päda- gogischen Ansichten untermauert. Relevant für die Beantwortung der Forschungsfrage wird daher in diesem Abschnitt der Arbeit geklärt, warum nicht jede Sprache in aller Munde sein darf, indem legitime und illegitime Sprachformen präsentiert werden (vgl.

Dirim und Mecheril 2010). Abschließend werden die Rolle der Lehrkräfte im Sprachlern- prozess sowie eine förderliche Lernumgebung im Unterricht, die für das Gelingen einer Sprachförderung notwendig ist, beleuchtet.

(11)

Den empirischen Teil dieser Arbeit thematisiert Kapitel 7, welches die methodische Vor- gehensweise in Form eines leitfadengestützten Interviews und einer qualitativen Inhalts- analyse nach Mayring veranschaulicht.

Abgerundet wird das letzte Kapitel 8 anhand der Darstellung und Interpretation der Un- tersuchungsergebnisse sowie der Zusammenführung der theoretischen Erkenntnisse mit den gewonnenen Einsichten aus der Empirie.

In der Conclusio erfolgt die Beantwortung der eingangs formulierten Forschungsfrage.

(12)

THEORETISCHER TEIL

1 Vorbemerkung

Möchte man die europäische Schulsprachenpolitik zusammenfassen, so würde sie laut de Cillia (2014, S. 250) wie folgt aussehen:

„Bekenntnis“ zur Mehrsprachigkeit in Absichtserklärungen und Feiertagsreden – Praxis der Zweisprachigkeit in den Schulen – wobei fremdsprachliche Zweispra- chigkeit v.a. in Englisch forciert wird, der Fremdsprachenunterricht viel zu wenig diversifiziert, die lebensweltliche Zwei- und Mehrsprachigkeit in den Migrations- sprachen und Gebärdensprachen teils halbherzig, teils gar nicht gefördert wird.

In vielen gesellschaftlichen Bereichen – darunter freilich auch Kindergärten und Schulen – gibt es einen enormen Bedarf an qualifizierter Mehrsprachigkeit in den Migrationsspra- chen. Der Schlüssel zu einem qualitativen Unterricht für mehrsprachige Kinder ist der Einsatz von qualifizierten mehrsprachigen Lehrpersonen. Ein sprachliches Menschen- recht auf literale Praktiken in den Familiensprachen sollte eine Selbstverständlichkeit dar- stellen, zumal die Erstsprache eine bedeutende Rolle beim Zweitspracherwerb einnimmt.

Wertvolle Konzepte zur Umsetzung integrativer Mehrsprachigkeit in Schulen, von Vor- schlägen und praxisorientierten Unterrichtsmodellen sind mittlerweile von Sprachendi- daktik und Sprachlehrforschung ausgearbeitet und empfohlen worden, die auf eine Er- probung in den Bildungseinrichtungen warten bzw. in einigen Ländern teilweise schon umgesetzt sind: Diverse Sprachsensibilisierungsprogramme, die in den österreichischen Bildungseinrichtungen noch nicht Einzug gehalten haben, in Deutschland jedoch schon in einigen Schulversuchen erprobt wurden (vgl. de Cillia 2014, S. 250). Dennoch scheint zu gelten, was Gnutzmann (2004) in „Mehrsprachigkeit im Fokus“ konstatiert:

„Auch wenn die generelle Zustimmung zu einem Lernziel Mehrsprachigkeit inner- halb der Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung (fast) einhellig sein dürfte, so verbleiben viele Fragen hinsichtlich der theoretischen Konzeption wie auch Umsetzbarkeit, vor allem in der täglichen Praxis des (Fremd)Sprachenunter- richts“ (Gnutzmann 2004, S. 51).

(13)

Bei einer genaueren Betrachtung ergeben sich Schwierigkeiten, da unterschiedliche Spra- chen unterschiedliche Funktionen für verschiedene Beteiligte im Bildungsprozess ein- nehmen. Boeckmann (2009) thematisiert den Terminus „Sprachen-Vielfalt“, um ein Be- wusstsein für die Vielfalt folgender Termini zu schaffen. Deutsch etwa ist zunächst Erst- sprache, Muttersprache eines Teils der Schülerinnen und Schüler, aber auch Zweit-, Dritt- etc.-Sprache, „Standardsprache“, „Staatssprache“, „Schulsprache/Unterrichtsspra- che/Bildungssprache“, „Mehrheits-/ Nationalsprache“ oder auch „Amtssprache“. Ande- rerseits sind wir mit den „Erstsprachen“, Herkunftssprachen, „Familiensprachen“ derje- nigen Kinder, für die nicht Deutsch die Sprache der Primärsozialisation ist, konfrontiert (vgl. Boeckmann 2009, S. 16–17).

Es bedarf weiterer Forschungsarbeit, um die vorherrschende Zweisprachigkeit in den Schulen zu verdrängen, damit eine Praxis der Mehrsprachigkeit Einzug halten kann. Ein Paradigmenwechsel in Richtung Mehrsprachigkeit ist nur dann möglich, wenn im Bil- dungswesen grundlegende Konzepte neu erarbeitet werden und eine Umstrukturierung fokussiert wird – beispielsweise in der Ausbildung angehender Lehrkräfte. Die Rolle der Sprachlehrerinnen und Sprachlehrer müsste neu gedacht werden, ihre Verantwortung liegt nicht nur in der Vermittlung einer Fremdsprache, sondern auch darin, die Mehrspra- chigkeit der Lernenden als Potential zu betrachten und diese auch zu fördern. Gefragt sind Lehrkräfte, die über eine umfassende Expertise für Mehrsprachigkeit verfügen. Eine op- timale Umsetzung von Sprachbildung ist dann möglich, wenn das Gesamtkonzept sprach- licher Bildung im Vordergrund steht.

Für ein Gesamtkonzept sprachlicher Bildung plädiert Reich (2009, S. 69) in seiner Rede und hält Folgendes fest:

„Dem Lernen der verschiedenen Sprachen sind kognitive Inhalte gemeinsam, die nicht für jede Sprache neu erarbeitet werden müssen: grammatische und semanti- sche Begriffe, Lern- und Erschließungsstrategien, sprachvergleichende und sprachgeschichtliche Elemente. Sie können zusammen mit Grundbegriffen der Sprachsoziologie und der Sprachpsychologie zu einem Fach „Sprache“ gebündelt werden, das als verbindende Disziplin der sprachlichen Bildung, von der Primar- stufe bis in die Sekundarstufe II gedacht werden kann.“

(14)

Beim Erlernen einer neuen Sprache ergibt sich für die Lernenden ein immenser Vorteil, der nicht außer Acht gelassen werden darf. Da unterschiedliche Sprachen über gemein- same Inhalte verfügen, dienen Lernstrategien dazu, grammatische Strukturen zu erschlie- ßen, es bedarf somit keiner neuen Erarbeitung dieser. Wie die kindliche Sprachentwick- lung von Statten geht, wird in Kapitel 2 behandelt.

2 Kindliche Sprachentwicklung

Das Erwerben von grammatischen Strukturen in der Erstsprache erfolgt bei Kindern spontan, intuitiv, schnell und effizient. Das Gehirn ist in den ersten vier Lebensjahren darauf programmiert, die Strukturen und Regeln der umgebenden Sprache intuitiv zu er- kennen und zu bilden. Damit Kinder die optimalen Voraussetzungen ausnutzen können, sind Sprachanregungen aus der Umwelt erforderlich (vgl. Charlotte Bühler Institut 2016c, S. 18).

2.1 Erstsprache und Zweitsprache

Der Erstspracherwerb beginnt mit der Geburt – wenn nicht gar schon in der pränatalen Phase – wobei der Erwerb der Grammatikkompetenz bei den meisten Kindern im Schul- alter abgeschlossen ist (vgl. de Cillia 2016, S. 3). Das Aneignen der Muttersprache bzw.

Muttersprachen erfolgt eigenaktiv und ohne explizite Unterweisung, sofern der Erwerbs- beginn innerhalb einer biologisch bestimmten kritischen Periode liegt. Die kritische Zeit- spanne wird in neueren Untersuchungen zwischen dem zweiten und vierten Geburtstag festgelegt. Setzt der Erwerb einer weiteren Sprache danach ein, ist mit einem qualitativ anderen Spracherwerbsverlauf zu rechnen. Von einem frühen Zweitspracherwerb ist dann die Rede, wenn der Erwerbsbeginn zwischen dem zweiten und vierten Geburtstag liegt.

