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Andrea Bieler. Verletzliches Leben. Horizonte einer Theologie der Seelsorge

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Academic year: 2022

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Verletzliches Leben

Horizonte einer Theologie der Seelsorge Andrea Bieler

A PTL H # # Bie le r Ver le tz lic he s L eb en

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Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie

Herausgegeben von

Eberhard Hauschildt, Franz Karl Praßl und Anne M. Steinmeier

Band 90

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Andrea Bieler

Verletzliches Leben

Horizonte einer Theologie der Seelsorge

Vandenhoeck & Ruprecht

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Mit 4 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 0570-5517 ISBN 978-3-647-62440-2

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2017, Vandenhoeck&Ruprecht GmbH&Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/

Vandenhoeck&Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.

www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

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Für Hans-Martin

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Vorwort

Das vorliegende Buch unternimmt den Versuch, das Thema der Verletzlichkeit als grundlegende Perspektive einer Theologie der Seelsorge zu entfalten. Es greift den interdisziplinären Vulnerabilitätsdiskurs auf und versucht, ihn pastoral- theologisch fruchtbar zu machen. Dabei wird insbesondere die Leibphänome- nologie, aber auch kritische Theoriebildung zum Thema herangezogen und in den praktisch theologischen Gesprächszusammenhang eingespeist. Die Vulne- rabilitätsthematik wird dabei als ein Horizont vorgestellt, vor dem grundlegende biblisch und systematisch theologische Themen im praktisch theologischen In- teresse neu durchbuchstabiert werden können. Auf diese Weise wird die Rede vom verletzlichen Leben theologisch qualifiziert und in ihrer Praxisrelevanz konturiert.

Das Buch richtet sich an Lesende, die dieses zentrale Thema der Seelsorge theologisch weiter vertiefen wollen. Aufgrund des gewählten Zugriffs stellt es weder ein praktisches Seelsorge-Manual dar noch will es ein Handbuch sein, das überblicksartig in die Seelsorgelehre einführt.

Die ersten Skizzen zu diesem Buch sind noch während meiner Tätigkeit an der Pacific School of Religion in Berkeley (Kalifornien) entstanden. Diese Verortung ist in einigen Beispielen reflektiert, die dem US-amerikanischen Kontext ent- stammen. Die Beispiele wurden allerdings so ausgewählt, dass sie auch für den deutschen Kontext von Interesse sind. Die Skizzen wurden an der Kirchlichen Hochschule in Wuppertal/Bethel weiter vertieft.

An beiden Orten habe ich eine Reihe von Lehrveranstaltungen abhalten können, in denen ich mit Studierenden grundlegende Thesen, die dieser Studie zugrunde liegen, diskutieren konnte. Ich danke den Studierenden, die sich auf offene Diskussionsprozesse eingelassen haben und mich herausgefordert haben, meine im Fluss befindlichen Gedanken klarer zu formulieren. In den Wupper- taler Gesprächszusammenhängen war es insbesondere mein Kollege Joachim von Soosten, mit dem ich Überlegungen, die diesem Buch zugrunde liegen, hin und herwenden konnte; ich bin froh, einen so kreativen und gelehrten Theologen getroffen zu haben, der in unvergleichlicher Weise Lust am gemeinsamen theo-

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logischen Denken hat. Darüber hinaus haben mich die Gespräche mit meiner Kollegin Michaela Geiger immer wieder herausgefordert und inspiriert, meine biblisch-theologischen Überlegungen zu überdenken und neu zu formulieren.

Ich danke ihr für das genaue Lesen und für ihr konstruktives Feedback.

In meinen Wuppertaler Jahren haben sich weitere kollegiale Beziehungen entwickelt, die ich als bereichernd erlebt habe. Ich danke besonders Heike Walz, Ángel Méndez Montoya, Angelika Veddeler, Bertold Klappert, Holger Pyka, Johannes von Lüpke, Matthias Stracke und Norma Lennartz.

Ich danke der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel für die Gewährung eines Forschungssemesters sowie der Pacific School of Religion, die mir eine wunderbare „Writing Retreat“ während meiner Zeit als Gastprofessorin in Berkeley im Sommersemester 2015 ermöglicht hat; hier richtet sich mein Dank insbesondere an Bernie Schlager, David Vásquez-Levy, Odette Lockwood-Ste- wart, Inese Radzins und Julia Prinz.

Die Endphase dieses Projektes wurde dankenswerterweise durch ein For- schungsstipendium der John Templeton Foundation unterstützt. Dieses Sti- pendium ermöglicht mir, an dem internationalen und interdisziplinären For- schungszusammenhangThe Enhancing Life Projectunter der Leitung von Wil- liam Schweiker (University of Chicago) und Günter Thomas (Universität Bo- chum) teilzunehmen. Die Gruppe von Forschenden, die sich hier versammelt, ist in besonderer Weise der Vulnerabilitätsforschung verpflichtet, die die Resilienz, Kreativität und Innovationskraft von Individuen und sozialen Systemen sowie die Rolle von Religion in diesem Zusammenhang erforscht. Ich bin insbesondere Pamela Sue Anderson (Oxford) für viele intensive Gespräche dankbar.

Birte Bernhardt, Lisa Ketges und Johanna Güntter haben mich im Rahmen ihrer Tätigkeit am Lehrstuhl für Praktische Theologie in kompetenter, zuver- lässiger und herzlicher Weise bei den Korrektur- und Recherchearbeiten unter- stützt. Für die unverzichtbare Hilfe beim Erstellen der Druckvorlage und des Registers danke ich Anke Leopold.

Die Universität Basel hat die Veröffentlichung dieses Bandes dankenswerterweise durch einen großzügigen Druckkostenzuschuss unterstützt. Darüber hinaus danke ich Christoph Spill und Moritz Reissing vom Verlag Vandenhoeck&Ru- precht für die konstruktive Zusammenarbeit sowie den Herausgebenden der ReiheArbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologiefür die Aufnahme des Bandes.

