• Keine Ergebnisse gefunden

Das intermediäre System der Politik als Orientierungssystem der Bürger

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Das intermediäre System der Politik als Orientierungssystem der Bürger"

Copied!
33
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung

FS III 96-302

Das intermediäre System der Politik als Orientierungssystem der Bürger

Dieter Fuchs, Edeltraud Roller, Dieter Rucht und Bernhard Weßels

Berlin, September 1996

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D 10785 Berlin,

Telefon (030) 25 49 1-0

(2)

In modern liberal democracies the key actors constituting the political intermediary system include not only political parties and interest groups but also social movements and the mass media. The function of these actors is to convey, each in its particular way, the inte­

rests of the citizens into the system of political decision-making. A functional requisite for the intermediary system is that its structure (which is determined by functional differentia­

tion and political cleavages) is adequately perceived by the citizens. Research evaluating this principle has been conducted in the German case and the results of this research are reported here. The empirical basis of this study is a representative survey conducted in the old and new states of the Federal Republic during 1993. The empirical analyses show that the citizens indeed differentiate between these four types of intermediary actors. Moreover, the relations between specific goals and specific actors have patterns consistent with theo­

retical expectations regarding political cleavages. The results of this study thereby demon­

strate that the specific functional requisite of the citizenry's adequate perception of the in­

termediary system structure holds in both the old and new states of the Federal Republic of Germany.

Zusammmenfassung

Als die zentralen intermediären Akteure in den modernen liberalen Demokratien können die politischen Parteien, die Verbände, aber auch die sozialen Bewegungen und Massen­

medien angesehen werden. Sie haben in unterschiedlicher Weise die Funktion, die Interes­

sen der Bürger in das politische Entscheidungssystem zu vermitteln und konstituieren das intermediäre System der Politik. Eine der Funktionsbedingungen dieses Systems besteht darin, daß seine Struktur (die durch funktionale Differenzierung und politische Konfliktli­

nien bestimmt wird) von den Bürgern auch entsprechend wahrgenommen wird. Diese Funktionsbedingung wird für die Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage einer repräsentativen Umfrage untersucht, die im Jahr 1993 in den alten und neuen Länder durchgeführt wurde. Die empirische Analyse zeigt, daß die Bürger tatsächlich zwischen den vier Klassen der intermediären Akteure systematisch unterscheiden und daß die in­

haltliche Zuordnung bestimmter Ziele zu bestimmten Akteuren im wesentlichen einem Muster folgen, das aus der Forschung über politische Konfliktlinien ableitbar ist. Die spe­

zifische Funktionsbedingung einer adäquaten Strukturwahrnehmung des intermediären Systems der Politik ist demnach sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland erfüllt.

(3)

Das intermediäre System der Politik als Orientierungssystem der Bürger

1. Fragestellung

Es gehört zu den klassischen Aufgaben der politischen Soziologie, die Funktionen, Akteu­

re und Prozesse der Interessenvermittlung zwischen Bürgern und politischem Entschei­

dungssystem zu analysieren. Die politische Soziologie konzipiert dabei die Interessen­

vermittlung als ein System, in dem bestimmten Akteuren eine besondere Rolle zugewiesen wird. Standen zunächst vor allem politische Parteien und Verbände im Mittelpunkt des Interesses, so werden neuerdings, und zumal mit Blick auf moderne Demokratien, auch soziale Bewegungen und Massenmedien als Komponenten des Systems der Interessen­

vermittlung berücksichtigt. Damit sind vier zentrale intermediäre Akteure benannt, die jedoch spezifische Funktionen und Strukturen aufweisen und miteinander unterschiedliche

Beziehungen eingehen können (Fuchs 1993, Rucht 1993).

Politische Parteien sind in erster Linie Organisationen zum Erwerb politischer Macht qua Ämterbesetzung. Sie nehmen damit eine Schlüsselstellung ein. In aller Regel versu­

chen politische Parteien breite Bevölkerungsgrupppen und entsprechend viele politische Interessen zu vertreten, womit ihnen auch eine wichtige Funktion bei der Bündelung und Aggregation von Interessen zukommt. Verbände und soziale Bewegungen, zwei konkrete Varianten von Interessengruppen, wirken auf politische Entscheidungsprozesse - und inso­

fern auch auf politische Parteien - ein, vertreten dabei aber in aller Regel eine ganz be­

stimmte Klientel und ganz bestimmte Interessen, welche freilich nicht notwendigerweise partikularer Natur sind. Der Unterschied zwischen Verbänden und Bewegungen liegt vor allem in ihrem Strukturierungsgrad und den damit verbundenen Implikationen. Verbände sind in aller Regel formale und hierarchisch aufgebaute Organisationen mit fester Mit­

gliedschaft, Bewegungen hingegen mobilisierte "Netzwerke von Netzwerken" (Neidhardt 1985). Verbände operieren dank ihres organisatorischen Apparats relativ kontinuierlich und weitgehend im Rahmen konventioneller Bahnen institutionalisierter Interessenvertre­

tung. Bewegungen unterliegen den Schwankungen von Mobilisierungswellen und bedie­

nen sich auch, wenn nicht sogar überwiegend „unkonventioneller“ politischer Proteste.

Dem Nachteil mangelnder Stetigkeit und Professionalität steht allerdings der Vorteil hoher Flexibilität und großer Nähe zur Lebenswelt der Bürger gegenüber.

(4)

Massenmedien besitzen im Unterschied zu politischen Parteien, Verbänden und Bewe­

gungen einen besonderen funktionalen Status. Ihre Hauptfunktion ist die Beobachtung, Abbildung und Kommentierung politischer Prozesse, nicht die Interessenvertretung in ei­

gener Sache. (Letzteres gilt nur dann, wenn Stellung und Rolle der Medien selbst zum Ge­

genstand eines Interessenkonflikts werden.) Insofern sind auch Bürger nicht wie im Falle der übrigen intermediären Akteure Mitglieder oder Anhänger von Massenmedien, sondern deren Konsumenten bzw. Kunden. Indem Massenmedien aber als Hüter von Öffentlichkeit und Transparenz ("vierte Gewalt") und teilweise auch als Fürsprecher spezifischer gesell­

schaftlicher Interessen auftreten, stellen sie eine Agentur der Interessenvermittlung dar.

Das Bild des Interessenvermitllungsystems, wie es die politische Soziologie zeichnet, muß allerdings nicht dem Bild entsprechen, das in den Köpfen der Bürger existiert. Die Freilegung dieses „subjektiven“ Bildes war bislang kein systematischer Forschungsgegen­

stand der politischen Soziologie. Zwar hat die Umfrageforschung immer wieder die Ein­

stellungen und Zugehörigkeit zu verschiedenen intermediären Akteuren ermittelt; sie tat dies aber in aller Regel mit Blick auf einzelne Akteure bzw. Akteursklassen - als speziali­

sierte Parteien-, Verbände-, Bewegungs- und Massenkommunikationsforschung (z.B.

Klingemann 1986, Pappi 1991, Fuchs und Rucht 1994) - oder mit Blick auf maximal zwei Akteursklassen (z.B. Weßels 1991). Offen bleibt damit die Frage, wie Bürger die Konstel­

lation aller Akteursklassen im Hinblick auf die von ihnen vertretenen Interessen sehen und ob überhaupt eine bestimmte Wahrnehmungsstruktur etwa im Sinne funktionaler Diffe­

renzierung oder der Theorie politischer Konfliktlinien vorhanden ist. Hier setzt unsere Analyseperspektive an und damit beanspruchen wir auch, Neuland zu betreten.

In diesem Beitrag wird versucht, das intermediäre System der Politik als Orientierungs­

system der Bürger zu rekonstruieren. Dabei geht es nicht um die einzelnen Bürger, sondern um das Bild, das sich im Aggregat der Bürgervorstellungen ergibt. Es handelt sich also um eine Rekonstruktion des "belief systems in mass publics" (Converse 1964). Bei dieser Analyseperspektive wird unterstellt, daß die Perzeption der intermediären Akteure, die die Interessen der Bürger und damit auch die politischen Ziele in die Entscheidungsprozesse vermitteln, geordnet ist und insofern einen Systemcharakter aufweist. Nach der Tradition der belief system-Forschung liegt ein derartiger Charakter dann vor, wenn eine Vielzahl von Einstellungen zu Objekten eines bestimmten Gegenstandsbereiches durch einige we­

nige Dimensionen strukturiert ist.