Ein erfolgreicher Spracherwerb setzt einen ausreichenden Input voraus, um sich das Re- gelsystem der Zielsprache anzueignen. Das Regelsystem implementiert Wissen über Pho- nologie, Morphologie, Syntax und Semantik sowie Teilbereiche der Pragmatik und er- möglicht, bekannte Strukturen in der Zielsprache zu interpretieren und zu produzieren (vgl. Grimm und Schulz 2014a, S. 36).

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2.2 Bilingualer Erstspracherwerb

Bei Kindern, die von klein auf parallel zwei Sprachen lernen, ist von einem „Bilingualen Erstspracherwerb“ die Rede. Folgende Konstellationen können sich positiv oder negativ auf den Spracherwerb auswirken (Riehl 2015, S. 82):

eine Familiensprache (L1), eine Umgangssprache (L2)

gemischtsprachige Familien (Vater spricht L1, Mutter spricht L2), die Umwelt spricht L1 oder L2

gemischtsprachige Familien (Vater spricht L1, Mutter spricht L2), die Umwelt spricht L3

Abhängig von unterschiedlichen Inputs durch die Eltern und Umgebung werden inner- halb der Spracherwerbsforschung verschiedene Typologien von Bilingualismus vorge- nommen. Romaine (1995; zit. n. Busch 2017, S. 44-45) unterscheidet hierbei sechs Typen bilingualer Spracherziehung: Bei Typ 1 liegt das „Eine-Person-eine-Sprache-Prinzip“

vor. Die Eltern haben zwei verschiedene Muttersprachen, wobei jeder Elternteil mit dem Kind die eigene Sprache spricht. Der Typ 2 ist das „Eine-Sprache-eine-Umgebung-Prin- zip. Die Eltern sprechen zwar verschiedene Sprachen, mit dem Kind reden allerdings beide die Nicht-Umgebungssprache. Somit hört das Kind die Umgebungssprache nicht in der Familie, sondern nur außerhalb. Typ 3 ist wie Typ 2, jedoch haben die Eltern die- selbe Muttersprache. Typ 4: Zu Hause werden zwei Sprachen gesprochen, die jedoch beide nicht die Umgebungssprache sind. Typ 5: Einer der Elternteile spricht mit dem Kind in einer Sprache, die weder seine Muttersprache noch die Umgebungssprache ist. Typ 6:

Sowohl die Eltern als auch die Umgebung sind bilingual (vgl. Busch 2017, S. 44–45).

Aus Sicht der Mehrsprachigkeitsforschung verlaufen Sprachaneignungsprozesse im früh- kindlichen Alter sowohl in der L1 als auch in der L2 dynamisch und systematisch. Quan- tität und Qualität des sprachlichen Inputs entscheiden über das Erreichen bestimmter sprachlicher Kompetenzniveaus. Lernende leiten aus dem verfügbaren Sprachangebot ih- rer Umgebung Kenntnisse über die strukturellen und funktionalen Charakteristika der Zielsprache ab und generieren daraus Annahmen über zielsprachliche Regeln (vgl. Ehr- mann 2014, S. 40).

(16)

2.3 Strategien bilingualer Erziehung

Um den bilingualen Erstspracherwerb beleuchten zu können, müssen unterschiedliche Faktoren untersucht werden. Eine Notwendigkeit besteht darin, die Familienkonstellati- onen näher zu betrachten. Hierbei spielen die Strategien bilingualer Erziehung eine we- sentliche Rolle. Riehl (2015) veranschaulicht das „Eine-Person-eine-Sprache-Prinzip“, welches besagt, dass jeder Elternteil mit den Kindern in seiner eigenen Erstsprache spre- chen sollte. Die Kinder binden dadurch den Gebrauch verschiedener Sprachen an be- stimmte Personen, was wiederum für den Sprachgebrauch ein wichtiger Faktor ist. Wei- ters ist eine Solidarität gegenüber der Herkunftssprache – verbunden mit einer Prestige- stärkung – unabdingbar. Das Prinzip birgt allerdings auch Nachteile: Der Partner, der einsprachig ist, wird von einem Teil des Familiengesprächs ausgeschlossen. Dennoch wird das „Eine-Person-eine-Sprache-Prinzip“ in der Bilingualismus-Forschung als das einzig sinnvolle hervorgehoben. Es liegen jedoch auch Studien auf, die belegen, dass auch Kinder mit einem gemischten Input keine unnormale Sprachentwicklung aufweisen. Die Realität zeigt, dass das Prinzip im Alltag nicht konsequent zum Einsatz kommt. Die Fre- quenz des Inputs spielt für den Spracherwerb eine große Rolle, daher profitieren Kinder davon, wenn der zweite Elternteil die Sprache, die nicht in der Umgebung verwendet wird, ebenfalls spricht. Ein wichtiger Aspekt ist auch die Trennung beider Sprachen, eine Durchmischung ist nicht vorteilhaft. Das Kind muss ein Bewusstsein dahingehend entwi- ckeln, dass es eine „Muttersprache“ und eine „Vatersprache“ hat (vgl. Riehl 2015, S. 83).

Unabhängig davon, welche Konstellationen beim bilingualen Erstspracherwerb vorherr- schen und mit wie vielen Sprachen das Kind konfrontiert wird, ist dafür Sorge zu tragen, dass das Kind einen ausreichenden sprachlichen Input in allen Sprachen erfährt, um diese zu erlernen. Fundamental erscheint es, eine Umgebung zu errichten, in der sich das Kind entfalten und alle sprachlichen Potentiale ausschöpfen kann. Die Rede ist hier von einer Wohlfühlzone, in der sich die Eltern nicht als einsprachig präsentieren, sondern verdeut- lichen, dass alle in der Familie gesprochenen Sprachen gleichermaßen wertvoll sind. An- dernfalls kann es dazu kommen, dass das Kind eine Sprache zur Gänze ablehnt und diese somit in weiterer Folge nicht erlernt wird. Diese Konsequenz leitet das nächste Kapitel – die kritische Periode beim Spracherwerb – ein.

(17)

2.4 Die kritische Periode beim Spracherwerb

In der Spracherwerbsforschung wird der Zeitraum vom 2. – 4. Lebensjahr als kritische Phase konstatiert. Jede Sprache, die nicht in dieser kritischen Phase erlernt wurde, weist – wie bereits in Kapitel 2.1. beschrieben – einen qualitativ anderen Spracherwerbsverlauf auf. Der Erwerb einer weiteren Sprache in dieser kritischen Periode wird als früher Zweit- spracherwerb bezeichnet (vgl. Grimm und Schulz 2014b, S. 36).

Alter etwa

Erwerb Sprache A

Erwerb Sprache B

Name

0-3 Jahre + +

- +

monolingualer Erstspracherwerb

bilingualer Erstspracherwerb (Doppelspracher- werb)

3-6 Jahre + + Früher Zweitspracherwerb von Kindern 6-12 Jahre (+) + Zweitspracherwerb von Kindern

nach der Pubertät

- + Zweitspracherwerb von Jugendlichen und Er- wachsenen

Abbildung 1: Übersicht Spracherwerb (Quelle: Rösch 2011, S. 11)

Eine Anlehnung an die Überlegungen des Spracherwerbsforschers Wolfgang Klein (1999; zit. n. Rösch 2011, S. 11) zeigt die obige Tabelle und stellt Kleins Unterscheidung zwischen monolingualem und bilingualem Erstspracherwerb – auch Doppelspracherwerb genannt – dar. Darüber hinaus erfolgte eine Adaptierung, indem Zweitspracherwerb un- abhängig vom Alter der Lernenden gebraucht wird, um aufzuzeigen, dass unterschiedli- che Parallelen zwischen dem Zweitspracherwerb von Kindern, Jugendlichen und Erwach- senen vorliegen und dass auch eine Unterscheidung zum Erstspracherwerb existiert. So zeigen beispielsweise Kindergartenkinder mit frühem Zweitspracherwerb in Deutsch Pa- rallelen zu Kindern mit deutschem Erstspracherwerb, wohingegen sie beim Erwerb der Satzstruktur und der Präpositionen Parallelen zu älteren Kindern, Jugendlichen und Er- wachsenen mit Zweitspracherwerb zeigen (vgl. Rösch 2011, S. 13). Anders als bei Klein, dessen Altersgruppe 0-7-Jährige umfasst, wurde bei Rösch (2011) die Einteilung opti- miert, indem Vorschulkinder berücksichtigt wurden. Durch die Verfeinerung entstanden drei Altersgruppen, eine von 0-3 Jahren, eine von 3-6 Jahren und eine von 6-12 Jahren.