Ich widme dieses Buch meinem Kollegen Hans-Martin Gutmann, mit dem ich eine lange gemeinsame Wegstrecke über alle Distanzen hinweg gegangen bin.

Vorwort 8

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Unseren Austausch und unsere Freundschaft habe ich immer als ein großes Geschenk erlebt.

Andrea Bieler Basel, im Februar 2017

Vorwort 9

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Inhalt

Vorwort . . . 7

Einleitung . . . 13

1. Facetten fundamentaler Vulnerabilität: Phänomenologische Erkundungen . . . 23

Erste Annäherungen . . . 23

Körper-Haben und Leib-Sein . . . 27

Affizierbarkeit . . . 33

Ambiguität . . . 38

Potenzialität . . . 43

2. Materialisierungen situativer Vulnerabilität . . . 47

Die Grammatik politischer Diskurse . . . 47

Ethische Herausforderungen: Autonomie jenseits der Verletzlichkeit?. 53 Kulturelle Repräsentationen: (Un)verwundbare Helden . . . 61

3. Schatten der Verletzlichkeit: Gottesbilder und -vorstellungen in der Seelsorge . . . 67

Imaginationsräume . . . 67

Der affizierbare Gott . . . 78

Aufwallende Mitgefühle im Neuen Testament . . . 82

Die Apatheia Gottes . . . 85

Vulnerabler Christus . . . 89

Verletzliche Geistkraft . . . 106

Theologische Deutungen leiblicher Verletzlichkeit . . . 109

4. Oszillierende Verletzlichkeit: Der Raum des Pathischen in der Seelsorge . . . 121

Seelsorge zwischen Logos und Ethos . . . 122

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Logifizierungen . . . 122

Seelsorgliches Ethos . . . 129

Im Zwischenraum: Das Pathische . . . 130

Fragilität und Zerstörung des Pathischen . . . 134

Leibliche Affizierungen . . . 138

Fremdheit und Intimität . . . 138

Engung und Weitung . . . 141

Affekte im Raum des Pathischen . . . 143

Der Schmerz: Fremdsein und Vitalität . . . 143

Poimenische und theologische Resonanzen . . . 150

Scham- und Schuldgefühle: Entblößung und Schutz . . . 157

Poimenische und theologische Resonanzen . . . 164

Mitgefühle: Empathie und Differenzsensibilität . . . 169

Zwischen Pathos, Ethos und Logos . . . 174

Ambivalenzen . . . 177

5. Responsivität im Horizont der Verletzlichkeit: Der Fluss des Erzählens in der Seelsorge . . . 183

Narrative Identität . . . 184

Die erzählte Welt des Krankseins . . . 188

Unterbrechungen . . . 188

Metaphorisierungen . . . 190

Erzählgattungen . . . 199

Strukturbildende Themen . . . 202

Theologische und poimenische Resonanzen . . . 206

Das Zerbrechen der Erzählungen . . . 215

Trauma und moralische Verletzung . . . 216

Die Wunde umkreisen: Klagepsalmen in der Seelsorge . . . 219

Hoffnungsvolle Imaginationen im Raum des Pathischen . . . 224

Literaturverzeichnis . . . 229

Register . . . 245 Inhalt 12

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Einleitung

Verletzlich zu sein, in jedem Augenblick unseres Lebens, ist ein Grundzug menschlicher Lebenserfahrung. Verletzlichkeit wahrzunehmen, sie zu deuten und mit ihr umzugehen ist eine zentrale Aufgabe christlicher Lebenskunst und Theologie. Vulnerabilitätsphänomene sind komplex: sie sind multidimensional, ambivalent und fluide. Sie sind leiblich und strukturell verankert. Vulnerabili- tätsphänomene oszillieren in der Lebenswelt, indem verschiedene Aspekte des Leib-Seins-Zur-Welt aus der Potenzialität in die Aktualisierung drängen, aus dem ruhenden Hintergrund in den Vordergrund, aus der Latenz in die Präsenz und vice versa. Dabei entstehen in dynamischer Weise immer wieder neue Konstellationen, in denen die Verletzlichkeit des Lebens eine Gestalt findet.

Seit Jahrhunderten befeuern und stören Vulnerabilitätsphänomene die Welt kultureller und religiöser Imagination und symbolischer Repräsentation. Die Erkundung all dieser Dimensionen ist für die Ausarbeitung einer seelsorglichen Theologie bereichernd, in der die Reflexion von Vulnerabilität zum Ausgangs- punkt gewählt wird.

In der Seelsorgepraxis geht es darum, Menschen inmitten von Vulnerabili- tätserfahrungen anzusehen, sie zu trösten und zu bestärken. Dabei werden As- pekte einer Lebenskunst bestärkt oder eingeübt, die darauf zielen, in Freiheit zu leben, z.B.:„das Sondieren von Wünschen, das Wahrnehmen von Spielräumen und ihren Grenzen, das Bilden von Entscheidungen, die Parteinahme für einen Wunsch, der auf diese Weise die Qualität eines Willens erhält, das Abwägen von Möglichkeiten, einem Willen Gestalt zu geben, das Ergreifen der Initiative, das Heraustreten aus dem Prozess des Überlegens in den des Handelns u.a.m.“1All

1 Wilfried Engemann, Die praktisch-philosophische Dimension der Seelsorge, in: ders.

(Hg.), Handbuch der Seelsorge, Grundlagen und Profile, Leipzig22009, 308–322, 311. Enge- mann entwickelt seine Vorstellung von der Aneignung eines Willens als Dimension der Seelsorge im Gespräch mit dem praktisch-philosophischen Entwurf, den Peter Bierivor- gelegt hat. Vgl.ders., Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München/Wien 2001.