Im Rahmen dieser Analyse sind die relevanten Einstellungsobjekte die intermediären Akteure des politischen Systems einerseits und die politischen Ziele der Bürger anderer­

seits. Da die Vermittlung dieser politischen Ziele in den Entscheidungsprozeß die zentrale Funktion der intermediären Akteure ist, besteht die uns letztlich interessierende Einstel­

lungskategorie in der Relation, die Bürger zwischen einem Ziel und einem Akteur herstel-

(5)

len. Das intermediäre System der Politik als Orientierungssystem der Bürger wird in einem zweistufigen Prozeß rekonstruiert. Auf der ersten Stufe wird für jeden einzelnen Befragten eine Matrix gebildet, in der eine begrenzte Menge von Zielen einer begrenzten Menge von Akteuren zugeordnet wird. Das Zuordnungskriterium ist die Auffassung der Befragten, ob der jeweilige Akteur das betreffende Ziel in der Politik vertritt und sich dafür einsetzt. Auf der zweiten Stufe werden die individuellen Matrizen aggregiert, um auf dieser Grundlage die Struktur des Orientierungssystems der Gesamtheit der Bürger zu analysieren.

Bei dieser Analyse geht es nicht um die Frage, wie gut oder schlecht einzelne interme­

diäre Akteure bestimmte Ziele artikulieren bzw. wie effektiv sie diese in den politischen Entscheidungsprozeß vermitteln. Vielmehr rekonstruieren wir das sich im Aggregat der individuellen Wahrnehmungen ergebende Strukturmuster der Zielvertretung durch Akteu­

re. Wir kartographieren also gleichsam die „Landschaft“ des Interessenvermittlungssy- stems in einem durch politische Ziele bestimmten Raum. Es ist offensichtlich, daß diese Analyseperspektive nicht nur von rein akademischem Interesse ist. Die Wahrnehmung der Struktur des intermediären Systems und die Frage, welche politischen Ziele im System der Interessenvermittlung vertreten sind und durch welche Akteure sie vertreten werden, ist von eminenter politischer Bedeutung. Erscheint das System der Interessenvermittlung als undurchsichtig und ist für die Bürger nicht erkennbar, welche Akteure der Interessen­

vermittlung für ihre jeweiligen Interessen und Ansprüche (potentielle) Ansprechpartner sind, dann ist die Funktionsfähigkeit des intermediären Systems und letztlich auch die der Demokratie ingesamt in Frage gestellt.

Die Wahrnehmung des intermediären Systems der Politik wird im folgenden für die Bundesrepublik auf der Basis einer Umfrage ermittelt, die 1993 in den alten und neuen Bundesländern durchgeführt worden ist.1 Inzwischen haben viele empirischen Studien zur Wahrnehmung politischer Akteure gezeigt, daß zwischen Ost- und Westdeutschland die Übereinstimmungen die Unterschiede deutlich überwiegen. Das betrifft sowohl das Partei­

ensystem (z.B. Pappi 1991, Kaase und Klingemann 1994) als auch das Verbändesystem (z.B. Weßels 1994). Ob im Hinblick auf die Relation zwischen Zielen und intermediären Akteuren insgesamt ebenfalls die Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen überwiegen und ob vor allem die Orientierungssysteme "Interessenvermittlung" in beiden Landesteilen denselben Grad an Strukturierung aufweisen, ist bislang eine offene For­

schungsfrage. Deshalb werden die empirischen Analysen für die allen und die neuen Bun­

desländer getrennt durchgeführt.

1 Datenbasis bilden repräsentative Stichproben für die alten und die neuen Bundesländer. Die Stichpro­

bengröße beträgt in den alten Ländern 2.143 und in den neuen Ländern 541 Befragte. Die Erhebung wurde von GFM-GETAS (Hamburg) und ZUMA (Mannheim) organisiert und durchgeführt.

(6)

2. Meßinstrument und Analysestrategie

Das Meßinstrument zur Analyse des Orientierungssystems "Interessenvermittlung" wurde von einer Gruppe aus dem Schwerpunkt „Sozialer Wandel, Institutionen und Vermitt­

lungsprozesse“ des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) entwickelt.2 Es besteht aus einer Liste politischer Ziele und einer Liste intermediärer Akteure, die von den Befragten in einen Zusammenhang gebracht werden sollen. Jedem Befragten wurden insgesamt 19 politische Ziele auf einzelnen Kärtchen vorgelegt. Dann wurde eine Liste mit insgesamt 14 Akteuren übergeben, von denen fünf die Akteurskategorie Verbände, sechs die Akteurskategorie soziale Bewegungen und drei die Akteurskategorie Massenmedien repräsentieren. Die Befragten sollten für jedes Ziel angeben, welche der vorgegebenen Akteure sich für dieses Ziel einsetzen. Die Befragten konnten einen oder mehrere Akteure nennen; sie konnten zusätzlich "andere" Akteure nennen, die nicht auf der Liste enthalten waren oder aber auch "keine" angeben.3 In einem zweiten Schritt wurde eine Liste mit sechs politischen Parteien übergeben und die Befragten sollten für jedes Ziel angeben, welche der vorgegebenen politischen Parteien sich dafür einsetzen. Auch hier waren Mehr­

fachnennungen möglich, konnten "andere" nicht auf der Liste enthaltenen Parteien oder

"keine" angegeben werden.4

In der Tabelle 2 sind alle intermediären Akteure aufgeführt, die auf den beiden Listen enthalten waren. Mit der Auswahl dieser insgesamt 20 kollektiven Akteure wird unter­

stellt, daß alle in der Bundesrepublik Deutschland relevanten intermediären Akteure erfaßt sind.5 Daß diese Annahme weitgehend zutrifft, konnte durch die Ergebnisse einer Inhalts-

2 Die Federführung des Gesamtprojekts liegt bei Dieter Fuchs. Neben den Autoren dieses Papiers waren Hans-Dieter Klingemann und Friedhelm Neidhardt an der Konzeption der Untersuchung beteiligt. Für Kommentare zu früheren Fassungen des vorliegenden Beitrags danken wir Max Kaase, Hans-Dieter Klingemann und Friedhelm Neidhardt.

3 Die konkrete Frageformulierung lautet folgendermaßen: "Auf diesen Kärtchen hier, die ich Ihnen gleich einzeln nacheinander vorlegen möchte, sind verschiedene Ziele notiert, die man in der Politik verfolgen kann. Auf der Liste dazu sind verschiedene Organisationen und Gruppen aufgeführt. Nennen Sie mir jetzt bitte zu dem Kärtchen die Organisationen oder Gruppen aus der Liste, von denen Sie meinen, daß sie sich für das genannte Ziel einsetzen. Sie können dabei eine oder mehrere Organisatio­

nen nennen. Wenn Sie der Meinung sind, daß andere Organisationen oder Gruppen, die nicht auf der Liste stehen, sich für dieses Ziel einsetzen, dann sagen Sie das bitte auch. Das gleiche gilt, wenn sich Ihrer Meinung nach keine Organisation dafür einsetzt."

4 Hier lautet die konkrete Frageformulierung: "Auf dieser Liste haben Sie jetzt eine Übersicht, in der verschiedene politische Parteien aufgeführt sind. Nennen Sie mir jetzt wieder zu jedem dieser Kärt­

chen die politischen Parteien aus der Liste, von denen Sie meinen, daß sie sich für das genannte Ziel einsetzen. Sie können dabei eine oder mehrere politische Parteien nennen. Wenn Sie jedoch der Mei­

nung sind, daß eine andere oder keine politische Partei sich für dieses Ziel einsetzt, dann sagen Sie das bitte auch."

5 Die Zahl und Art der ausgewählten intermediären Akteure ist sicherlich nicht ohne Einfluß auf die Antwortverteilung. Anders als bei den übrigen Akteuren erscheint es uns bei den Massenmedien als gerechtfertigt, sie lediglich nach drei Genres zu differenzieren, da diese von den Bürgern auch als re-

(7)

analyse der genannten "anderen Akteure" empirisch bestätigt werden. Mehrheitlich bezo­

gen sich diese Nennungen auf nicht-intermediäre Akteure, insbesondere solche aus dem staatlichen Bereich (Staat allgemein, Exekutive, Legislative, Judikative, Sozialversiche­

rungen u.a.) sowie unspezifische Gruppen und Einzelpersonen (alle Deutsche, jeder Bürger u.a.). Diese nicht-intermediären Akteure wurden von den Befragten in der Regel zusätzlich zu den vorgegebenen intermediären Akteuren genannt.

Die in der Befragung (und in der nachfolgenden empirischen Analyse) vorgenommene Trennung von Interessengruppen (Verbände, soziale Bewegungen) und Massenmedien auf der einen Seite sowie politischen Parteien auf der anderen Seite erscheint uns aufgrund des besonderen Stellenwerts der politischen Parteien sachlich gerechtfertigt. Der gesamte Pro­

zeß der politischen Willensbildung und Entscheidungstätigkeit wird von den politischen Parteien wesentlich getragen und organisiert. Die politischen Parteien haben nicht nur eine Arlikulationsfunktion für die Ansprüche der Bürger an die Politik, sondern auch eine Ent­

scheidungsfunktion in Parlament und Regierung. Folglich bezeichnen auch einige Autoren die modernen Demokratien als "party governments" und schlagen das Parteiensystem dem Komplex des Entscheidungssystems zu, das auch als Staat oder Politie bezeichnet werden kann. Das sind mehr als bloße terminologische Zuordnungen, denn sie machen deutlich, daß die politischen Parteien, anders als die übrigen intermediären Akteure, bereits relativ eng mit dem Staat verwoben sind.