Die Auseinandersetzung mit der Sprachförderung von Vorschulkindern mit

(18)

Migrationshintergrund stellt die Altersgruppe der 3-6-Jährigen und somit den frühen Zweitspracherwerb von Kindern in den Fokus. Ein differenzierter Blick auf den Zeitraum der Alphabetisierung der Kinder von 6-8 Jahren wäre ebenfalls denkbar. Sprache A stellt in der Tabelle die Erstsprache dar, während Sprache B für die Zweitsprache steht. Prob- lematisch und daher in Klammer dargestellt, ist der Erwerb der Sprache A ab dem Schul- eintritt. Kinder mit Migrationshintergrund, die in einer deutschen Bildungseinrichtung ausschließlich mit Deutsch als Unterrichtssprache konfrontiert werden, erwerben zwar Sprache B, jedoch bleibt unter Umständen Sprache A dabei auf der Strecke. Seit der Ge- burt standen das Sprechen und Hören dieser Sprache im Vordergrund, eine Weiterent- wicklung ist auf die gleiche Art und Weise wie bei Kindern, die das Lesen und Schreiben in ihrer Erstsprache lernen, möglich (vgl. Rösch 2011, S. 11–12).

An dieser Stelle sei auch eine Gegenposition aus der Literatur erwähnt. Es gibt empirische Studien, die die kritische Periode widerlegen. Snow & Hoefnagel-Höhle (1978) haben eine Longitudinalstudie abgeschlossen und den Spracherwerbsverlauf englischer Mutter- sprachler verschiedener Altersklassen (3-5, 8-10 und 12-15 Jahren), die Holländisch als Zweitsprache erlernten, über den Zeitraum eines Jahres beobachtet. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Altersgruppen der 8-10- sowie 12-15-jährigen Lerner nach einem Jahr den größten Lernfortschritt erzielten. Die Tatsache, dass die 3-5-jährigen Lerner bei der Studie am schlechtesten abgeschnitten haben, nahmen die Autoren als Evidenz dafür, dass die kritische Periode nicht existiert.

Da Deutsch ab dem Schuleintritt die Sprache ist, in der die Kinder vorwiegend literalisiert werden, sollte die Förderung der Erstsprache keineswegs unberücksichtigt bleiben. Umso wichtiger scheint es, eine Weiterentwicklung der Erstsprache – sowohl im familiären als auch im schulischen Umfeld – zu forcieren.

3 Theoretische Ansätze zum Zweitspracherwerb

Der Erwerb einer Sprache zielt nicht nur auf einzelne Wörter dieser Sprache ab, sondern auf das Erschließen ihres strukturellen Regelsystems sowie auf die situations- und dis- kursangemessene Nutzung der Sprache. Das phonologische Lautsystem sowie die Regeln der Syntax zählen zu den Strukturen einer Sprache. Letztlich steht die Frage im Raum, ob der Spracherwerb eine grundlegende Struktur aufweist, mit denen der Mensch ausge- stattet ist und inwiefern sich diese von anderen kognitiven Fähigkeiten unterscheidet. In

(19)

diesem Kapitel werden unterschiedliche Erwerbstypen zweier Sprachen – insbesondere für Deutsch als Zweitsprache – erläutert. Hinsichtlich des Verlaufs, der Geschwindigkeit und der Sprachkompetenz spielt das Alter des Erstkontaktes mit einer Sprache eine zent- rale Rolle (vgl. Niebuhr-Siebert et al. 2014, S. 23). Was alle sprachlichen Bereiche be- trifft, existieren weder für den Erst- noch für den Zweitspracherwerb vollständige Erklä- rungsansätze. Um dennoch eine Einschätzung der unterschiedlichen Erklärungen vorneh- men zu können, erscheint es an dieser Stelle der Arbeit notwendig, eine Unterscheidung zwischen Theorie, Hypothese und Modell vorzunehmen. Bei einer Theorie handelt es sich um „ein System wissenschaftlicher Aussagen, die der Beschreibung und Erklärung eines Ausschnittes aus der Realität und der ihm zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten dienen“

(Niebuhr-Siebert et al. 2014, S. 31). Hypothesen hingegen sind Annahmen über reale Sachverhalte mit empirischen Gehalt und sind verifizierbar oder falsifizierbar. Bortz und Döring (2006) präsentieren folgende Definition für eine Hypothese:

„Wissenschaftliche Hypothesen sind Annahmen über reale Sachverhalte (empiri- scher Gehalt, empirische Untersuchbarkeit) in Form von Konditionalsätzen. Sie weisen über den Einzelfall hinaus (Generalisierbarkeit, Allgemeinheitsgrad) und sind durch Erfahrungsdaten widerlegbar (Falsifizierbarkeit).“

Der Terminus Modell bezeichnet die Abstraktion von Erscheinungen oder Problemen (Niebuhr-Siebert et al. 2014, S. 32).

Eine exakte Erklärung darüber, wie der Spracherwerbsprozess von Statten geht, existiert trotz umfangreicher Forschungsarbeiten und Studien nicht. Sprachwissenschaftlerinnen und Sprachwissenschaftlicher haben es sich zur Aufgaben gemacht, den Prozess zu er- forschen und die Entstehung des Spracherwerbs zu definieren. Aus diesem Grund entwi- ckelten sie unterschiedliche Spracherwerbshypothesen, anhand derer sie den Erwerb ei- ner Sprache zu erläutern versuchten. Nachfolgend werden die wichtigsten Spracher- werbshypothesen vorgestellt.

3.1 Die Kontrastivhypothese

Der Ursprung der Kontrastivhypothese ist im Behaviorismus – jenem wissenschaftstheo- retischem Konzept, welches Sprache als eine Form menschlichen Verhaltens versteht – begründet. Imitation und Verstärkung stellen zwei Grundprinzipien des Lernens dar. Da

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die Erstsprache beim Erwerb einer Zweit- oder Fremdsprache bereits entwickelt ist, kön- nen bereits entwickelte Gewohnheiten auf diese Sprachen übertragen werden. Somit be- sagt die Kontrastivhypothese, dass Lernende in der Lage sind, muttersprachliche Ge- wohnheiten problemlos auf eine Zweitsprache zu übertragen. Voraussetzung für ein leichtes Lernen ist allerdings eine Übereinstimmung der Struktur in beiden Sprachen. Ist diese nicht gegeben, kann der Lernprozess mit Schwierigkeiten verbunden sein. Der Transfer aus der Erstsprache kann sowohl positiv als auch negativ konnotiert sein. Von einem positiven Transfer ist dann die Rede, wenn eine Struktur aus der Erstsprache auf die Zweitsprache übertragen wird, vorausgesetzt diese ist sowohl in der Erstsprache als auch in der Zweitsprache angelegt. Negativer Transfer liegt dann vor, wenn eine Über- tragung von der Erstsprache in die Zweitsprache von Statten geht, wobei diese nicht pas- send ist und somit zu einem Fehler führt. Kritik wird an der Kontrastivhypothese aus dem Grund ausgeübt, weil sie den Prozess des Erwerbs nicht als solchen in den Mittelpunkt stellt, sondern sich an einem Vergleich der jeweiligen ausgebildeten Standardsprachen orientiert. Darüber hinaus nimmt sie nur auf die Phonologie und die Syntax Bezug, die Semantik und Pragmatik sowie individuelle Variation und außersprachliche Faktoren – wie beispielsweise das soziale Umfeld – bleiben unberücksichtigt (vgl. Niebuhr-Siebert et al. 2014, S. 31–34).