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diese Aspekte gehören nach Wilfried Engemann zur Stärkung einer Lebenskunst,

„unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen.“2 Die seelsorgliche Ermutigung, ein Leben aus Leidenschaft zu führen, wird sich in sensibler und kritischer Weise erfahrener Verletzlichkeit zuwenden und da- nach streben, den Möglichkeitssinn, der einer Situation inhärent ist, aufzuspüren und so die Immanenz der Realitätstüchtigkeit im Hinblick auf transzendierende Perspektiven zu eröffnen. Die Entdeckung des Möglichkeitssinnes, und nicht einfach die Affirmation des Bestehenden, wird so zum Movens seelsorglichen Handelns.3

Vulnerabilitätsphänomene sind ebenfalls in einen Möglichkeitssinn einge- bettet, der sowohl somatische und psychische Verletzung beinhalten kann, als auch die Möglichkeit, andere Menschen auf eine Art und Weise zu lieben, in der Hingabe und Freiheit sich einander nicht ausschließen. In diesem Sinne lei- denschaftlich zu leben ist immer auch ein risikoreiches Unterfangen. Im Be- gehren, das sich in den vielgestaltigen Begegnungen mit anderen Menschen entfaltet, in der Enttäuschung über einen Misserfolg, in der Melancholie, in der sich ein unwiederbringlicher Verlust spiegelt ─ der Liebe, der Heimat, einer Vision von Gerechtigkeit oder des guten Lebens ─ in all diesen Lebenserfah- rungen zerbröckelt die Illusion des robusten, unaffizierbaren Subjektes. In die- sen Labilisierungserfahrungen zeigt sich via negativa vielmehr erst die relationale Konstitution des leiblich situierten Selbst. Oftmals ist es Teil der Verlusterfah- rungen, die in der Seelsorge zur Sprache kommen, dass Menschen ihrer selbst gewahr werden und zugleich das Gefühl aufsteigt, sich selbst abhanden gekom- men zu sein. In solch ambivalenten Erfahrungen vibriert die Verletzlichkeit des Lebens. Judith Butler beschreibt dies in emphatischer Weise:„Es ist nicht so, als ob hier auf dieser Seite ein‚Ich‘unabhängig existiert und dann schlicht ein‚Du‘

als Gegenüber verliert, besonders dann nicht, wenn die Zuneigung zu dem‚Du‘

ein Teil von dem ausmacht, wer‚ich‘bin. Wenn ich dich unter diesen Umständen verliere, betrauere ich nicht bloß den Verlust, sondern werde mir selbst uner- gründlich. Wer‚bin‘ich ohne dich? Wenn wir einige dieser Bindungen verlieren, durch die wir konstituiert sind, wissen wir nicht, wer wir sind, oder was wir tun sollen.“4

Die Freilegungsbemühungen eines Möglichkeitssinns gehen von einem Ver- ständnis von Vulnerabilität aus, das in der Oszillation der Phänomene einen

2 Engemann, Die praktisch-philosophische Dimension, 311.

3 Diese Perspektive hat in der Seelsorgetheorie insbesondere Henning Lutherentwickelt. Vgl.

ders., Alltagssorge und Seelsorge. Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens, in:ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 224–238, 4 Judith Butler, Gewalt, Trauer, Politik, in:228. dies., Gefährdetes Leben. Politische Essays,

Frankfurt a.M.42012, 36–68, 39.

Einleitung 14

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Überschuss, eine Unruhe oder ein Transformationspotenzial vermutet, das auf die Lebendigkeit des Lebens selbst verweist. Eine Lebendigkeit, die sich in Krisen zeigt und erlebte Unbeweglichkeit und Erstarrung zu verflüssigen vermag. Dieser Überschuss ist in christlicher Deutungsperspektive zuallererst auf die Leben- digkeit Gottes als bewegten Beweger, als Licht in der Finsternis, bezogen. Diese metaphorischen Ausdrucksbemühungen verweisen auf die Hoffnung auf eine wirksame göttliche Präsenz im Leben verletzlicher Menschen: eine Präsenz, die nicht statisch und abgeschlossen, sondern affizierbar und selbst im Werden begriffen ist; eine Präsenz, die wirksam ist, weil sie auf heilsame Beziehung und somit relational ausgerichtet ist.

Eine Seelsorge, die den Möglichkeitssinn des Lebens freizulegen sucht, ver- steht Gott als die Wirklichkeit des Möglichen, die „im Eröffnen kreativer Le- bensmöglichkeiten gegenwärtig ist und so zum verantwortlichen Gebrauch von Freiheit provoziert.“5Als Geschöpf wird der Mensch zum Ort der Gegenwart Gottes. Er ist von Gott mit einer kreativen Passivität begabt, die auf den Exzess göttlicher Liebe und auf das Überfließen der Gnade bezogen ist.6Kinder, Frauen und Männer werden zu Geschöpfen, in denen sich Gott als Gott im Zuspiel von Möglichkeiten vergegenwärtigt.7 Der Begriff der kreativen Passivität zeichnet eine prozessuale Qualität in die Vorstellung von Geschöpflichkeit ein:„Dass man Geschöpf wird, geht so jedem Verhalten der Geschöpfe zu ihrem Geschöpfsein voraus. Geschöpf zu werden aber heißt, von Gott begabt und beschenkt zu werden, indem einem Lebensmöglichkeiten zugespielt werden, über die man niemals verfügt, sondern die einem erlauben und ermöglichen, Mensch zu werden und als Mensch mit offener Zukunft zu leben, ohne dass aus der eigenen Herkunft extrapoliert werden könnte, wozu man dabei wird. Wer wir sind, ent- scheidet sich nicht bei uns, sondern an dem, was wir für andere werden–für andere Menschen, für andere Geschöpfe, und für Gott.“8

In dieser Bezogenheit auf andere Geschöpf zu werden, verweist auf den Möglichkeitsraum, der sich inmitten der Vulnerabilitätsphänomene entfaltet.