In der Tabelle 1 sind alle Ziele aufgeführt, die den Befragten vorgegeben worden sind.

Bei der Bestimmung der 19 politischen Ziele war ebenfalls der Anspruch leitend, mög­

lichst vollständig das Spektrum der Ziele abzudecken, die grundsätzlich an ein demokrati­

sches Entscheidungsystem - in diesem Fall die Bundesrepublik - herangetragen werden.

Die Auswahl beruht im wesentlichen auf einem "analytischen Schema zur Klassifikation von Politikinhalten" (Roller 1991). Dieses Schema baut auf allgemeinen Wertedimensio­

nen auf, deren Einlösung von demokratischen politischen Systemen generell erwartet wird.

Um die Anzahl der Ziele zu begrenzen, mußte eine gewisse Abstraktionsstufe für die Ziel­

formulierungen gewählt werden. Wir haben uns bemüht, die Ziele auf möglichst gleichem Abstraktionsniveau zu formulieren und Überschneidungen zu vermeiden.

Die 19 Ziele können zu analytischen Zwecken in acht allgemeinere Zieldimensionen zu­

sammengefaßt werden: demokratisch-prozedurale Ziele, liberale Schutzrechte, ökologische Ziele, gesellschaftliche Integration, sozio-ökonomische Gerechtigkeit, sozio-ökonomische Sicherheit, materieller Wohlstand und innere Sicherheit (vgl. Tabelle 1). Diese allgemeine­

ren Zieldimensionen lassen sich weiter entweder der System- oder der Policyebene des politischen Systems zuordnen (Almond und Powell 1978, Roller 1991). Die Gewährlei-

lativ einheitliche Komplexe (also das Fernsehen und nicht: ARD, ZDF, RTL usw.) wahrgenommen werden.

(8)

stung bzw. Einlösung von Sysfe/nzielen ist eine Bedingung der Aufrechterhaltung und des Funktionierens des demokratischen Systems. Systemziele umfassen die ersten beiden Zieldimensionen "demokratisch-prozedurale Ziele" und "liberale Schutzrechte". Alle übri­

gen sechs Zieldimensionen sind den Po/zcyzielen zuzurechnen, die sich auf Probleme und Konflikte des alltäglichen politischen Prozesses beziehen. Innerhalb dieser Gruppe unter­

scheiden wir im Anschluß an Hildebrandt und Dalton (1977) zwischen Zielen der alten und neuen Politik. Zieldimensionen der alten Politik sind sozio-ökonomische Gerechtig­

keit, sozio-ökonomische Sicherheit, materieller Wohlstand und innere Sicherheit. Der Zieldimension neue Politik sind die ökologischen Ziele zuzuordnen, die nicht nur den Umweltschutz, sondern auch Entwicklungshilfe und Friedenssicherung umfassen, also Fragen, die sich in einem weiteren Sinne auf die natürliche und soziale Umwelt einer be­

stimmten Gesellschaft beziehen. Die Zieldimension gesellschaftliche Integration ist nicht eindeutig der alten oder der neuen Politik zuzuordnen. Sie kann sowohl von der einen als auch der anderen Seite besetzt und inhaltlich gedeutet werden. Auf diese analytischen Dif­

ferenzierungen der Ziele kommen wir bei der Formulierung von Hypothesen zurück.

Tabelle 1: Politische Ziele

Einzelne politische Ziele Zieldimensionen

Freie Meinungsäußerung Staatskontrolle

Politiktransparenz

| Demokratisch-prozedurale Ziele

Schutz der Privatsphäre

Eigentumsschutz Liberale Schutzrechte Entwicklungshilfe

Friedenssicherung

Umweltschutz

Ökologische Ziele

Menschlicher Zusammenhalt—

Familienschutz Gesellschaftliche Integration Einkommensgerechtigkeit

Bildungsgerechtigkeit Gleichberechtigung

Sozio-ökonomische Gerechtigkeit

Arbeitsplatzsicherheit Krankheitsabsicherung Altersversorgung

Ausreichender Wohnraum —

Sozio-ökonomische Sicherheit

Wohlstandsgewährleistung 1 Materieller Wohlstand Ruhe und Ordnung Innere Sicherheit

System-/Policyebene

System

Policy

neue Politik

ZI alte/neue Politik

alte Politik

(9)

Die Relation von Zielen und Akteuren, so wie sie von den Befragten hergestellt wird, bil­

det die Basiseinheit für die folgende Strukturanalyse des Orientierungssystems

"Interessenvermittlung". Diese Struktur wird in einem "quantitativen" und einem

"qualitativen" Sinn analysiert:

- In "quantitativer" Sicht geht es um die Menge oder den Umfang von Zielen, die jedem einzelnen Akteur zugeordnet werden. Um welche konkreten Ziele es sich dabei handelt, ist bei dieser quantitativen Betrachtung unerheblich. Die hier zu beantwortende Frage ist, ob sich im Hinblick auf den „Zielumfang“ von intermediären Akteuren Strukturmuster identifizieren lassen. Wir versuchen diese Frage mit Hilfe von Faktoren­

analysen zu beantworten.

- Die "qualitative" Analyse bezieht sich im Unterschied zur quantitativen Analyse auf die spezifische Identität der Ziele, die den intermediären Akteuren zugeordnet werden. Dazu werden Korrespondenzanalysen verwendet.

Forschungsleitend für diese Analysen sind zwei allgemeine Vermutungen darüber, worin die strukturierenden Mechanismen für das intermediäre System der Politik als Orientie­

rungssystem der Bürger bestehen könnten. Wir gehen erstens davon aus, daß die Bürger die intermediären Akteure gemäß der eingangs angedeuteten funktionalen Differenzierung wahrnehmen. Bei der Zuordnung von Zielen zu Akteuren erwarten wir deshalb systemati­

sche Unterschiede zwischen den vier Akteursklassen von politischen Parteien, Verbänden, Bewegungen und Massenmedien. Zweitens gehen wir auch hinsichtlich der Ziele von einer strukturierten Wahrnehmung der Bürger aus. Bei der Zuordnung von Zielen zu Akteuren erwarten wir deshalb systematische Unterschiede sowohl hinsichtlich von System- und Policyzielen als auch innerhalb der Policyziele zwischen der „alten“ und der „neuen Poli­

tik“. Diese noch recht allgemeinen Annahmen werden im folgenden durch konkretere Hy­

pothesen präzisiert.

3. Zielumfang intermediärer Akteure

Grundlage der "quantitativen Analyse" ist der Zielumfang intermediärer Akteure, der de­

finiert wurde durch die Menge der Ziele, die einem intermediären Akteur zugeordnet wer­

den. Wir knüpfen damit an eine der drei Dimensionen an, nach denen ein "belief system"

zu einem Objekt beschrieben werden kann, und zwar den "range". Dieser bezieht sich auf die Menge der Objekte eines "belief system" (Converse 1964).6 Da sich im Hinblick auf

6 "Generality" und "centrality", die beiden anderen Dimensionen eines "belief system", werden in unse­

rer Analyse nicht berücksichtigt. Für die "generality" liegen keine Daten vor; die "centrality" wurde in

(10)

die Menge der Ziele, die den intermediären Akteuren zugeordnet werden, systematische Unterschiede ergeben, kann eine erste deskriptive Analyse des Zielumfangs der interme­

diären Akteure bereits gewisse Strukturmerkmale des intermediären Systems der Politik als Orientierungssystem der Bürger aufzeigen. Daran schließen sich in einem zweiten Schritt Faktorenanalysen zur Ermittlung der dimensionalen Struktur dieses Zielumfangs an.

з . 1 D eskription

Ausgehend von der oben formulierten allgemeinen Erwartung, daß die Orientierungen der Bürger der funktionalen Differenzierung der intermediären Akteure weitgehend folgen, kann davon ausgegangen werden, daß die Zielumfänge von politischen Parteien und den übrigen intermediären Akteuren deutlich differieren. Anders als diese übrigen Akteure sind die politischen Parteien darauf ausgerichtet, Positionen im politischen Entscheidungssy­

stem einzunehmen und dabei eine Fülle von Politiken zu behandeln. Hierbei erwarten die Wähler, daß die politischen Parteien zumindest ihre Grundpositionen zu einer breiten Pa­

lette von Politiken vorab bekanntgeben. Die Wahlentscheidung des einzelnen erfolgt dann in aller Regel nicht aufgrund der Repräsentation eines ganz spezifischen Interesses durch eine bestimmte Partei, sondern einer parteispezifischen Kombination von Zielen, wie sie и. a. in Parteiprogrammen zum Ausdruck kommt (policy packages). Da es zugleich im Zu­

ge des Wahlkampfes darum geht, möglichst viele Bürger anzusprechen, sind die politi­

schen Parteien strukturell genötigt, ein deutlich breiteres Spektrum von Zielen zu vertreten als die übrigen kollektiven Akteure. Daraus ergibt sich die erste Hypothese:

H l: Der Zielumfang der politischen Parteien ist größer als der von Interessengruppen und Massenmedien.