3.2 Die Identitätshypothese

Basierend auf den Annahmen des Nativismus, der auf Chomsky zurückgeht, wird der Spracherwerb von behavioristischen Lerntheorien abgegrenzt und als kreativer Akt be- schrieben. Chomskys Beobachtungen zufolge geben Kinder Äußerungen von sich, die sie nie zuvor gehört haben, weshalb hier von einem kreativen Potential beim Spracherwerb auszugehen ist. Die Identitätshypothese geht von einer angeborenen Universalgrammatik aus, wobei das Umfeld des Kindes dazu beiträgt, diese auszubauen und zu erweitern. Sie enthält sogenannte Prinzipien und Parameter, wie beispielsweise die Kenntnis über die Wortarten oder die Regularitäten zur Wortstellung. Der Input in einer Sprache ist für eine Parameterfixierung in der jeweiligen Sprache verantwortlich – beispielsweise, dass in ei- nem deutschen Aussagesatz das finite Verb an zweiter Stelle steht. Die Identitätshypo- these besagt, dass der Zweitspracherwerb hinsichtlich des Prozesses und der Erwerbsrei- henfolge ident mit dem Erstspracherwerb verlaufe und die Universalgrammatik als Steu- erung fungiere. Die Kritik an der Identitätshypothese ist darin begründet, dass bis heute

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kein konkreter Nachweis einer Universalgrammatik existiert (vgl. Niebuhr-Siebert et al.

2014, S. 34–35).

3.3 Die Interlanguagehypothese

Sowohl die Kontrastiv- als auch die Identitätshypothese gelten heutzutage als überholt.

Durchsetzen konnte sich die Interlanguagehypothese, die davon ausgeht, dass der Zweit- spracherwerb – ebenso wie jeder andere Spracherwerb – ein kreativer Aneignungsprozess ist, der vom Lernenden gestaltet wird. Lernende entwickeln grammatische Systeme, so- genannte Interlanguages bzw. Lernersprachen. Diese Grammatiksysteme beinhalten Ele- mente der Zielsprache und Erstsprache sowie jene Elemente, die in keiner der beiden Sprachen vorliegen. Lernende bilden Hypothesen über die Struktur der Sprache, die in weiterer Folge zum Experimentieren dienen. Aufgrund dieser Annahme ist es möglich, im Sprachunterricht differenzierte und lernendenorientierte Vorgehensweisen zu wählen sowie Normabweichungen als Lernleistung anzuerkennen und aus dem Prozess der Hy- pothesenbildung einen positiven Nutzen zu ziehen. Da in der Interlanguagehypothese In- terferenzen (siehe Kapitel 4.1.) aus Erst- und Zweitsprache nicht ausgeschlossen werden und das bereits erworbene Wissen für den Zweitspracherwerb nützlich ist, kann sie als Revision der Identitäts- und Kontrastivhypothese betrachtet werden (vgl. Rösch 2011, S.

24–25).

3.4 Die Interdependenz- oder Schwellenhypothese

Die Interdependenzhypothese geht auf Cummins (1979, zit. n. Baur 2001, S. 622) zurück:

„Die Interdependenzhypothese besagt, dass sich die kognitive Entwicklung des In- dividuums auf der Basis der Muttersprache vollzieht und dass die Muttersprache unter zweisprachigen Sozialisationsbedingungen bis zu einem gewissen Niveau vorrangig vor der Zweitsprache gefördert werden muss (erstes Schwellenniveau), wenn negative Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung vermieden werden soll.

Wenn sich die Muttersprache voll entwickeln kann, und auch Lese- und Schreibfer- tigkeiten in der Muttersprache ausgebildet werden (zweites Schwellenniveau), er- geben sich kognitive Vorteile für bilingual sozialisierte Individuen“.

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Die Einteilung in drei Schwellen suggeriert, die Ausbildung einer Sprache sei für den Zweitspracherwerb obligat. Wenn keine hohe Kompetenz in der Erstsprache vorliegt, kann auch keine hohe Kompetenz in der zweiten Sprache erzielt werden. Diese Annahme stützt sich außerdem auf die Unterscheidung zwischen einer situationsgebundenen und einer kognitiv-akademischen Sprachfertigkeit:

BICS (Basic Interpersonal Communicative Skills) nehmen Bezug auf die Basis- sprache, das Erschließen einer Bedeutung erfolgt über den Kontext sowie über eigene soziale und kulturelle Erfahrungen, aber auch nonverbal.

CALP (Cognitive Academic Language Proficiency) setzt eine höhere Sprach- kompetenz – vor allem in der Grammatik – voraus, da die Bedeutung aus rein sprachlichen Informationen erschlossen wird. CALP beschreibt sohin eine kogni- tiv-akademische Sprachfähigkeit, die auch als Bildungssprache bekannt ist (vgl.

Rösch 2011, S. 25–26).

Cummins (2017, S. 106) konstatiert, dass die Oberflächenmerkmale zweier Sprachen zwar unterschieden werden, allerdings liegt ihnen eine kognitive Kompetenz zugrunde, die zur Erleichterung eines Transfers beiträgt. Er veranschaulicht dies anhand folgendem Beispiel: In einem zweisprachigen Spanisch-Englisch-Programm in den USA, das zur Entwicklung der spanischen Lese- und Schreibfähigkeiten beitragen soll, kommt es nicht nur zu einer Entwicklung der spanischen Fähigkeiten, sondern auch zu einer Erweiterung der konzeptionellen und sprachlichen Kompetenzen – die stark mit der Entwicklung der Alphabetisierung in der Mehrheitssprache Englisch – zusammenhängen. Obwohl die Oberflächenaspekte – wie beispielsweise Aussprache und Sprachgewandtheit – verschie- dener Sprachen unterschieden werden, gibt es eine zugrunde liegende kognitive/akade- mische Kompetenz, die in allen Sprachen üblich ist. Diese gemeinsamen zugrunde lie- genden Kenntnisse ermöglichen die Übertragung kognitiver/akademischer Kenntnisse von einer Sprache auf eine andere.

In Kapitel 3 wurden theoretische Ansätze zum Zweitspracherwerb diskutiert, wobei un- terschiedliche Spracherwerbshypothesen vorgestellt wurden, die demonstriert haben, dass die Erstsprache beim Zweitspracherwerb eine bedeutende Funktion innehat. Diese Erkenntnisse, die in der Sprachwissenschaft wohlbekannt sind, bilden den Ausgangs- punkt für Kapitel 4, das den Einfluss der Erstsprache auf den Zweitspracherwerb doku- mentiert.

(23)

4 Der Einfluss der Erstsprache auf den Erwerb der Zweitsprache

Sprachmischungen demonstrieren den Einfluss der Erstsprache auf die Zweitsprache.

Dieser Vorgang – die Übertragung von sprachlichem Wissen von einer Sprache in eine andere – wird als Transfer bezeichnet. Um diesen zu ermöglichen, müssen die Strukturen der beiden Sprachen keine Ähnlichkeit aufweisen (vgl. Jeuk 2010, S. 42–43).

4.1 Interferenz

Das Resultat eines Transfers nennt man Interferenz, wobei eine Unterscheidung notwen- dig ist, ob eine vorübergehende Regelübertretung in einer bestimmten kommunikativen Situation entstanden ist, oder ob es sich um Fehlkonzepte über sprachliche Strukturen handelt, die sich im Sprachgebrauch manifestiert haben. Bei der Interferenz werden die morphotaktischen Strukturen und Regeln aus der Erstsprache in die Zweitsprache über- tragen. Ein Kind, dessen Erstsprache Italienisch ist und Deutsch als Zweitsprache lernt, formuliert den Satz „Ich habe gehabt Fieber“ aufgrund des Satzmusters im Italienischen und transferiert dieses Muster ins Deutsche, indem es das infinite Verb vor das Objekt positioniert. Dies ist nämlich die gängige und korrekte Satzstellung eines Hauptsatzes im Italienischen und somit die Annahme für eine Referenz, da die Regel aus dem Erstsprach- system in die Zweitsprache transferiert wurde (vgl. ebda).

Interferenzen dürfen jedoch keineswegs als einzige Fehlerquelle beim Zweitspracherwerb postuliert werden. Auch interlinguale Fehler – wie beispielweise Übergeneralisierung – sind als Ursache zu nennen (vgl. Niebuhr-Siebert et al. 2014, S. 34).

4.2 Code-Switching

Beim Code-Switching, das auch Kodeswitching, Kodeumschaltung, Kodewechsel, Sprachwechsel oder Sprachalternation genannt wird (Oksaar 2003, S. 139), werden zwei oder mehrere Sprachen abwechselnd verwendet, wobei ein Wechsel einzelne Wörter, Satzteile oder gar ganze Sätze umfassen kann.

„In code-switched discourse, the items in question form part of the same speech act. They are tied together prosodically as well as by semantic and syntactic

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relations equivalent to those that join passages in a single speech act” (Romaine 1995, S. 121).