Nach evangelischem Verständnis können sich alle Christinnen und Christen in diesem Raum göttlicher Präsenz finden lassen und sich dort gegenseitig beiste- 5 Ingolf U. Dalferth, Umsonst. Eine Erinnerung an die kreative Passivität des Menschen,

Tübingen 2011, 231.

6 Vgl. zur Bedeutung des metaphorischen Feldes„Fluss, Fließen und Überfluss“für die Aus- arbeitung eines Verständnisses von Gnade und Rechtfertigung jenseits der Verengung auf das forensische Paradigma Andrea Bieler/Hans-Martin Gutmann, Die Rechtfertigung der

„Überflüssigen“. Die Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008, 68–73.

7 Vgl. Dalferth, Umsonst, 233.

8 Ebd. Der Begriff der kreativen Passivität, der ursprünglich auf Eberhard Jüngel zurückgeht, wird in der gegenwärtigen Diskussion insbesondere von Philipp Stoellger und Ingolf U.

Dalferth weiterentwickelt. Er ist für die Entwicklung einer seelsorglichen Theologie im Raum des Pathischen relevant. Vgl. hierzu weiter Kap.4.

Einleitung 15

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hen, in Gemeinschaft beieinander bleiben und ermutigen.9Diese Gemeinschaft der Sorgenden ist in besonderer Weise herausgefordert, Vulnerabilitätsphäno- mene tiefgreifender zu verstehen und zu deuten. Dies hat mit den Phänomenen selbst zu tun. Es geht darum, sie in ihrer Oszillation insbesondere im Hinblick auf die Materialisierung in politischen und ethischen Diskursen in ihrer Relevanz für die Seelsorgepraxis zu verstehen. In dem hier vorgelegten Versuch wird dies in phänomenologischer und theologischer Hinsicht geschehen.

Vulnerabilitätsphänomene bewegen sich im Horizont der kreativen Passivität;

manchmal liegt der ihnen inhärente Möglichkeitssinn in der Erfahrung der Fragmentierung des Lebens verborgen, manchmal wird das Vergessen, das sich im Trauma ereignet, zum Ort einer kreativen Öffnung. Anne M. Steinmeier spricht von der „Labilisierung für das Unverfügbare des eigenen Lebens das vielfach erst in der Wahrnehmung eigener Verantwortlichkeit, in der Findung eines handlungswirksamen Willens bewusst wird. Manchmal sind weichenstel- lende Entscheidungen möglich, manchmal bleibt die Einsicht in das Fragmen- tarische und Unvollendete des Lebens, das so war und ist und vielleicht nicht mehr anders wird.“10

Theologinnen und Theologen sind herausgefordert, das in der Seelsorge Wahrgenommene in einen Coram-Deo-Horizont einzuzeichnen, und so die christliche Tradition alltagstheologisch fruchtbar werden zu lassen. Dies dient zuallererst den eigenen theologischen Klärungsbemühungen, die dann in der Seelsorge ihre Spuren hinterlassen werden. Die Auseinandersetzung mit der Vulnerabilitätsthematik ist dabei auch für die Arbeit an einer christlichen An- thropologie von Bedeutung, die sich für die theologische Grundierung seel- sorglicher Praxis interessiert. Theologische Anthropologie befasst sich traditio- 9 Der Aspekt der gegenseitigen gemeinschaftlichen Ermutigung und Tröstung wird bereits bei Martin Luther stark gemacht. In den Schmalkaldischen Artikeln spricht er von der kirchli- chen Aufgabe„per mutuum […] colloquium et consolationem fratrum“, also vom Trost, der im wechselseitigen Gespräch unter Brüdern [sic!] vermittelt wird. Hier wird Seelsorge als Kompetenz und Aufgabe aller Christenmenschen begriffen. (In Absatz III.4 der Schmalkal- dischen Artikel: De evangelio, in: Die Bekenntnisschriften der Evangelisch-Lutherischen Kirche. Quellen und Materialien. Bd.1: Von den altkirchlichen Symbolen bis zu den Kate- chismen Martin Luthers, hg. von Irene Dingel, Göttingen 2014, 864.) (Das zeigt sich auch im heutigen Kirchengesetz zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses der EKD, §2 Abs. 3:„Unbe- schadet des Auftrags aller Getauften, Seelsorge zu üben, betraut die Kirche einzelne Personen mit einem besonderen Auftrag zur Seelsorge.“In dieser Formulierung kommt das Zusam- menspiel aller Gemeindeglieder in der Seelsorge gut zum Ausdruck. Es gibt einen allge- meinen Auftrag an alle, einzelne werden zusätzlich besonders beauftragt.) Im Horizont der reformatorischen Rede vom„Priestertum aller Glaubenden bzw. Getauften“und dem auch für die heutige Zeit im Kirchengesetz formulierten Anspruch, ist es sinnvoll, die evangelische Kirche insgesamt als„Seelsorgebewegung“zu verstehen.

10 Anne M. Steinmeier, Verwundbare FreiheitSeelsorge im Spannungsfeld von Lebenskunst und Kontingenz, in: Ruth Conrad/Roland Kipke(Hg.), Selbstformung. Beiträge zur Aufklärung einer menschlichen Praxis, Münster 2015, 143–157, 154.

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nell mit der Deutung der Geschöpflichkeit und Gottebenbildlichkeit sowie der Gott-Mensch-Beziehung im Hinblick auf die Verstricktheit in die Sünde. Im christologischen Horizont wird der Blick auf den befreiten, mit Gott versöhnten, bzw. auf Erlösung harrenden Menschen gerichtet. In der Mehrzahl der theolo- gischen Anthropologien der letzten Jahrzehnte wurde die Vulnerabilitätsthe- matik auf die Frage der Endlichkeit und damit auf die Deutung der Wirklichkeit des Todes zugespitzt. Seit einiger Zeit lässt sich jedoch auch ein verstärktes Interesse von systematisch theologischer Seite an weiteren materialen Themen entdecken, die mit der Vulnerabilitätsthematik verbunden sind, wie z.B. Kind- sein und Altern, der Umgang mit chronischem Kranksein oder Erfahrungen von Traumatisierung und Gewalt. Hinzu tritt eine Auseinandersetzung mit der Welt der Affekte, wie z.B. Scham- und Schuldgefühlen.11Diese Entwicklungen laden m.E. dazu ein, das lang vernachlässigte Gespräch zwischen Poimenik und sys- tematischer Theologie wieder zu beleben und hoffentlich für beide Seiten fruchtbar zu machen. Diesem Anliegen sind die folgenden Überlegungen ver- pflichtet.