Zwei weitere Hypothesen beziehen sich auf unterschiedliche Zielumfänge innerhalb der Akteurskategorie "politische Parteien" und innerhalb der Akteurskategorie

"Interessengruppen und Massenmedien". Obgleich wir prinzipiell für politische Parteien einen relativ großen Zielumfang erwarten, dürften sich politische Parteien dennoch danach unterscheiden, ob sie - etwa als sogenannte "Volksparteien" - möglichst breite und insofern auch heterogene Wählerschichten ansprechen oder vielmehr bevorzugt bestimmte themati­

sche bzw. sozialstrukturelle Spektren abdecken wollen. Der Zielumfang von CDU/CSU

der von uns verwendeten Umfrage zwar ermittelt, ist aber bei unserem kognitiven Analysefokus nur von sekundärer Bedeutung.

(11)

und SPD dürfte deshalb größer sein als der von FDP, Bündnis 90/Die Grünen, der PDS und den Republikanern. Die zweite Hypothese lautet also:

H2: Der Zielumfang der politischen Parteien variiert mit der klientelbezogenen Spezifizi- tät der Parteien.

Für die Akteurskategorie "Interessengruppen und Massenmedien" erwarten wir einerseits einen systematischen Unterschied zwischen den Verbänden und den sozialen Bewegungen.

Die Verbände sind mehrheitlich schon lange bestehende intermediäre Akteure, die sich im Rahmen der klassischen politischen Konfliktlinien herausgebildet haben. Demgegenüber sind die meisten sozialen Bewegungen, die in der Regel als Ein-Themen-Bewegungen entstanden sind, jüngeren Datums. Einige der schon relativ lange existierenden Bewegun­

gen dürften aber ihr Zielspektrum ausgedehnt haben. Dennoch kann erwartet werden, daß der Zielumfang der Verbände größer ist als der der sozialen Bewegungen. Zum anderen erwarten wir ebenfalls, daß der Zielumfang der Verbände relativ größer ist als der der Massenmedien. Massenmedien vertreten nur ausnahmsweise Interessen in eigener Sache;

sie können aber als Garanten für bestimmte Güter wie Öffentlichkeit und Transparenz an­

gesehen werden. In diesem Sinn sind sie funktional eng definiert. Die Massenmedien tre­

ten zwar teilweise auch als Anwälte für spezifische Interessen und Bevölkerungsgruppen (z.B. Verbraucher) auf, weshalb prinzipiell ein breiteres Zielspektrum erwartbar wäre. Da sie dies aber erstens nur teilweise und zweitens nicht kontinuierlich tun, ist es eher un­

wahrscheinlich, daß die Bürger die Massenmedien als Vertreter einer Vielzahl spezifischer politischer Ziele sehen. Entsprechend lautet unsere Hypothese:

H3: Der Zielumfang der Verbände ist relativ größer als der von sozialen Bewegungen und von Massenmedien.

Die erste Hypothese, wonach der Zielumfang der politischen Parteien größer ist als der der Interessengruppen und Massenmedien, wird eindeutig bestätigt (Tabelle 2). Der Mittelwert des Zielumfangs der politischen Parteien liegt in den alten Ländern bei 3,8 und in den neu­

en Ländern bei 3,6. Demgegenüber beträgt er bei den Interessengruppen und Massenmedi­

en (( x ) in den alten Ländern 1,8 und in den neuen Ländern 1,6. In diesen Durchschnitts­

werten der politischen Parteien sind auch die sehr niedrigen Werte für die Republikaner in den alten und neuen Ländern und für die PDS in den alten Ländern enthalten. Wenn nur die vier etablierten Parteien berücksichtigt werden, steigt der Mittelwert beträchtlich an (x = 5,4 bzw. 4,4). Die Unterschiede zwischen den politischen Parteien folgen weitgehend der in der zweiten Hypothese aufgestellten Behauptung, daß der Zielumfang mit der klien­

(12)

telbezogenen Spezifizität variiert. Die sogenannten Volksparteien SPD und CDU/CSU weisen einen deutlich größeren Zielumfang auf als die übrigen Parteien (PDS, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Republikaner), die thematisch und sozialstrukturell enger ausgerich­

tet sind. Interessanterweise ist sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern der Zie­

lumfang der SPD etwas größer ist als der der CDU/CSU.

Tabelle 2: Zielumfang der intermediären Akteure"

Alte Länder Neue Länder Verbände

Gewerkschaften 3,6 3,9

Berufsverbände 2,0 1,5

Untemehmerverbände 1,7 1,3

Wohlfahrtsverbände 1,3 1,0

Kirchen 2,0 1,9

( X ) (2,1) (1,9)

Soziale Bewegungen

Friedensbewegung 1,6 1,5

Ökologiebewegung 1,6 1,4

Frauenbewegung 1,4 1,7

Bürgerrechtsbewegung 1,9 2,6

Dritte-Welt-Bewegung 1,1 1,1

Selbsthilfegruppen 1,3 1,1

D O ____________ _ J 1'5) _ (1,6)

Massenmedien

Zeitungen/Zeitschriften 2,1 1,4

Radio/Fernsehen (privat) 1,7 1,2

Radio/Fernsehen (öffentlich-rechtlich) 1,9 1,5

( X ) (1,9) (1,4)

( X ) b (1,8) (1,6)

Politische Parteien

PDS 1,0 2,9

Bündnis 90/Die Grünen 4,3 4,1

SPD 7,1 5,3

FDP 4,0 3,3

CDU/CSU 6,2 5,0

REP 0,7 0,7

( X ) (3,8) (3,6)

( X ohne PDS und REP) (5,4) (4,4)

a Zielumfang: Durchschnittliche Anzahl von politischen Zielen, die nach Auffassung der Befragten von den jeweiligen Akteuren vertreten werden.

b Mittelwert über Interessengruppen (Verbände, soziale Bewegungen) und Massenmedien hinweg.

Die dritte Hypothese, in der für die Verbände ein höherer Zielumfang postuliert wird als für die sozialen Bewegungen und Massenmedien, wird ebenfalls bestätigt. Die Mittelwerte

(13)

bei den Verbänden betragen in den alten Ländern 2,1 und in den neuen Ländern 1,9. Dem­

gegenüber liegen die Mittelwerte bei den sozialen Bewegungen bei 1,5 bzw. 1,6 und bei den Massenmedien bei 1,8 bzw. 1,6. Zwei Ergebnisse sind hier aber bemerkenswert. Er­

stens ist in den neuen Ländern der Unterschied zwischen den Verbänden und den sozialen Bewegungen erheblich geringer als in den alten Ländern. Das geht fast ausschließlich auf den Zielumfang der Bürgerrechtsbewegung zurück, der in den neuen Ländern 2,6 beträgt und damit der zweitgrößte nach den Gewerkschaften ist. Wir führen dieses außerordentli­

che Ergebnis auf die prominente Rolle der Bürgerrechtsbewegung im Transformationspro­

zeß der DDR zurück (Blättert / Rink / Rucht 1996). Das zweite interessante Ergebnis be­

trifft die Massenmedien. Der Zielumfang der Massenmedien ist in den neuen Ländern deutlich niedriger als in den alten Ländern (1,4 bzw. 1,9). Wir vermuten, daß in den neuen Ländern die Erfahrung mit den Massenmedien der DDR nachwirkt, die aufgrund der staatlichen Kontrolle und Zensur ihre spezifischen Funktionen nur eingeschränkt erfüllen konnten.

Den Schwerpunkt dieses Analyseteils bildet zwar die quantitative Analyse des Zielum­

fangs der intermediären Akteure. W ir wollen aber dennoch kurz empirisch illustrieren, was sich inhaltlich in diesem quantitativen Zielumfang ausdrückt. Die den Akteursklassen zu­

geordnete Menge von Zielen - die den Mittelwerten zu entnehmen ist - sind inhaltlich na­

türlich nicht völlig beliebige Mischungen aus der Gesamtmenge von Zielen, sondern den Verbänden, den sozialen Bewegungen, den Massenmedien und den politischen Parteien werden auf der Aggregatebene bestimmte Ziele über- bzw. unterproportional zugeordnet.