4.3 Code-Mixing

Muysken (2000; zit. n. Riehl 2015) vermeidet grundsätzlich den Terminus Code-Swit- ching und spricht von Code-Mixing. Damit beschreibt er das Phänomen einer bilingualen Rede. Er unterscheidet dabei zwischen den verschiedenen Prozessen:

• Insertion: Einbetten von Einheiten aus einer anderen Sprache

• Alternation: Beginn des Satzes in einer Sprache und Ende des Satzes in einer an- deren

• Kongruente Lexikalisierung: Sätze, mit Verwendung der gleichen grammatikali- schen Struktur und einem unterschiedlichen mentalen Lexikon

Begriffe, die den Sprecherinnen und Sprechern in der jeweiligen Sprache nicht zur Ver- fügung stehen, werden durch Begriffe aus der anderen Sprache ersetzt. Das Resultat ist ein Gemisch aus einzelnen Wörtern sowie grammatikalischen Strukturen (vgl. Jeuk 2010, S. 44). Der Terminus „Code-mixing“ steht also für alle Zusammensetzungen, in denen einzelne lexikalische Komponente und grammatikalische Strukturen aus zwei oder meh- reren Sprachen in einem Satz vereint werden (vgl. Riehl 2015, 107ff.).

Sprachmischungen dürfen keineswegs – weder innerhalb privater Kommunikation noch im schulischen Kontext – als Mangel betrachtet werden. Ganz im Gegenteil, so kann Code-Switching beispielsweise den Schülerinnen und Schüler dabei helfen, auf den Wortschatz ihrer Erstsprache zurückzugreifen, wenn er in der Zweitsprache in einer be- stimmten Situation nicht aufrufbar ist. An dieser Stelle ist die Sensibilität der Lehrkräfte gefordert, die ein Feingefühl dafür aufbringen müssen, um zu erkennen, dass die sprach- liche Kreativität der Kinder ein enormes Potential darstellt. Eine weitere Möglichkeit, Sprachmischungen im Unterricht zuzulassen, würde sich im Zuge des Verfassens kreati- ver Texte ergeben, die in allen Sprachen der Lernenden geschrieben werden dürfen.

Bislang stand unter anderem der Einfluss der Erstsprache auf den Zweitspracherwerb im Fokus. Dieser Aspekt leitet das nachstehende Kapitel ein, welches von der Bedeutung der Erstsprache für den Zweitspracherwerb handelt. In diesem Zusammenhang werden auch das Potential und das Prestige der Erstsprache sowie der muttersprachliche Unterricht thematisiert.

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5 Die Bedeutung der Erstsprache für den Zweitspracherwerb

„Ich will nicht, dass mein Kind Türkisch (Kroatisch, Serbisch, Bosnisch, ...) etc.

lernt. Es soll so schnell wie möglich Deutsch lernen. Da schadet es nur, wenn es den muttersprachlichen Unterricht auch noch besucht“ (de Cillia 2016, S. 3).

Die Muttersprache beherrscht das Kind ohnehin, wozu muss es die also noch in der Schule lernen? Sie wird ohnehin im Alltag in der Familie gesprochen. Fremdsprachigen Kindern muss verboten werden, sich untereinander in ihrer eigenen Muttersprache zu unterhalten, da sie sonst die deutsche Sprache nicht erlernen. Argumente dieser Art hört man nicht selten im privaten und schulischen Kontext. Behauptungen werden aufgestellt, die etwas über Zweisprachigkeit und die Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern sowie über den Wert der Muttersprachen von Zuwandererkindern aussagen. Allerdings ist in- nerhalb der Pädagogik seit den 1960er Jahren bekannt, dass die Muttersprache für die sprachliche Entwicklung eines Kindes eine elementare Rolle spielt (vgl. de Cillia 2016, S. 3). Die Förderung der Erstsprache von bilingualen Kindern hat auch eine affektive Wirkung: Das Selbstbewusstsein der Angehörigen wird gestärkt und erzielt eine positive Grundhaltung zur eigenen Sprache. Positive Effekte ergeben sich auch auf schulischer Ebene, in Form von Motivation sowie der Ermöglichung einer Berührung zwischen In- stitution Schule und dem Elternhaus (vgl. de Cillia 2016, S. 5).

Wenn es darum geht, über den Einfluss der Erstsprache auf die Zweitsprache zu disku- tieren, werden in der Wissenschaft die Schwellenniveauhypothese sowie die Interdepen- denzhypothese herangezogen. Diese stellen die Basis der Forschungsergebnisse der UN- ESCO-Studie von Skutnabb-Kangas und Toukomaa (1976) dar. Ihre Untersuchung ver- deutlicht, dass finnische, in Schweden die Schule besuchende Migrantenkinder, die in ihrem Herkunftsland Finnland mehrere Jahre am Schulunterricht teilnahmen, ein höheres sprachliches Niveau aufweisen als finnische Schülerinnen und Schüler, die nur in Schwe- den die Schule besuchten. Dies bedeutet, dass jene Kinder, deren Erstsprache beim Erst- kontakt mit der Zweitsprache ausreichend entwickelt ist, auch in der Zweitsprache eine bessere Sprachkompetenz erreichen. Erfolgt die Konfrontation mit der Zweitsprache recht früh und wird die Erstsprache nicht weiter gefördert, findet die Entwicklung der Fähigkeiten in der Erstsprache nur mehr langsam oder kaum statt (vgl. Tunç 2011, S. 55).

Gute Erstsprachkenntnisse müssen keine Garantie für eine hohe Kompetenzen in der Zweitsprache sein. Umgekehrt bedeutet eine schwächer ausgebildete Erstsprache nicht,

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dass zwangsläufig eine ungünstige zweitsprachliche Entwicklung folgt. Wichtig ist, dass die Bedingungen des zweitsprachlichen Umfelds qualitätsvoll strukturiert sind (vgl.

Charlotte Bühler Institut 2016c, S. 28).

5.1 Das Potential der Erstsprache

Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass die Kompetenzen der Kinder in der/den Erstsprache/n eine wesentliche Ressource darstellen. Das allgemeine Wissen über Sprache und ihre Funktions- und Einsatzmöglichkeiten sowie die Kenntnisse über struk- turelle Prozesse aus einer Erstsprache ist für den Zweitspracherwerb von großem Nutzen.

Weiters können Vorleseerfahrungen auf eine neu zu lernende Sprache transferiert wer- den. Eine wesentliche Rolle spielt die Erstsprache beim Aufbau des Wortschatzes. Spe- ziell in der Anfangsphase beziehen Kinder neue Wörter oft auf bereits vorhandene Be- deutungen ihrer Erstsprache. Im Laufe der Zeit entwickeln sich dann neue, eigenständige Wörter, die vom erstsprachlichen Wissen losgelöst sind (vgl. ebda). Der wichtige Einfluss der Muttersprache soll nun anhand eines Beispiels veranschaulicht werden: Rehbein (1987; zit. n. de Cillia 2016, S. 5) berichtet von einer Untersuchung mit Kindern türki- scher Muttersprache in Hamburg. Ziel war die Nacherzählung einer Geschichte auf Deutsch, wobei eine Gruppe diese nur auf Deutsch gehört hatte, während eine andere Gruppe die Geschichte auf Türkisch vernommen hatte. Da die Geschichte in der Mutter- sprache rezipiert wurde, war bei der zweiten Gruppe das Textverständnis gesichert – diese erzielte signifikant bessere Ergebnisse als die andere Gruppe. Dies zeigt auf, dass man- gelndes Hörverstehen zu mangelhafter Sprachproduktion in der Zweitsprache führt. Dort, wo das Verstehen gesichert ist, sind auch die produktiven Äußerungen in der Zweitspra- che Deutsch besser. Daraus ergibt sich folgende Schlussfolgerung: Wenn sprachliche Fer- tigkeiten wie Hörverstehen oder Leseverstehen in der L1 entwickelt sind, können diese auch in der L2 freigesetzt werden (vgl. de Cillia 2016, S. 5). Auch die Strategie des Code- Mixing kann bei der Fortführung einer Kommunikation ein Potential darstellen, indem Elemente der Erstsprache in die deutsche Satzstruktur eingebaut werden. Kinder greifen auf Wörter aus ihrer Erstsprache zurück, wenn sie die äquivalenten Wörter im Deutschen nicht abrufen können. Diese lernersprachlichen Produkte stellen kreative Kreationen in- nerhalb des dynamischen Prozesses – eine Sprache zu erlernen – dar.