Vulnerabilitätsphänomene werden im Hinblick auf ihre soziale Gestalt derzeit in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert, z. B. in der Sozial- psychologie, der Rechtsphilosophie, der politischen Ethik oder der systemischen Ökologieforschung. In der Naturrisikoforschung werden Vulnerabilitätsphäno- mene mit Blick auf die Exposition, die Anfälligkeit und die Bewältigungskapa- zitäten, die sozialen bzw. ökologischen Systemen innewohnen, erforscht.12Im

11 Hier seien beispielhaft folgende Arbeiten erwähnt: Michael Roth/Jochen Schmidt(Hg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte, Theologie KulturHermeneutik Bd.10, Leipzig 2008; Isolde Karle/Günter Thomas(Hg.), Krank- heitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009; Lena-Katharina Roy, Demenz in Theologie und Seelsorge, Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs Bd.13, Berlin/Boston 2013; Gunda Schnei- der-Flume, AlterSchicksal oder Gnade? Theologische Überlegungen zum demographi- schen Wandel, Göttingen 2010; Frank Surall, Ethik des Kindes. Kinderrechte und ihre theologisch-ethische Rezeption, Stuttgart 2009. Zu den Affekten vgl. weiter Kap.4.

12 So gibt beispielsweise das Netzwerk Vulnerabilität, das sich mit Fragen des Klimawandels beschäftigt, folgende Definition:„Vulnerabilität ist das Ausmaß, zu welchem ein System oder ein Akteur anfällig ist gegenüber nachteiligen Auswirkungen des Klimawandels, ein- schließlich der Klimavariabilität und der Extrema, oder unfähig ist, diese zu bewältigen. Die Vulnerabilität ist abhängig von der Art, dem Ausmaß, der Geschwindigkeit und der Schwankungsbreite der Klimaänderung, welcher das System ausgesetzt ist, sowie der Empfindlichkeit und der Anpassungskapazität des Systems oder des Akteurs.“www.netz- werk-vulnerabilitaet.de/tiki-index.php?page=Vulnerabilit%C3%A4t+%28Verwundbarkeit%

29 (Stand: 20.08.2015). Dieser Definition liegt das Wahrnehmungsraster des Intergovern- mental Panel on Climate Change der Vereinten Nationen zugrunde, das sich auf die fol- genden Aspekte konzentriert: Die Exposition (exposure) bezieht sich auf verschiedene As- pekte des Klimawandels, wie z.B. auf Veränderungen der Temperatur, des Niederschlags, von Wetterextremen; die Sensitivität beschreibt die Qualität der Reaktion, die innerhalb eines

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rechtsphilosophischen Diskurs werden die Themen von Autonomie und Gleichheit neu im Lichte der Frage nach dem vulnerablen Subjekt diskutiert.13 Diese Diskurse zu berücksichtigen und in seelsorgetheoretische Überlegungen einfließen zu lassen, ist bedeutsam für die Bearbeitung der ethischen Heraus- forderungen, von denen auch die Seelsorgepraxis betroffen ist. Dabei geht es um die Wahrnehmung der sozialen Lebenswelten sowie des ökologischen Horizon- tes, der auf Menschen einwirkt.

Der Aufbau des Buches sieht wie folgt aus: Im ersten Kapitel werden phäno- menologische Erkundungen vorgestellt, in denen Facetten fundamentaler Vul- nerabilität entfaltet werden. Ausgangspunkt sind dichte Beschreibungen der Philosophin S. Kay Toombs, die mit Multipler Sklerose lebt und im Alltag auf einen Rollstuhl angewiesen ist. In ihrer leibphänomenologisch angelegten Selbstreflexion können bereits unterschiedliche Aspekte eines dynamischen Vulnerabilitätskonzeptes ausgemacht werden. Vor dem Hintergrund ihrer Be- schreibungen wird ein Verständnis von fundamentaler Vulnerabilität vorge- schlagen, das seinen Ausgangspunkt in der Oszillation von Leib-Sein und Kör- per-Haben hat und durch Affizierbarkeit, Ambiguität und Potenzialität weiter charakterisiert werden kann. Fundamentale Vulnerabilität verweist auf eine Offenheit hin zur Welt, die das Potenzial der Affizierung in sich trägt. Zur Struktur von Vulnerabilitätserfahrungen gehören Konstellationen, die durch Ambiguität und bestimmte Formen der Potenzialität gekennzeichnet sind, die auch die Dimensionen des Fragmentarischen und der Grenzerfahrung durch- dringen. Die Reflexion fundamentaler Vulnerabilität ist darüber hinaus an der Qualität des Pathischen interessiert, die alle Phänomene durchdringt. In der pathischen Dimension der Welterfahrung geht es um die gegenseitige Durch- dringung der passivischen und zugleich kreatorisch-dynamischen Grundstruk- tur des Lebens, in der Vulnerabilitätsphänomene als Handlungs-Widerfahrnis- Gemisch Gestalt gewinnen.