Das Schaubild 1 beruht auf dem Anteil der Befragten, der für jedes der 19 Ziele minde­

stens einen Verband, eine soziale Bewegung, ein Massenmedium und eine politische Par­

teien genannt hat. Wie die empirischen Ergebnisse zeigen, liegt bei den Verbänden der Schwerpunkt bei den sozialpolitischen Zielen der sozio-ökonomischen Sicherheit und Ge­

rechtigkeit (insbesondere der Arbeitsplatzsicherheit), den ökonomischen Zielen (W ohl­

standsgewährung) und den Zielen gesellschaftlicher Integration (menschlicher Zusammen­

halt, Familienschutz). Bei den sozialen Bewegungen liegt der Schwerpunkt dagegen bei den ökologischen Ziele (Entwicklungshilfe, Friedenssichcrung und Umweltschutz). Bei den Massenmedien ergibt sich das eindeutigste Ergebnis: Außer den Zielen freier Mei­

nungsäußerung, Transparenz und Staatskontrolle, die zu den demokratisch-prozeduralen Zielen zusammengefaßt worden sind, werden alle anderen Ziele nur von einem kleinen Anteil der Befragten mit den Massenmedien in Beziehung gesetzt. Während sich bei den Verbänden, den sozialen Bewegungen und den Massenmedien relativ eindeutige inhaltli­

che Schwerpunkte identifizieren lassen, ist das bei den politischen Parteien weniger der Fall. Diesen werden alle Ziele von der Mehrheit der Befragten zugeordnet, relativ am ge­

ringsten ist die Zuordnung bei Politiktransparenz. Es handelt sich dabei um das einzige

(14)

Schaubild 1: Vertretung von Zielen durch Akteursgruppen

- Westdeutschland -

C 3 Verbände E 3 Soziale Bewegungen IM Massenmedien C 3 Politische Parteien

- Ostdeutschland -

□ Verbände Soziale Bewegungen ES Massenmedien S Politische Parteien

Ziele, Abkürzungen alphabetisch:

ALTV: Altersversorgung ARBP: Arbeitsplatzsicherheit BILD: Bildungsgerechtigkeit EIG: Eigentumsschutz

EINK: Einkommensgerechtigkeit ENTWH: Entwicklungshilfe FAM: Schutz der Familie FRIE: Frieden

GLEI: Gleichberechtigung KRA: Krankheitsabsicherung

MEI: Freie Meinungsäußerung PRIV: Schutz der Privatsphäre REI: Wohlstandsgewährleistung RUOR: Ruhe und Ordnung STKO: Staatskontrolle

I RAN: Politiktransparenz UMW: Umweltschutz

WOHN: Ausreichender Wohnraum ZUSH: Menschlicher Zusammenhalt

(15)

Ziel, bei dem mit den Massenmedien eindeutig eine andere Kategorie intermediärer Akteu­

re die politischen Parteien überwiegt. Das Muster für Ostdeutschland entspricht dem für Westdeutschland geschilderten weitgehend. Nach diesem kurzen inhaltlichen Exkurs set­

zen wir die quantitative Strukturanalyse fort.

3.2 D im en sio n a le A n a ly se

Die deskriptive Analyse des Zielumfanges der intermediären Akteure im vorangehenden Abschnitt, die auf den Mittelwerten der einzelnen intermediären Akteure einer postulierten Akteursklasse beruht, hat bereits einige systematische Unterschiede auf der Aggregatebene aller Befragten sichtbar gemacht. In diesem Abschnitt soll durch eine Faktorenanalyse ge­

klärt werden, inwieweit sich der Zielumfang der einzelnen intermediären Akteure auf der Individualebene auf einige Dimensionen reduzieren läßt und sich somit ein Strukturmuster ergibt. Die über eine solche Faktorenanalyse ermittelten Dimensionen indizieren, welche Akteure von den Individuen hinsichtlich der Anzahl der zugeordneten Ziele - also unange­

sehen ihres konkreten Inhaltes - zusammen gesehen werden. Unsere Erwartungen gehen ebenfalls von der funktionalen Differenzierung des intermediären Systems in politische Parteien, Verbände, soziale Bewegungen und Massenmedien aus. Wenn die Bürger diese theoretisch unterschiedenen Akteurskategorien des intermediären Systems auch subjektiv so perzipieren, dann sollten sich diese Akteurskategorien aus der Sicht der Bürger im Hinblick auf ihre Zielumfänge unterscheiden. Entsprechend des Grades der funktionalen Spezifizität der Akteurskategorien müßten sich also vier Faktoren ergeben, die jeweils Akteure mit ähnlich großem Zielumfang vereinen. Demnach läßt sich postulieren:

H4: Die Umfangsstruktur der intermediären Akteure entspricht der funktionalen Diffe­

renzierung in politische Parteien, Verbände, soziale Bewegungen und Massenmedi­

en.

Die Faktorenanalyse für die alten Länder und für die neuen Länder (Tabelle 3) ergibt in einer erstaunlichen Klarheit die erwartete Faktorenstruktur. Die vier Akteurskategorien bilden jeweils einen Faktor. Bemerkenswerterweise ist der erste Faktor (F l), d.h. der Fak­

tor, der den größten Anteil erklärter Varianz auf sich zieht, in beiden Landesteilen der Be­

wegungsfaktor. Inhaltlich bedeutet das, daß diejenigen Befragten, die einer sozialen Be­

wegung eine bestimmte Zahl an Zielen zuordnen, dazu neigen, ein vergleichbare Anzahl von Zielen auch den anderen sozialen Bewegungen zuzuordnen (dieselbe Logik gilt grund­

sätzlich natürlich auch für die anderen Faktoren). In den alten Ländern lädt die Partei

(16)

Bündnis 90/Die Grünen ebenfalls auf dem ersten Faktor. Sie wird in den alten Ländern offensichtlich in ähnlicher Weise funktional spezifisch betrachtet wie die Bewegungen. Es ist zwar für die neuen, nicht aber für die alten Länder unmittelbar plausibel, daß die Kir­

chen auf dem Bewegungsfaktor laden. Aber offensichtlich wird ihnen aus der Sicht der Ost- und der Westdeutschen ein ähnlicher Grad funktionaler Spezifizität wie den Bewe­

gungen zugesprochen.

Tabelle 3: Umfangsstruktur der intermediären Akteure“

Alte Länder Neue Länder

Fl F2 F3 F4 F5 Fl F2 F3 F4 F5

PDS .71 .70

Bündnis 90/Die Grünen .40 .56 .72

SPD .71 .72

FDP .82 .65

CDU/CSU .63 .45

REP .84 .77

Gewerkschaften .43 .36 -.47

Berufsverbände .73 .67

Unternehmerverbände .76 .77

Wohlfahrtsverbände .56 .65

Kirchen .51 .54 .46 .43

Friedensbewegung .80 .72

Ökologiebewegung .78 .82

Frauenbewegung .76 .79

Bürgerrechtsbewegung .77 66

Dritte-Welt-Bewegung .73 .78

Selbsthilfegruppen .70 .62

Zeitungen/Zeitschriften .88 .87

Radio/Fernsehen (privat) Radio/Fernsehen (öffent-

.85 .87

lich-rechtlich) .87 .82

a Faktorenanalyse: Hauptkomponentenanalyse mit orthogonaler Rotation. Es wurden nur Faktorenla­

dungen mit a 40 aufgenommen, bei Gewerkschaften die relativ höchste positive Ladung.

In beiden Landesteilen ist der zweite Faktor (F2) der Massenmedienfaktor, der dritte der Verbändefaktor (F3) und der vierte ein Parteienfaktor (F4). Zusätzlich wird in beiden Lan­

desteilen aber jeweils ein fünfter Faktor extrahiert. In den alten Ländern umfaßt dieser Faktor (F5) die PDS und die Republikaner, in den neuen Ländern lediglich die Republika­

ner - und in Form einer negativen Faktorladung auch die Gewerkschaften. In den alten Ländern werden also beide extremen Parteien aus dem Parteienfaktor F4 "herausgezogen";

in den neuen Ländern trifft dies lediglich auf die Republikaner zu. Der Parteienfaktor F4 stellt also einen Faktor des Spezifikationsgrades etablierter Parteien dar. Die PDS besitzt in

(17)

den neuen, nicht aber in den alten Ländern den Spezifikationsgrad etablierter Parteien, während die Republikaner in beiden Teilen Deutschlands als ein Sonderfall wahrgenom­

men werden.

Insgesamt entspricht also die Umfangstruktur der intermediären Akteure sowohl in den alten als auch in den neuen Ländern ziemlich genau der postulierten funktionalen Diffe­

renzierung zwischen den Akteursklassen.