Wie bereits in Kapitel 4.3. erläutert, stellen Sprachmischungen keinen Makel dar, sondern bergen ein Potential, das auch von Lehrpersonen erkannt werden sollte.

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Hörverstehen sowie eine ausgeprägte Lese- kompetenz in der L1 dazu beitragen, die sprachliche Produktivität in der L2 zu fördern.

5.2 Das Prestige der Erstsprache

Da im empirischen Teil dieser Arbeit ein Interview in einer Bildungseinrichtung der Ele- mentarpädagogik geführt wird, erscheint es notwendig, der Leserschaft in diesem Kapitel einen Einblick in den Kommunikationsalltag im Kindergarten zu gewähren.

Elementare Bildungseinrichtungen erfüllen einen wesentlichen Beitrag, indem sie Kinder in ihrem Spracherwerbsprozess begleiten und unterstützen. Der Kindergartenalltag ist von Sprache und Kommunikation geprägt.

„Je jünger ein Kind oder je fremder ihm die Sprache ist, umso wichtiger sind posi- tive emotionale Beziehungen. Dies muss vor allem in alterserweiterten Gruppen mit sehr jungen Kindern mit unterschiedlichen Erstsprachen beachtet werden“ (Hart- mann et al. 2009, S. 50–51).

Eine auf Vertrauen beruhende Basis sowie eine intakte Beziehung zu den Bezugsperso- nen ist daher die Grundlage für jedes Sprachenlernen. Die Wertschätzung und Förderung der Individualität der Kinder wird speziell im respektvollen und sensiblen Umgang mit deren Familiensprachen sichtbar. Besonders Kinder, die mit anderen Erstsprachen als Deutsch in elementare Bildungseinrichtungen eintreten, profitieren von einer individuel- len Begegnung. Im Kindergarten machen sie die Erfahrung, dass Sprache nicht nur zur Bewältigung von Alltagssituationen und für den Informationsaustausch fungiert, sondern auch zur Mitteilung der eigenen Gefühlslage, Bedürfnisse und Vorstellungen. Die aktive und vor allem aber wertschätzende Einbeziehung der Erstsprachen der Kinder trägt zu einer Stärkung des Selbstvertrauens bei, ist darüber hinaus eine Stütze für ihre Identität und ein Ansporn dafür, auch die Zweitsprache aktiv zu erproben. Dies kann auf unter- schiedlichste Art und Weise – beispielsweise in Form von mehrsprachigen Liedern oder durch das Vorlesen mehrsprachiger Bücher – realisiert werden (vgl. Charlotte Bühler Institut 2016c, S. 40).

Der Frage, welche Sprachen und Sprachformen über ein hohes und welche über ein ge- ringes Prestige verfügen, gehen Dirim und Mecheril (2017) nach. Sie beschäftigten sich

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mit der Bedeutung von Sprachverboten bzw. von sogenannten „Geboten“, mit denen sich betroffene Schülerinnen und Schüler im Schulalltag konfrontiert sehen. Festzuhalten ist, dass in Deutschland und Österreich die spezifischen sprachlichen Machtverhältnisse dazu beitragen, dass sowohl für die Lernenden als auch ihre Eltern, wenn sie zu Hause vor- nehmlich andere Sprachen als Deutsch sprechen, das Sprechen grundlegend eine Er- schwernis darstellt. Die Schule offenbart sich als Ort, an dem gewisse Sprachen von ge- wissen Individuen problematisch in Erscheinung treten. Den Lernenden wird vermittelt, dass ihre nicht deutschen Familiensprachen zwar auch Kommunikationsmittel sind, dass diese allerdings in der Schule keinen funktionalen Wert haben. Die Schlussfolgerung, die sich darauf ergibt, ist Folgende: Die Schülerinnen und Schüler lernen, dass ihre Sprache kein Prestige besitzt und dass Sprache nicht gleich Sprache ist (vgl. Dirim und Mecheril 2017, S. 458).

Sprachen dürfen in keiner Bildungseinrichtung – weder in der Elementarbildung noch in der Primar- und Sekundarstufe – zu einem Problem deklariert werden. Es darf keineswegs präsupponiert werden, dass manchen Sprachen Anerkennung zu Teil wird und andere wiederum unerwünscht sind.

5.3 Muttersprachlicher Unterricht

Ein abrupter Abbruch der in der Familie erworbenen Sprache erfolgt meist bei Kindern mit dem Eintritt in die Schule. Kinder, deren Erstsprache Bosnisch, Serbisch, Kroatisch, Albanisch, Türkisch, Rumänisch, Ungarisch etc. ist, werden von einem Tag auf dem an- deren auf Deutsch alphabetisiert (vgl. de Cillia 2016, S. 4). Ein Minimum an mutter- sprachlicher Förderung stellt die Alphabetisierung in der Muttersprache sowie ausrei- chender muttersprachlicher Unterricht – bestenfalls in den ersten drei bis vier Jahren der Schulpflicht – dar (vgl. de Cillia 2016, S. 7). Daher soll in diesem Kapitel die Wichtigkeit des muttersprachlichen Unterrichts hervorgehoben werden.

„Ziel des muttersprachlichen Unterrichts ist der Erwerb der Muttersprache zur Herstellung von Kontinuität und Stützung der Persönlichkeitsentwicklung, ausge- hend von der Zugehörigkeit zum Sprach- und Kulturkreis der Eltern“ (Charlotte Bühler Institut 2016b, S. 35).

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Unter dem Titel „Muttersprachlicher Zusatzunterricht“ fand dieser im Rahmen eines Schulversuchs in den frühen Siebzigerjahren an allgemein bildenden Pflichtschulen (Volksschulen, Hauptschulen, Sonderschulen, Polytechnische Schulen) seinen Ursprung.

Auf Grundlage des Lehrplans wurde der muttersprachliche Unterricht im Jahre 1992 in Volks- und Sonderschulen eingeführt. Zur Teilnahme berechtigt sind alle Kinder mit an- deren Erstsprachen als Deutsch sowie Lernende, die in der Familie bilingual aufwachsen, ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft und ihrer Deutschkompetenz. Ziel des muttersprach- lichen Unterrichts ist es, die Bikulturalität zu entwickeln und die Zweisprachigkeit zu festigen. Schülerinnen und Schüler sollen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und Iden- titätsbildung gefördert werden. Der muttersprachliche Unterricht wird integrativ oder als zusätzliches Angebot zum Unterricht am Nachmittag angeboten. Eine Führung parallel zum Unterricht ist nur dann legitim, wenn es dadurch zu keinem Versäumnis eines Pflichtgegenstandes kommt (vgl. Charlotte Bühler Institut 2016a, S. 22–24).

In diesem Kapitel wurde ausführlich über die Bedeutung der Erstsprache für den Zweit- spracherwerb sowie über das Potential und das Prestige der Erstsprache diskutiert. In die- sem Kontext erfolgte auch die Vorstellung des Konzepts des muttersprachlichen Unter- richts, wobei konstatiert wurde, dass ein ausreichender muttersprachlicher Unterricht die Mindestforderung an muttersprachlicher Förderung bildet.

6 Mehrsprachigkeit im Kontext Schule

Wenn von mehrsprachigen Ländern die Rede ist, sind automatisch Länder wie Kanada oder auch die Schweiz in unseren Gedanken, kaum jedoch deutschsprachige Länder wie Deutschland oder Österreich. Dass auch diese Länder mehrsprachig sind, und es immer schon waren, ist uns dabei oft nicht bewusst. Faktum ist, dass viele Kinder heute in einer mehrsprachigen Situation aufwachsen, in der sie beispielsweise in der Schule mit einer anderen Sprache konfrontiert sind als zu Hause. Obwohl dies keine neuen Erkenntnisse sind, findet der Unterricht in Deutschland wie auch in Österreich weitgehend einsprachig, nämlich in der Unterrichtssprache Deutsch, statt (vgl. Dirim und Perner 2019, S. 109).

Unser Leben ist von Beginn an von einer sprachlichen Vielfalt geprägt, im privaten Um- feld sowie in der Schule sind wir von verschiedenen Sprachen, Dialekten, regionalen Di- alekten und Soziolekten umgeben. Migrationsbedingte Mehrsprachigkeit zeichnet sich darüber hinaus durch das “Code-Switching” – also das Mischen von Sprachen – welches bereits in Kapitel 4.2. erläutert wurde, aus (vgl. Dirim und Perner 2019, S. 110–111).