Im zweiten Kapitel werden verschiedene Formen der Materialisierung situa- tiver Vulnerabilität reflektiert. Die Erkundung situativer Vulnerabilität konzen- triert sich auf die Grammatik politischer Diskurse, in denen soziale, oftmals binär angeordnete Konstruktionen sprachlich-performativ hergestellt und suk- Systems auf bestimmte Veränderungsreize entsteht. Die potenziellen Auswirkungen (po- tential effects) prognostizieren Veränderungen unter Berücksichtigung der Faktoren Expo- sition und Sensitivität. Die Anpassungsfähigkeit (adaptive capacity) beschreibt die Fähigkeit, potenziellen Schaden abzuwehren bzw. sich auf die erlebten Effekte des Klimawandels ein- zustellen. Vgl. weiter Hans-Günter Bohle, Vulnerability and Criticality. Perspectives from Social Geography, in: IHDP Update, Newsletter of the International Human Dimension Programme on Global Environmental Change (IHDP) 2001, 1–4, ipcc-wg2.gov/njli- te_download.php?id=6390 (Stand: 16.09.2015).

13 Vgl. Martha A. Fineman/Anna Grear(Hg.), Vulnerability. Reflections on a New Ethical Foundation for Law and Politics, Surrey 2013.

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zessive materialisiert werden. Vulnerabilitätsdiskurse sind oftmals in ästhetische und soziale Normalisierungsprozesse eingebettet, die stetig interaktiv und zir- kulär reproduziert werden. Die Aufgabe der Seelsorge besteht darin, die be- schädigenden Effekte dieser Prozesse zu benennen und entsprechend die Un- terbrechung binärer Logiken zu bestärken, um den Möglichkeitssinn in der Wahrnehmung des eigenen Lebens zu erweitern.

Situative Vulnerabilität wird diskursiv hergestellt, sie ist nicht einfach ein isolierbares Charakteristikum einer Person oder einer Gruppe. Machtvolle Faktoren innerhalb dieses Diskurses sind z.B. der Zugang zu ökonomischen Ressourcen, die einer Person zur Verfügung stehen, in manchen Situationen tritt der Gender-Aspekt in den Vordergrund, in anderen Kontexten die ethnische Zuordnung. Das vielerorts eingeforderte intersektionale Denken ist dabei auch für die Vulnerabilitätsdiskussion zentral.14

Für die Wahrnehmung situativer Vulnerabilität im Horizont einer Theologie der Seelsorge sind auch die philosophisch-ethischen Diskurse von Belang, in denen grundlegende Verhältnisbestimmungen von Autonomie und Dependenz diskutiert werden, die dann in Konzepte von Sorge für sich selbst und andere überführt werden. Darüber hinaus ist eine Analyse kultureller Phänomene von Bedeutung, in denen Mythen der (Un)verwundbarkeit immer wieder hergestellt und modifiziert werden. Materialisierungen situativer Vulnerabilität, so lautet der Vorschlag, sollten für eine Schule der Wahrnehmungsfähigkeit im Hinblick auf die Seelsorgepraxis auf drei Ebenen diskutiert werden: der Ebene der Grammatik politischer Diskurse, im Hinblick auf die grundlegenden ethischen Herausforderungen sowie im Bereich der kulturellen Repräsentation und reli- giösen Symbolisierungen.

Der zuletzt genannte Aspekt wird im dritten Kapitel weiter entfaltet. Hier geht es um die Bedeutung von Gottesvorstellungen und -bildern, die in der Seelsorge oftmals in höchst ambivalenter Weise wirksam sind. Diese Wirksamkeit im Hinblick auf den Umgang mit Vulnerabilitätsphänomenen zu erkunden, ist ein zentrales Anliegen einer kritischen Seelsorgetheorie. Darüber hinaus wird in der hier zu entfaltenden Theologie der Seelsorge der Vorschlag gemacht, das Thema der Verletzlichkeit auch im Horizont einer trinitarischen Gottesrede zu verorten.

Seelsorgerinnen und Seelsorger sind herausgefordert, Vulnerabilitätsphänome- ne nicht nur sensibel und kritisch wahrzunehmen, sondern diese auch in einen Coram-Deo-Horizont einzuzeichnen. Aus diesem Grunde werden Überlegungen zur Affizierbarkeit Gottes, zum vulnerablen Christus und zur verletzlichen Geistkraft vorgestellt. Hierbei geht es nicht nur um die Frage, wie die Rede von Gott zur Verletzlichkeit des Lebens in Beziehung gesetzt werden kann, sondern 14 Vgl. Jutta Jacob/Swantje Köbsell/Eske Wollrad(Hg.), Gendering Disability. Inter-

sektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld 2010.

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auch darum, inwiefern es sinnvoll sein kann, von der Vulnerabilität Gottes und einer gegenseitigen Affizierbarkeit von Gott und Mensch zu sprechen. In diesem Zusammenhang wird eine seelsorgliche Gottesrede rekonstruiert, die der Vor- stellung vom bewegten Beweger und seinen Leidenschaften bzw. von der Le- bendigkeit Gottes, die stets im Werden begriffen ist, nachgegangen. Diese Re- konstruktion ist auf die Kritik der Apatheia-Tradition im Christentum bezogen, die von der Unbeweglichkeit und dem göttlichen Unberührtsein ausgeht. Dabei wird zugleich die Frage gestellt werden, wie die Differenz zwischen menschlicher und göttlicher Vulnerabilität zu beschreiben ist, so dass in heilsamer Weise in der Seelsorge von göttlicher Affizierbarkeit geredet werden kann.

In einem zweiten Anlauf kommt dann noch einmal die Fragilität der Schöp- fung, zu deren Signum der verletzliche Mensch gehört, in den Blick, um ent- sprechend die Aufmerksamkeit auf die Plausibilität theologischer Deutungen leiblicher Verletzlichkeit richten zu können. Für die Seelsorgepraxis ist es von besonderer Bedeutung, die theologischen Deutungsmuster, die sich an die Ver- letzlichkeitserfahrung des Krankseins anlagern, zu reflektieren. Diese sind oft- mals in modifizierter bzw. impliziter Form in der Seelsorgepraxis wirksam, und zwar sowohl in problematischer als auch in heilsamer Weise. Aus diesem Grunde müssen insbesondere die Diskurse in der christlichen Tradition, die den Zu- sammenhang von Krankheit und Sünde reflektieren und die heute zumeist in modifizierter Form auftreten, noch einmal kritisch reflektiert werden.