4. Ziele-Akteure-Matrix

4.1 V orbem erkungen

Die bisherige "quantitative" Analyse konzentierte sich auf die Frage, wieviele Ziele von den jeweiligen Akteuren und Akteursklassen vertreten werden. In der folgenden

"qualitativen" Analyse behandeln wir die Zuordnungstruktur bestimmter Ziele zu bestimm­

ten Akteuren. Die Datenbasis bilden also die einzelnen Zellen der gesamten Ziele-Akteure- Matrix. Diese Matrix kann in einer technischen Sprache als eine Korrespondenztafel be­

zeichnet werden, in der es um den Zusammenhang zwischen Spalten- und Zeilenvariablen geht. Für die Analyse dieses Zusammenhangs bietet sich die Korrespondenzanalyse an, die durch ein bestimmtes Normalisierungsverfahren (kanonisch) das Verhältnis zwischen Zie­

len (Spaltenvariablen) und Akteuren (Zeilenvariablen) statistisch ermitteln und darstellen kann (Greenacre 1993). Das kanonische Normalisierungsverfahren erlaubt es, die räumli­

chen Distanzen zwischen Zielen und Akteuren als Ausdruck der inhaltlichen Nähe und Entfernung zu interpretieren. Die Distanzen zwischen Akteuren sind bei diesem Normali­

sierungsverfahren nicht unmittelbar interpretierbar, sondern nur indirekt über ihre jew eili­

ge Nähe oder Entfernung zu Politikzielen. Die graphische Repräsentation der Ergebnisse der Korrespondenzanalyse ermöglicht eine einfache und nachvollziehbare Interpretation:

Die räumlichen Distanzen (ganz im geometrischen Sinne von Strecken) zwischen Punkten entsprechen dem Grad der Zuordnung eines bestimmten Ziel zu einem bestimmtem A k­

teur. Je kleiner die Distanz zwischen Ziel und Akteur, desto häufiger ordnen die Befragten das entsprechende Ziel diesem Akteur zu.

Hypothesen über die konkrete Relationierung von Zielen und Akteuren lassen sich un­

schwer aus Überlegungen zur funktionalen und politischen Differenzierung intermediärer Akteure gewinnen. Dabei spielen politische Konfliktlinien (cleavages) eine herausragende Rolle. Sowohl die großen Interessengruppen als auch die politischen Parteien sind aus den wichtigen politischen Spaltungen in der Gesellschaft entstanden (Lipset und Rokkan 1967). Zu den traditionellen Konfliktlinien gehört der Gegensatz von Kapital und Arbeit

(18)

sowie der religiös-säkulare Konflikt. Diese Interessenpole werden im Parteiensystem der Bundesrepublik durch bestimmte Parteien und im Verbändesystem, das quasi den

„Unterbau“ des Parteiensystems bildet (Boldt 1981, Weßels 1991), durch bestimmte Ver­

bände repräsentiert. Neben diesen traditionellen Konfliktlinien ist in der Bundesrepublik seit Anfang der achtziger Jahre eine neue Konfliktlinie mit dem Inleressenpol Ökologie getreten, der ebenfalls im Parteien- und im Verbändesystem durch entsprechende Akteure repräsentiert ist. Diese neue Konfliktlinie hat aber auch zur Ausdifferenzierung eines neu­

en intermediären Akteurs, nämlich den sogenannten neuen sozialen Bewegungen, geführt.

Die allgemeine Hypothese lautet damit, daß die Relation zwischen diesen drei intermediä­

ren Akteuren - den politischen Parteien, den Verbänden und den sozialen Bewegungen - und den politischen Zielen entlang dieser politischen Spannungslinien organisiert ist. Der vierte intermediäre Akteur - die Massenmedien - ist in dieser Konfliktlinienstruktur nicht verankert; ihm kommt primär die Funktion der Sicherstellung von Öffentlichkeit und Transparenz zu.7

Bevor wir spezifische Hypothesen formulieren, muß noch geklärt werden, inwieweit sich diese generelle Hypothese zur Organisation der Ziele-Akteure-Relation entlang der Konfliktlinien nicht nur auf West-, sondern auch auf Ostdeutschland beziehen läßt. Es ist evident, daß eine auf dauerhafte Konflikllinien aufbauende Strukturperspektive auf die neuen Bundesländer (noch) nicht anwendbar ist (Pappi 1991). Dennoch wird hier die Hy­

pothese vertreten, daß zwischen Ost und West die Übereinstimmungen die Unterschiede in der Strukturwahrnehmung deutlich überwiegen, auch wenn die Strukturwahrnehmungen ganz unterschiedlich zu erklären sind. Diese Erwartung ergibt sich daraus, daß alle bishe­

rigen Studien zeigen, daß die Bürger der neuen Länder in einer rasanten Geschwindigkeit zumindest kognitiv sich auf die neuen institutioneilen und politischen Realitäten umstellen konnten (für Parteien Pappi 1991, Kaase und Klingemann 1994; für Verbände und Partei­

en Weßels 1994).

Die Struktur der Ziele-Akteure-Matrix wird im folgenden in drei Schritten analysiert:

erstens für die Interessengruppen und Massenmedien, zweitens für die politischen Parteien und drittens für alle intermediären Akteure zusammen.

7 Die Massenmedien sind zwar in der Konfliktlinien Struktur der Bundesrepublik nicht verankert, die Konfliktlinienstruktur wird aber teilweise von "politisierten Medien" wie der Alternativpresse (Gerhards 1993) oder der parteinahen Zeitungen reproduziert.

(19)

4 .2 D ie S tru ktu r der Ziele-In teressen g ru p p en /M a ssen m ed ien -M a trix

Im Hinblick auf die Struktur der Ziele-Akteure-Matrix für die Interessengruppen und Mas­

senmedien sind unter Bezugnahme auf die eingangs erläuterten allgemeinen Hypothesen relativ klare Erwartungen spezifizierbar. Unter Rückgriff auf die politischen Konfliktlinien kann für die Interessengruppen folgendes formuliert werden: Die im Rahmen des Konflik­

tes zwischen Kapital und Arbeit entstandenen ökonomischen Verbände wie Gewerkschaf­

ten, Berufs- und Unternehmerverbände werden primär mit sozialpolitischen Zielen (sozio- ökonomische Gerechtigkeit und sozio-ökonomische Sicherheit) und ökonomischen Zielen (Wohlstand) assoziiert; die Kirchen als Exponenten der religiös-säkularen Spannungslinie werden in erster Linie mit traditionellen Gemeinschaftswerten (gesellschaftliche Integrati­

on) verbunden; Akteure, die im Rahmen der neuen Konfliktlinie entstanden sind (die Mehrheit der sozialen Bewegungen), werden primär mit ökologischen Zielen verknüpft.

Massenmedien, die in der Konfliktlinienstruktur nicht verankert sind, nehmen keine genuine Funktion im Rahmen eines bestimmten Interessenpols ein, obgleich sie gelegent­

lich eine „anwaltliche Rolle“ für bestimmte Interessen übernehmen. Ihre primäre Funktion besteht in der Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz; deshalb sollten sie vor al­

lem mit der Sicherstellung bestimmter demokratisch-prozeduraler Ziele assoziiert werden.

Die vier Hypothesen für die Interessengruppen und Massenmedien lauten nach diesen Überlegungen folgendermaßen:

H5: Sozialpolitische (sozio-ökonomische Gerechtigkeit und Sicherheit) und ökonomische Ziele (Wohlstand) werden primär den ökonomischen Verbänden zugeordnet.

H6: Ziele gesellschaftlicher Integration werden primär den Kirchen zugeordnet.

H7: Ökologische Ziele werden primär den sozialen Bewegungen zugeordnet.

H8: Demokratisch-prozedurale Ziele werden primär den Massenmedien zugeordnet.