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Mehrsprachigkeit wird im schulischen Kontext oft problematisch gesehen, vor allem, da sie meist in jenen Situationen zur Sprache kommt, wenn die deutsche Sprache als nicht in ausreichendem Maße beherrscht wahrgenommen wird. Migrationsbedingte Mehrspra- chigkeit in der Schule kann sich somit rasch zu einem Problem entwickeln, das aber hauptsächlich darauf zurückzuführen ist, dass Schulen an einem monolingualen Konzept festhalten, obwohl Schülerinnen und Schüler mehrsprachig aufwachsen (vgl. Dirim und Perner 2019, S. 112–114). So wird beispielsweise im Deutschunterricht der Vermittlung der Standardsprache die höchste Priorität beigemessen, da es sich in gesteuerten Unter- richtssituationen vor allem um die „Vermittlung einer kodifizierten, in öffentlichen Sprachgebrauchssituationen verwendeten Varietät” handelt (Lenzhofer und Scherr 2015, S. 153). Demzufolge wird unter der Standardsprache eine „ortsunabhängig gültige, ho- mogen kodifizierte Varietät der Sprechergemeinschaft” verstanden. Vernachlässigt wer- den jedoch an dieser Stelle die Aspekte, dass eine Sprache hinsichtlich Ort und Kontext variiert und somit niemals als eine statisch unveränderliche Varietät betrachtet werden kann. Des Weiteren gibt es keinen „unabhängigen” Standard, der sich von diatopischen Merkmalen nicht beeinflussen lässt (vgl. Lenzhofer und Scherr 2015, S. 153–154). Aus diesem Grund gilt es, vor allem Alltagssituationen zu berücksichtigen, die einen massiven Einfluss auf den Erwerb der Zielsprache haben. Bedauerlicherweise wird in Lehrwerken des Deutschunterrichts oftmals nur auf phonologische, lexikalische oder landeskundliche Unterschiede innerhalb des deutschen Sprachraums Bezug genommen. Dieser Mangel trägt dazu bei, dass Differenzen zwischen den Unterrichts- und den eigentlichen alltägli- chen Sprachgebrauchssituationen, die sich im weiteren Sinne sogar zu „Erfahrungs- schocks” entwickeln können, entstehen. Diese wirken sich einerseits negativ auf den Lernerfolg sowie andererseits auf die Lernmotivation der Schüler und Schülerinnen aus (vgl. Lenzhofer und Scherr 2015, S. 154). Bezugnehmend auf die Mehrsprachigkeitsrate des Nationalen Bildungsberichts Österreich erscheint es bedeutend darauf hinzuweisen, dass jedes vierte Volksschulkind in Österreich eine andere Erstsprache als Deutsch spricht. Erwähnenswert ist dabei Österreichs Hauptstadt Wien, in der mehr als die Hälfte der Primarschülerinnen und -schüler zu Hause nicht Deutsch spricht. Den ersten Platz der nicht-deutschen Erstsprachen nehmen dabei die BKS-Sprachen – also Bosnisch, Serbisch und Kroatisch – ein, dicht gefolgt von Türkisch (vgl. Lenzhofer und Scherr 2015, S. 158).

Aufgrund dieser Sprachenvariation in österreichischen Klassenzimmern liegt es auf der Hand, dass sich wegen der unterschiedlichen Herkunftssprachen bestehende Fehlerquel- len durch sprachliche Eindrücke aus dem ungesteuerten Spracherwerb im Land der Ziel- sprache vordergründig verstärken. Daher sollten Lehrpersonen sich verpflichtet fühlen,

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diese Art der multikausalen Zusammenhänge im Unterricht zu bedenken (vgl. Lenzhofer und Scherr 2015, S. 165). Somit ist der Einfluss des ungesteuerten Zweitspracherwerbs auf den gesteuerten Erwerb nicht zu leugnen. Nichtsdestotrotz sollten sprachliche Abwei- chungen nicht voreilig als Fehler deklariert werden, da diese sprachlichen Varianten in vielen Fällen nicht unbedingt als falsch gelten dürfen, sondern im Kontext oftmals einfach nur unpassend erscheinen.

6.1 Bildungsmodelle in der Praxis

Nach Dirim/Perner (2019, S. 114) gilt es folgende Tatsachen zur Mehrsprachigkeit im Auge zu behalten:

1. Je früher mehrsprachige Kinder Deutsch lernen, umso weniger unterscheiden sie sich in diesem Lernprozess von einsprachig deutschen Kindern.

2. Maßgeblich ist neben dem Anfangszeitpunkt auch die Intensität, die Menge und die Qualität des sprachlichen Inputs.

3. Die zu erlernende deutsche Sprache und die bereits vorhandenen Sprachen mehr- sprachiger Kinder und Jugendlicher beeinflussen sich gegenseitig.

Monolinguale Modelle von Unterricht sind dadurch charakterisiert, dass im Unterricht nur eine – im Fall von Österreich und Deutschland die deutsche – Sprache zum Einsatz kommt. Im schlechtesten Fall erhalten mehrsprachige Schülerinnen und Schüler darüber hinaus kaum Unterstützung, wenn es um den Erwerb der Zielsprache geht. Bilinguale Bildungsmodelle eignen sich wesentlich besser dafür, Lernende mit einem mehrsprachi- gen Kontext Unterstützung zu bieten. Schülerinnen und Schüler werden hier durch unter- schiedliche didaktisch-methodische Verfahren in der Zielsprache und einer Migrations- sprache unterrichtet; beachtenswert ist hierbei, dass auch jene Lernende aus diesem Sys- tem einen Profit ziehen können, die weder die eine noch die andere Sprache sprechen (vgl. Dirim und Perner 2019, S. 115–116).

Folgende Maßnahmen können zur Überwindung der monolingualen Praxis beitragen:

• Sprach- und Fachunterricht sollen fließend ineinander übergehen und nicht iso- liert erfolgen.

• Fachunterricht soll sprachsensibel und sprachbewusst erfolgen.

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• Über die Schule hinausgehend muss Unterstützung bei der Aneignung von Deutsch als Fremdsprache bzw. Zweitsprache sichergestellt sein.

• Einzelne Fächer sollen in der Migrationssprache abgehalten werden und diese soll ebenso wie die deutsche Sprache als Lernmedium behandelt werden.

• Sprachförderung soll diagnosegestützt erfolgen, damit das Förderangebot darauf abgestimmt werden kann, wann die Lernenden bereit für die nächste sprachliche Entwicklungsstufe sind (vgl. Dirim und Perner 2019, S. 116–117).

6.2 Pädagogische Expertise

Um in der Praxis eine Annäherung an das Phänomen Sprache zu ermöglichen, ist es not- wendig, dass Pädagoginnen und Pädagogen über fundierte theoretische Kenntnisse ver- fügen, die sie zu einer diagnostischen Kompetenz befähigen. Im Zentrum der pädagogi- schen Überlegungen steht das magische Viereck, zusammengesetzt aus Hören – Sprechen – Lesen – Schreiben (vgl. Jung und Günther 2016, S. 16). Laut Wagner (2010; zit. n.

Charlotte Bühler Institut 2016c, S. 37) stellt Mehrsprachigkeit in einer pluralistischen Gesellschaft eine wertvolle Ressource und Bereicherung für Bildungsprozesse dar. Ziel der Sprachförderung im mehrsprachigen Kontext ist es, Gleichberechtigung und Chan- cenausgleich zu gewährleisten, ohne dabei die individuellen Unterschiede außer Acht zu lassen. Eine fortdauernde Reflexion der eigenen Denkweisen und Handlungsmöglichkei- ten ist ein wesentlicher Bestandteil der Sprachförderung. Die Entwicklung der sprachli- chen Potentiale der Schülerinnen und Schüler hängt somit zum großen Teil von den vor- handenen Kompetenzen der Lehrkräfte ab (vgl. Charlotte Bühler Institut 2016c, S. 37).

„Zielführend ist deshalb die bewusste Verknüpfung des Handelns von Erzieherin- nen mit einer reflektierten und spezifischen Förderung der phonologischen, lexika- lischen, morphologischen, syntaktischen und pragmatischen Kompetenzen mehr- sprachiger Kinder“ (Ehrmann 2014, S. 256).