Im vierten Kapitel wird der Raum des Pathischen in der Seelsorge abge- schritten. Dabei werden Vulnerabilitätsphänomene in ihrer Oszillation zwischen Logifizierung, Pathos und Ethos beschrieben. Das Pathische wird dabei als Figur im Raum zwischen Aktivität und Passivität entfaltet, in dem die Widerfahrnis- Qualität von Verletzlichkeitserfahrungen am Beispiel von Krankheit in den Blick genommen wird. Während die Logifizierung auf die medizinische Rationalität und die Organisation des Krankenhauses bezogen ist, verweist der Bereich des Ethos auf moralische Normbildung, ethische Reflexion sowie auf die Entwick- lung eines angemessenen seelsorglichen Habitus. Das Pathische strahlt dabei auf den Bereich der Logifizierung sowie des Ethos aus und wird als Oszillation zwischen diesen Bereichen vorgestellt. Es drückt sich in der Erfahrung des Krankseins in leiblichen Affizierungen aus, die in spannungsreichen Aus- drucksformen wie z.B. Fremdheit und Intimität sowie Engung und Weitung zu Tage treten. Die leiblichen Affizierungen sind eng mit bestimmten Affekten verbunden. Dem soll beispielhaft im Hinblick auf die Phänomenologie des Schmerzes, der Scham- und Schuldgefühle sowie der Mitgefühle nachgegangen werden. Die phänomenologische Skizze wird entsprechend durch theologische Resonanzen vertieft, die auf die jeweiligen Affekte bezogen werden.

Das abschließende Kapitel widmet sich den Formen seelsorglicher Respon- sivität im Horizont der Verletzlichkeit. Dabei geht es um den Fluss des Erzählens, Einleitung 20

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insbesondere im Hinblick auf die erzählte Welt des Krankseins und im Hinblick auf traumatische Erfahrungen. In theoretischer Hinsicht wird der Zusammen- hang von Leiblichkeit und Narrativität beleuchtet sowie die strukturbildenden Topoi und die Erzählgenres in Krankheitsgeschichten herausgearbeitet.

Einleitung 21

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1. Facetten fundamentaler Vulnerabilität:

Phänomenologische Erkundungen

Erste Annäherungen

Wir beginnen mit der Reflexion einer alltäglichen Szene, die die Philosophin S. Kay Toombs beschreibt. Bei Toombs wurde im Jahr 1973 im Alter von 29 Jahren Multiple Sklerose diagnostiziert, sie lebt seitdem mit dem Fortschreiten dieser chronischen Krankheit:

„Solange wir gesund sind, gehen wir selbstverständlich davon aus, dass unser Körper mühelos funktioniert, wenn wir unseren alltäglichen Verrichtungen nachgehen. Wenn ich beispielsweise am Frühstückstisch sitze und ein Glas Orangensaft trinken möchte, vertraue ich darauf, dass mein Arm sich auf das Glas zubewegen wird, und dass meine Hand und meine Finger all die Bewe- gungen ausführen werden, die nötig sind, um das Glas an meine Lippen zu führen, so dass ich trinken kann. Vermutlich ist mir diese Bewegung so selbst- verständlich vertraut, dass ich mir ihrer kaum noch bewusst bin. Wenn ich nach dem Glas greife, bin ich wahrscheinlich gerade in ein Gespräch mit meinem Mann verwickelt. In diesem Moment bin ich mir nur vage der Positionierung meines Armes bewusst. Ich nehme es auch als selbstverständlich hin, dass ich die Dinge, die sich auf dem Frühstückstisch befinden, sehen kann, dass ich den Orangensaft schmecken kann, dass ich in der Lage bin, den Geruch von frisch gebrühtem Kaffee wahrzunehmen, und dass ich die Stimme meines Mannes hören kann. Im Hinblick auf meine mentalen Fähigkeiten, finde ich es überhaupt nicht bemerkenswert, dass ich mühelos in der Lage bin, den Unterschied zwi- schen Kaffee und Orangensaft zu erkennen, dass ich mich daran erinnere, wo das Frühstücksgeschirr im Küchenschrank zu finden ist, oder dass ich eine intensive Konversation mit meinem Mann führen kann, während ich komplexe Bewe- gungen ausführe, die die Koordination von Intention, Bewegung und Wahr- nehmung erfordern. Unter normalen Umständen ignoriere ich ebenso basale körperliche Prozesse wie Atmen, Verdauen und das Schlagen meines Herzen.“1 1 S. Kay Toombs, Vulnerability and the Meaning of Illness. Reflections on Lived Experience, in:

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Toombs beschreibt hier minutiös, welche physischen und mentalen Fähig- keiten bei einer alltäglichen Situation am Frühstückstisch ins Spiel kommen: da ist zunächst das Zusammenspiel der Sinne: greifen, sehen, schmecken, riechen und hören; hinzu tritt die Fähigkeit, verbal auf eine Art und Weise kommuni- zieren zu können, die für das angesprochene Gegenüber verständlich ist. Auf der kognitiv-mentalen Ebene beschreibt sie das Erinnerungsvermögen und die Gabe, Sachverhalte voneinander unterscheiden zu können. Hinzu kommen die kör- perlichen Prozesse, die‚wie von selbst‘geschehen, wie Atmen, Verdauen und der Herzschlag. All dies geschieht gleichzeitig, mühelos und unbewusst, ein ein- drückliches Zusammenspiel sensueller, somatischer und kognitiver Prozesse, die das Leib-Sein-Zur-Welt bestimmen.2 Erst wenn dieses Zusammenspiel gestört wird, tritt das, was vormals als stumme Selbstverständlichkeit vorhanden war, in den Raum bewusster Wahrnehmung und Reflexion. Ein Aspekt der Vulnerabi- lität, der hier beschrieben wird, verweist auf die Fragilität dieses Zusammenspiels und die darin implizierten Möglichkeiten, mit der Welt in Beziehung zu treten.