Die Ergebnisse der Korrespondenzanalyse für die alten und die neuen Länder sind in den Schaubildern 2 und 3 abgebildet. Bedient man man sich eines "faktoranalytischen Stils"

(Greenacre 1990: 31) bei der Interpretation dieser Ergebnisse, können die beiden Dimen­

sionen des zweidimensionalen Raums näher bestimmt werden. Eine Interpretationshilfe bieten dabei die Extrempunkte beider Dimensionen im Verhältnis zum Zentrum des Schaubildes. Für die alten Bundesländer ergibt sich eine recht klare Bedeutung der ersten, horizontalen Dimension, wenn man in einem ersten Schritt die politischen Ziele betrachtet,

(20)

Schaubild 2\ Korrespondenzanalyse der Beziehung zwischen Zielen und Interessengrup­

pen in Westdeutschland

04 1.5 C o

■(/)

0.5

0

-0.5

-1

-1.5

♦ X o flt. T rcn sp cre n z F ^N K M E D IE N PRIVAT ZE IT UNGE N ^F U N K M E DIE N

CFPENTLICH

♦ K /te ln u n g s frd h d t

\ ♦ S tc c fs k o n trd le

\yPrlvdsphcre

BÜRGERRECHTS­

BEWEGUNG

\

FRAUENBEWEGUNG*

FRIEDENSBEWEGUNG Frlgden Umwdisgiute

ÖKOLOGIE BE WEGUNG

G Jd ch h e re ch tlg u n g IN G * '

) Uß u h e u n d O rd n u n g

♦ \ ♦ W c h n ra u m

^E ig e n tu m s sch ü tz

B ^d u n g sg e re ch tli

— * * n u

\ ^SELBST Hl LEfeRlfPpE Wchlsta

♦ Z usa rrm e nhdt ** • N ♦ ♦ Alters v

♦ FcrrtlleAscfcyfc-* KraikheHscfceld IOBCHF N * WOHLFAHRT S-

K'RCHEN VERBÄNDE

♦ Entwicklungshilfe

♦DRITTE-WELT­

BEWEGUNG

KSCHAFTEN RNEHMER- ÄNDE f^UFS VERBÄNDE

e n s g e re c h tlg k d t Its p ld z s lc h e rh d t srsorgung e ru n g

■2

-1.5 -1 -0.5 0 0.5 1 1.5

D i m e n s i o n 1

Schaubild 3: Korrespondenzanalyse der Beziehung zwischen Zielen und Interessengrup­

pen in Ostdeutschland

c\i 15

E0)

b

-Q5

-15

-2.5

ZEITUNGEN FUhKh/EDEN PRIVAT

, ♦ Urrweltschufz

Pdlt.TrcrBpaaTZ

♦ ^UbKNEDENäTENTLICH

1 A ---x_||^

BÜRQERRECHTS- BB WEGUNG

Prlvdsphäe C kaoaE-BEW G UNsF^rsBEW EGJN^

FaAllqjpchUz *

- - T

____- — ---KIRCHEN

♦ EnlvdckJirgßHIfe

CRITTE-WELT- BE WEGUNG

-0.5

♦ ö m m rE 'S ' SELBST HLFE-GRUpW ^ L

* Ä l t e s t

WOHLFAHRT S-VERBÄTE Krcnkhäte

GEWERKS OWT EN UNTERhEHlVER- VERBÄME BERUFS VERBAND

>g3«htig<df

^rbätspIdzsIchHhät raagjig dtsfd-öwg

05 15

Dimension 1

(21)

die die Endpunkte dieser Dimension bilden. Der linke Endpunkt wird durch die ökologischen Ziele definiert und der rechte Endpunkt durch sozialpolitische (sozio- ökonomische Gerechtigkeit und Sicherheit) und ökonomische Ziele. Diese erste Dimension kann also als Dimension der „neuen“ und „alten“ Politik interpretiert werden.

Die zweite, vertikale Dimension weist demgegenüber nur in einer Richtung Extrempunkte auf, und zwar nach oben. Diese werden durch die demokratisch-prozeduralen Ziele gebil­

det. Der andere Endpunkt dieser Dimension endet im Schnittpunkt beider Achsen, wo vor allem Ziele der gesellschaftlichen Integration lokalisiert sind.

In diesem durch die drei Ziele Ökologie, Sozialpolitik/Ökonomie und demokratisch- prozedurale Ziele aufgespannten Raum sind die intermediären Akteure im wesentlichen entsprechend der in den Hypothesen formulierten Erwartungen verortet. Bei der ersten Dimension, die als neue vs. alte Politik-Dimension interpretiert wurde, sind auf der (linken) Seite der neuen Politik die sozialen Bewegungen, insbesondere die Friedens-, Ökologie- und Dritte-Well-Bewegung zu finden. Sowohl die Frauen- als auch die Bürger­

rechtsbewegung weichen in ihrer Positionierung von der Erwartung ab: Sie lassen sich weniger auf dem (linken) Pol dieser Alte-Neue-Politik-Dimension lokalisieren. Die Frau­

enbewegung läßt sich eher in der Mitte dieser Dimenion und die Bürgerrechtsbewegung stärker auf der zweiten Dimension lokalisieren. Bei der Frauenbewegung dürfte diese Lage damit Zusammenhängen, daß das Gleichberechtigungsthema zwar von der Frauenbewe­

gung aufgegriffen wurde und wird, aber auch ein klassisches Thema der Arbeiterbewe­

gung ist, deren Akteure sich auf der (rechten) Seite der alten Politik befinden. Bei den Bürgerrechtsbewegungen hat die Positionierung auf der zweiten Dimension mit der relati­

ven Nähe zu den demokratisch-prozeduralen Zielen zu tun, die den Endpunkt dieser Di­

mension bilden.

Erwartungsgemäß lassen sich die ökonomischen Verbände auf dem (rechten) Pol der er­

sten Dimension auffinden, wo die Ziele der alten Politik lokalisiert sind. Die Massenmedi­

en befinden sich wie vermutet in der Nähe des (oberen) Endpunktes der zweiten Dimensi­

on, die durch die demokratisch-prozeduralen Ziele gebildet wird. Die Kirchen liegen zwar in der Nähe der gesellschaftlichen Integration, die das andere Ende der zweiten Dimension bildet, doch sie befinden sich - etwas abweichend von der Hypothese - nicht in unmittelba­

rer Nähe dieser Ziele. Der Grund dafür ist die gleichzeitige relative Nähe der Kirchen zur Friedenssicherung, die den ökologischen Zielen zugeordnet wurde. Das mag daran liegen, daß sich aus den Kirchen viele auch für die Friedensbewegung engagiert haben.

Im Großen und Ganzen entspricht damit die Ziele-Akteure-Relation für die Interessen­

gruppen und Massenmedien den formulierten Hypothesen. Wie erwartet, sind die Unter­

schiede zwischen West- und Ostdeutschland eher marginal. Was in Westdeutschland vor

(22)

allem durch die dauerhafte Erfahrung mit den Konfliktlinien gesteuert wird, scheint in Ostdeutschland durch "bloße" Kognition erreicht worden zu sein.

4.3 D ie S tru ktu r der P a rteien -Z iele-M a trix

Die strukturell bedingte Eigenart der politischen Parteien beinhaltet, daß die Parteien gegenüber den Interessengruppen und Massenmedien ein vergleichsweise breites Spektrum von politischen Zielen vertreten. Politische Parteien, insbesondere die sogenannten Volks­

parteien, sind Generalisten. Wie die vorangegangen "quantitativen" Analysen zum Zielum­

fang gezeigt haben, werden sie von den Bürgern auch als solche wahrgenommen.

Gleichwohl sind die politischen Parteien auch in der Konfliktlinienstruktur der Bundesre­

publik verankert und zeichnen sich durch entsprechende inhaltliche Schwerpunktsetzungen aus: die CDU/CSU in der Wirtschaftspolitik, die SPD in der Sozialpolitik, die FDP in der Verfassungspolitik und Bündnis 90/Die Grünen in der Umweltpolitik. Hinzu kommen die Republikaner mit Fragen der inneren Sicherheit und die PDS mit ihrer stark sozialistisch geprägten sozialpolitischen Orientierung.

Entsprechend müßten die SPD und die PDS relativ stärker mit sozialpolitischen Zielen der sozio-ökonomischen Gerechtigkeit und Sicherheit verbunden werden. Aufgrund des wirtschaftspolitischen Schwerpunktes der CDU/CSU sollte diese mit dem ökonomischen Ziel des materiellen Wohlstands verknüpft werden. Daneben stehen diese Parteien auch für den sozialen Traditionalismus, weshalb die Ziele gesellschaftliche Integration und innere Sicherheit mit ihnen verbunden sein dürften. Der programmatische Schwerpunkt der FDP sollte sich in der Nähe zu liberalen Schutzrechten dokumentieren. Daneben müßte diese Partei, die ebenfalls ein wirtschaftspolitisches Profil besitzt, wie die CDU/CSU mit dem ökonomischen Ziel des materiellen Wohlstandes in Zusammenhang gebracht werden. Für Bündnis 90/Die Grünen ist eine enge Zuordnung zum Umweltschutz und für die Republi­

kaner eine enge Zuordnung zur inneren Sicherheit erwartbar.

Da die politischen Parteien im Unterschied zu den Interessengruppen und Massenmedien den Charakter von politischen Generalisten besitzen, in aller Regel also nicht nur ein Poli­

tikziel, sondern ein ganzes Paket von Politikzielen vertreten (policy packages), ist - anders als bei den Interessengruppen und Massenmedien - keine Deckungsgleichheit zwischen bestimmten Zielen und bestimmten Akteuren zu erwarten. Die Parteien sollten also nicht in der Nähe eines bestimmten Ziels, sondern eher in der Nähe eines Bündels politischer Ziele stehen. Dieser Sachverhalt impliziert, daß die Dimensionen nicht so eindeutig be­

stimmt sind wie bei der Ziele-Akteure-Konstellation der Interessengruppen und Massen­

medien. Diese Vermutungen sollen wiederum in Form von Hypothesen expliziert werden:

(23)

H9: Der Raum der Ziele-Akteure-Matrix ist für politische Parteien weniger klar struktu­

riert als für Interessengruppen und Massenmedien.