Die meisten Befunde aus der Spracherwerbsforschung plädieren für einen Unterricht in der Erstsprache von Kindern mit anderen Erstsprachen, für zweisprachige Erziehung und eine balancierte Zweisprachigkeit als Erziehungsziel. Ziel ist es, die Entwicklung und Förderung der vorhandenen Zweisprachigkeit zu forcieren, anstatt sie aussterben zu las- sen. Faktum ist, dass das gleichzeitige Erlernen der Erstsprache mit der Zweitsprache in der Schule kein Hindernis darstellt. Der Zweitspracherwerb wird keineswegs behindert.

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Das Gegenteil ist der Fall: Eine stabile Erstsprache fördert nicht nur den Erwerb einer Zweitsprache, sie erleichtert ihn auch. Bilinguale Kinder verfügen über eine höhere Kom- petenz zur sprachlichen Analyse als monolinguale Kinder. Weiters sind Qualität und Quantität von Spracherwerbsstrategien besser ausgeprägt. Positive Effekte auf die verba- len und nonverbalen Intelligenzleistungen können ebenfalls verzeichnet werden. All dies bestätigt eine empirische Untersuchung von Boeckmann (1997; zit. n. de Cillia 2016, S.

7). Bei den österreichischen Minderheiten in Kärnten und im Burgenland ist die Berück- sichtigung der L1 eine Selbstverständlichkeit. Zweisprachig erzogenen Kinder mit kroa- tischer bzw. ungarischer Muttersprache haben an burgenländischen Schulen keinerlei Nachteile – sondern den Vorteil einer zweisprachigen Kompetenz, die mit einer über- durchschnittlich kognitiven Entwicklung einhergeht. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen außerdem einen Profit auf Seiten der einsprachig erzogenen Kinder der Mehrheits- bevölkerung, resultierend aus dem Besuch der zweisprachigen Schule (vgl. de Cillia 2016, S. 7).

6.3 Legitime und illegitime Sprachformen

Warum nicht jede Sprache in aller Munde sein darf (vgl. Dirim und Mecheril 2010), soll in diesem Kapitel geklärt werden. Dirim und Mecheril (2010, S. 99) verweisen auf die Dimension der Macht, die Sprache(n) zugesprochen wird, indem sie folgende Fragen auf- werfen:

„Wer ist befugt wann, wie, zu wem und über wen und was zu sprechen? Welche Sprachen und Sprechweisen gelten (…) als legitime Sprachen? Wer gilt als legi- time/r Sprecher/in einer Sprache?“

Sprache fungiert in diesem Kontext nicht als „technisches“ Kommunikationsmittel, son- dern mitunter als denkbares Instrument zur Herstellung unterschiedlicher Positionen in- nerhalb einer Gesellschaft, denn Sprache spielt bei der Teilhabe an sozialen, politischen und ökonomischen Prozessen eine wesentliche Rolle. Die Partizipation an Vorgängen dieser Art wird nicht nur an allgemeinen Sprachkompetenzen festgemacht, sondern da- ran, in welcher Sprache diese Kompetenzen auftreten und welche Wertschätzung diese Sprache in einer Gesellschaft erfährt. Das Resultat dieser Wertung von Sprachen ist eine Einteilung in legitime und illegitime Sprachen (vgl. Dirim und Mecheril 2010, 99ff.). In diesem Kontext gehen Dirim und Mecheril (2017) der pädagogischen Frage nach, wie

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sich die migrationsbedingte Mehrsprachigkeit auf Zugehörigkeitsverhältnisse im Bil- dungssystem auswirken. Sie richten den Blick auf das schulische Geschehen und führen als Beispiel die Verwendung von Sprachen in den Räumlichkeiten einer öffentlichen Schule an, welches vor rund sechs Jahren für mediale Diskussionen gesorgt hat. Der kon- krete Fall veranschaulicht das Verbot der Verwendung von Migrationssprachen an einer öffentlichen Schule in Wien, welches von der Presse sogar fälschlicherweise als ‚Fremd- sprachenverbot‘ diskutiert wurde. „Amtssprache Deutsch“ ist der Titel des Schreibens einer Mödlinger Direktorin, dessen folgender Text verdeutlicht, dass es sich um Migrati- onssprachen handelt, deren Gebrauch untersagt wird, auch wenn diese nicht explizit an- geführt werden (Dirim und Mecheril 2017, S. 453):

Liebe Schülerinnen und Schüler!

Auf Grund eines interkulturellen Konfliktes mit dem Reinigungspersonal wird da- rauf hingewiesen, dass im gesamten Schulhaus (auch in den Pausen) nur die Amts- sprache Deutsch eingesetzt werden darf.

Einzige Ausnahme: Die in der Schule unterrichteten lebenden Fremdsprachen = Englisch/Spanisch/Italienisch/Französisch im Unterricht bzw. mit den betreffenden Lehrern/innen.

Das gilt auch für Telefonate. Sollte ein Schüler/eine Schülerin mit den Eltern nur in der anderen Sprache kommunizieren können, können diese Telefongespräche nur in einem Bereich der Schule geführt werden, wo sich keine anderen Personen auf- halten, die sich auf irgendeine Art beleidigt fühlen könnten.

OStR Mag. Marina Röhrenbacher e.h.

Schulleiterin Mödling, 16. März 2015

Diese Zeilen kursierten in den sozialen Medien und sorgten über die Grenzen Niederös- terreichs hinaus für einen massiven Skandal. Dem Schreiben zufolge ist den Schülerinnen und Schülern der dortigen privaten Handelsakademie, einem Ableger der Vienna Busi- ness School, mit Ausnahme des Fremdsprachenunterrichts, ausschließlich Deutsch spre- chen – auch in den Pausen und bei Telefonaten – gestattet. Was sich auch immer unter dem skurrilen Ausdruck „interkultureller Konflikt“ verbergen mag, zeigt dieses Beispiel auf, dass auf die Erklärung „Sprechen von Migrationssprachen“ zugegriffen wird, wenn es um die Identifikation einer Ursache und die Lösung eines potentiellen Problems geht.

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Dieser Erklärungsansatz und seine Plausibilität für die Akteure operiert mit Unterstellun- gen, die hegemoniale Zugehörigkeitsordnungen aufzeigen: Es wird legitimiert, dass Indi- viduen der natio-ethno-kulturell privilegierten Gruppe sich „beleidigt“ fühlen, wenn in ihrer Hörweite in einer nichtdeutschen Sprache kommuniziert wird (vgl. Dirim und Me- cheril 2017, S. 453–454).

Das Verbot des Gebrauchs von Migrationssprachen wird sowohl in Deutschland als auch in Österreich meistens mit dem Wort „Deutschgebot“ thematisiert und praktiziert (vgl.

Dirim und Mecheril 2017, S. 452).

Aus welchen Gründen auch immer Sprachverbote ausgesprochen werden, ob unter der Nennung einer pädagogischen Begründung, Deutsch lernen zu müssen, oder unter dem Vorwand, andere Personen würden sich ausgeschlossen fühlen, sollten sie in keiner Bil- dungseinrichtung an der Tagesordnung stehen. Zuzustimmen ist de Cillia (2016, S. 8), wenn er zu diesem Thema Folgendes festhält:

„Kindern zu verbieten, sich in der Schule in ihrer Muttersprache zu unterhalten, sei es in der Pause, sei es im Unterricht, zeugt nicht nur von mangelnder Sensibilität und einer gehörigen Portion Ethnozentrismus, es verhindert auch, dass das Ver- ständnis des Unterrichtsstoffs gesichert wird, dass die Kinder einander helfen und voneinander lernen. Der Erwerb der ohnehin allgegenwärtigen Zweitsprache Deutsch wird dadurch keineswegs verzögert, sondern eher unterstützt.“

Sprachverbote sollten daher auch nicht situationsbedingt ausgesprochen werden, weder in Pausen- noch in Unterrichtssituationen. Wichtig wäre es, den Kindern die Möglichkeit einzuräumen, einander Unterstützung zu bieten, in welcher Sprache auch immer.

6.4 Die Rolle der Lehrperson

Mit der zunehmenden Migration durch politische und gesellschaftliche Veränderungen erweitert sich die Sprachenvielfalt in den Schulen. Schülerinnen und Schüler verfügen über unterschiedlichstes sprachliches Kapital (Muttersprache, Herkunftssprache, Deutschkenntnisse usw.) und bringen dieses in den Unterricht mit – eine Bereicherung, die eines sensiblen Umgangs bedarf. Der Unterricht von Deutsch als Zweitsprache erfor- dert daher eine neue – vor allem aber reflektierte – Fachdidaktik. Die Prämisse an die

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