Bei einer Krankheit wie Multipler Sklerose schiebt sich die Fragilität in den Vordergrund und mit ihr die an den Leib gebundene Erfahrung des unfreien Willens:

„Ich kann meine Projekte nur mit einem gewissen Grad an physischer Koordinati- onsfähigkeit realisieren. Wenn ich beispielsweise die Treppenstufen zu meinem Schlafzimmer hinaufgehen möchte, müssen meine Beine in einer bestimmten Weise funktionieren; wenn ich mein Kind umarmen möchte, muss ich in der Lage sein, be- stimmte Bewegungen mit meinen Armen auszuführen. Wenn ich an einem beruflichen Projekt arbeite, muss ich imstande sein, mich zu konzentrieren (frei von Schmerz, exzessiver Müdigkeit oder Begrenzung meiner mentalen Fähigkeiten). Ich bin nicht frei zu handeln, wie ich möchte. Ich bin nur frei, das zu tun, was mein Körper mir erlaubt.

Kranksein kann eine umfassende Bedrohung der Integrität des eigenen Selbst bedeu- ten.“3

Carol R. Taylor/Roberto Dell’Oro(Hg.), Health and Human Flourishing: Religion, Medicine, and Moral Anthropology, Washington 2006, 119–137: 121. (Übersetzung dieses und der folgenden Zitate von Toombs durch A.B.).

2 Der Begriff des„Leib-Seins-Zur-Welt“entstammt Maurice Merleau-Pontys Phänomenologie.

Mit diesem Begriff beschreibt er die reziproke Verwiesenheit des Leibes auf die Welt und der Welt auf den Leib. Die Welt ist das, was leiblich wahrgenommen werden kann. Menschen finden sich in der Welt als leiblich Handelnde vor und gehen mit ihr zunächst vorreflexiv und unbewusst um. In der Weltverwobenheit geschieht eine Wahrnehmung der Welt, in der das leibliche Sein einen dynamischen, richtungsgenerierenden Sinn hat; es existiert im Fluss oder in der Bewegung sich ständig verändernder Situationen. Dies ist mit dem Ausdruck des Zur- Welt-Seins ausgedrückt. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrneh- mung, Berlin 1966, 126ff.

3 Toombs, Vulnerability, 123.

Facetten fundamentaler Vulnerabilität: Phänomenologische Erkundungen 24

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Das Fortschreiten einer Krankheit wie der Multiplen Sklerose bringt all die be- schriebenen Selbstverständlichkeiten ins Wanken. Die entstehende Irritation ist nach Toombs immer auch eine Entfremdung vom leibgebundenen Selbst. Der Autonomie-Mythos wird infrage gestellt und mit ihm die Willensfreiheit, sowie die Grenzen der Handlungsfähigkeit: „Ich bin nicht frei zu handeln, wie ich möchte. Ich habe nur die Freiheit, das zu tun, was mein Körper mir erlaubt.“Es gibt für sie keine Freiheit, keinen freien Willen, der jenseits der Leiblichkeit gedacht werden kann. Toombs singuläres, unverwechselbares Leib-Sein in der Welt ist auch von der Erfahrung leiblicher Heteronomie geprägt, die immer wieder auch sozial vermittelt ist.

Toombs schreibt weiter:

„Für eine Person mit MS verspricht die Hitze des Sommers nicht mehr die Einladung zu einem Tag mit viel Spaß, sondern die besorgniserregende Wahrscheinlichkeit des An- steigens der Schwere der Symptome; für eine Person, die auf Krücken läuft, birgt der erste Schneefall oder ein erfrischender Sommerregen die Gefahr rutschiger Gehsteige.

Ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung mag die verwandelte Bedeutung der räumlichen Umgebung illustrieren. Eines Tages überquerte ich den Platz vor der Uni- versitätsbibliothek, als mein motorisierter Rollstuhl ins Stocken geriet und nicht weiter fuhr. Auf einmal fand ich mich in einem Meer aus Beton, in dem dekorative Steine verstreut drapiert waren, in einem gänzlich offenen Raum ohne Bäume, Lampenpfosten und ohne Sitzbänke in Reichweite. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Das nächstgelegene Objekt war das Bibliotheksgebäude. Es war jedoch unmöglich für mich, dieses Gebäude zu erreichen, da ich weder gehen noch kriechen kann. Der Raum der Plaza, der mir noch eine Minute zuvor als hell, sonnig und einladend entgegenge- kommen war, erschien mir nun als verlassen und unheimlich. Auf einmal realisierte ich das Ausmaß meiner Begrenzung und meine radikale Abhängigkeit von Technologie.“4 Toombs vertieft hier die Beschreibung der relationalen Dimension des Leib- Seins-Zur-Welt im Hinblick auf sogenannte natürliche Umstände wie klimati- sche Veränderungen. Hitze oder Schnee wirken auf Körper ein; sie haben be- sondere Auswirkungen auf Menschen mit Multipler Sklerose. Für diese Ein- wirkungen benutzt sie inmitten all der aktiven Verben eine passivische Formu- lierung:„auf einmal fand ich mich in einem Meer aus Beton.“Darin drückt sich ein Verlorenheitsgefühl aus.

Toombs Beschreibung der Szene vor der Bibliothek verdeutlicht ihre Abhän- gigkeit vom Rollstuhl als einer Technologie, die ihr Mobilität verleiht. Das Ver- sagen der technischen Möglichkeit bringt entsprechend ihre Angewiesenheit und die damit einhergehenden Einschränkungen zum Ausdruck, die auch der An- ordnung der Dinge im Raum ein anderes Gesicht verleiht. Die Szene illustriert die relationale Qualität von Vulnerabilität: in diesem Fall geht es um das Behindert-

4 AaO., 125f.

Erste Annäherungen 25

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