H10: Die im Rahmen dieser geringer ausgeprägten Struktur relativ eindeutigsten Konfigu­

rationen sind:

a) Sozialpolitische Ziele (sozio-ökonomische Gerechtigkeit und Sicherheit) werden primär der SPD und PDS zugeordnet.

b) Das ökonomische Ziel des Wohlstands wird vor allem mit der CDU/CSU und der FDP verbunden. Die CDU/CSU wird darüber hinaus noch vor allem mit gesell­

schaftlicher Integration und innerer Sicherheit in Zusammenhang gebracht; bei der FDP sind es die liberalen Schutzrechte.

c) Ökologische Ziele werden primär Bündnis 90/Die Grünen zugeordnet.

d) Innere Sicherheit wird am eindeutigsten mit den Republikanern in Verbindung gebracht.

Wiederum ergibt die dimensionale Analyse insbesondere in Westdeutschland einen in zwei Dimensionen klar strukturierten Raum (Schaubilder 4 und 5). Die eine Dimension verläuft vom Umweltschutz zu sozialpolitischen Zielen. Die andere Dimension weist nur einen (rechten) Pol aus, der mit Wohlstand, Eigentumsschutz und innerer Sicherheit besetzt ist.

Das andere Ende dieser Dimension liegt im Zentrum der Konfiguration. Wie im Fall der Interessengruppen und Massenmedien wird also ein Raum mit drei Endpunkten aufge­

spannt. Die Endpunkte der Interessengruppen/ Massenmedien- und der Parteien- Konfiguration sind aber nur mit Einschränkungen vergleichbar.

Die vertikale Dimension von Umweltschutz zu Sozialpolitik ist zwar ebenfalls als Di­

mension der neuen vs. alten Politik interpretierbar; die Endpunkte sind aber im Unter­

schied zur vergleichbaren Dimension im Fall von Interessengruppen und Massenmedien weniger umfassend. Die Seite der allen Politik beinhaltet nicht sozial- und wirtschaftspoli­

tische Ziele, sondern nur sozialpolitische Ziele. Und die Seite der neuen Politik umfaßt nicht alle ökologischen Ziele, sondern nur den Umweltschutz. Der dritte Endpunkt weist überhaupt keine Ähnlichkeit mit der Konfiguration der Interessengruppen und Massen­

medien auf. Bei politischen Parteien sind es nicht die demokratisch-prozeduralen Ziele, sondern Wohlstand, innere Sicherheit und Eigentumsschutz, die diesen Endpunkt definie­

ren. Letztere können mehrheitlich ebenfalls der alten Politik zugerechnct werden. Das heißt, im Fall der politischen Parteien liegt eine Trias vor, die sich aus neuer Politik (Umweltschutz), einer Teilmenge alter Politik (Sozialpolitik) und einer weiteren Teilmen-

(24)

ge alter Politik (Ökonomie, innerer Sicherheit) zusammensetzt. Auf der Ebene politischer Parteien wird zwischen den Zielen alter Politik also weiter differenziert.

Schaubild 4: Korrespondenzanalyse der Beziehung zwischen Zielen und politischen Par­

teien in Westdeutschland

CM 0.8 C o 'to

| 0.6 Q

4 ElnkanTT=nsg=rechflgkdt

0.4

0.2

-Q2

-0.4

♦ B90 Z

/ x

z

ZnAätediutz

* 5 P ^ Z r c n k h ä fe d ^ lc t> s r u n g B Ild J n g ^ ^ e c h flg k ä t

♦ p n s W c tm r a m

Z ♦ Alters \ a s a g i n g

♦ Q d c h b e r e c M i^ J i^ ♦ A rb d te p ld z s ltfie h d t

t T ra ts p ^ n z ♦ Z u s S r rre n h d t

U 4 ä rw c £ ftä b a k ♦ tfrlu d s p h ä e

^ ^ S tc d s k c n tr d le

♦ E n h ^ c k lu r ^ w tfe F m 1 ||e ls c h u 6

F ,l€ d m C W

Pdlt.

\

Wdistcnd

\

E lg m lu n ^sch W z R u l-e u n d a c t i n g

♦ REP

-0.5 05 1

Dimension 1

Was die Positionierung der einzelnen Parteien angeht, so liegen Bündnis 90/Die Grünen erwartungsgemäß auf der (unteren) Seite der vertikalen Achse, welche die neue Politik repräsentiert. SPD und PDS befinden sich am anderen Ende dieser Achse in der Nähe der Sozialpolitik oder genereller formuliert: dem sozialpolitischen Teil der alten Politik.

CDU/CSU, FDP und die Republikaner liegen auf der vertikalen Achse, die ebenfalls als Dimension der alten Politik interpretiert werden kann; in diesem Fall schließt sie aber nur die ökonomischen Aspekte und innere Sicherheit ein.

In allen Fällen sind die Parteien aber nicht an den Endpunkten dieser Dimensionen zu lokalisieren, sondern in einer Zwischenposition zwischen den zielbezogenen Extremen und dem Zentrum. Diese in Bezug auf Ziele nicht eindeutig festgelegte Positionierung verweist auf den Aspekt, daß Parteien in der Regel multiple Ziele oder ganze Zielbündel verfolgen.

So stehen die CDU/CSU und die FDP zwischen den liberalen Schutzrechten, dem Wohl­

standsziel und Zielen gesellschaftlicher Integration. Die SPD und die PDS liegen mit dem größeren Teil der sozialpolitischen Ziele in einem Cluster. Bündnis 90/Die Grünen und Umweltschutz befinden sich am linken Rand des Raumes. Wie die Republikaner, die rela­

(25)

tiv eng neben der inneren Sicherheit liegen, stellen sie die eindeutig engste Konfiguration dar.

Schaubild 5: Korrespondenzanalyse der Beziehung zwischen Zielen und politischen Par­

teien in Ostdeutschland

<M 0.8

.oC

c 0.6 fl)

QE 0.4

0.2

♦ Einkommensgerechtigkeit

♦ PDS /

z

* SPD

Polit. Transparenz .

W^hnraum

Bildungsgerechugkeit A A u ». • u.

> ♦ Krankheitsabsicher ing Gleichberechtigung +

/ S b * ^ einun9sfreiheit ♦ Altersversorgur g

Z

Frieden Privatsphäre Staatskontrolle

♦ Arbeitsplatzsicherheit

-0.2 -

-0.6

-0.8 -1.5

z ♦ z z

♦ Umweltschutz

-1

' ♦ Zusammenhalt

x ♦ ♦

/ Familienschutz ^ u h e und Ordnunc

♦ FDP

cd'iS ,

♦ Entwicklungshilfe Wohlstand

E igentu msschutz

-0.5 0 0.5 1

Dimension 1

/

Etwas abweichend von der generellen Erwartung der hohen Übereinstimmung in den Strukturwahrnehmungen zwischen West und Ost weist die Matrix in einem Aspekt in den neuen Ländern eine andere Konfiguration auf. Die Republikaner liegen sehr viel näher an den sozialpolitischen Zielen als an der inneren Sicherheit. Ansonsten sind die Konfigura­

tionen in Ost und West aber im Großen und Ganzen sehr ähnlich.

4 .4 D ie S tru ktu r der gesam ten Z iele-A kteu re-M a trix

Der letzte Schritt der Strukturanalyse der Ziele-Akteure-Matrix besteht in einer Analyse der politischen Ziele in Verbindung mit allen intermediären Akteuren. Mil dieser Analyse läßt sich die Hypothese (H9) der unterschiedlichen funktionalen Spezifizität der Verbände und Massenmedien auf der einen Seite und der politischen Parteien auf der anderen Seite

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Dabei wird deutlich werden, dass das anfangs angeführte Urteil Paul Natorps über seinen älteren Freund Hermann Cohen – wie immer dessen Härte in seinem brieflichen Kontext

Russo, Göttingen Aus-, Fort- und Weiterbildung Vorsitz: Prof.. Goetz, Hamburg

Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin Krankenhaus St.-Joseph-Stift Schwachhauser Heerstraße 54 28209 Bremen, Deutschland 2. Peter Fricke

KGaA, Lübeck, gestiftete Heinrich-Dräger-Preis für Intensivmedizin in Höhe von insgesamt 2.500 Euro für herausragende Arbeiten und Pro- jekte auf dem Gebiet der Intensivmedizin

Wahlen Schleswig-Holstein Am 11.12.2015 fand im Congress Center Hamburg die Jahresversammlung der Landesverbände Schleswig-Holstein von BDA und DGAI statt. Bei dieser Ge-

Die Mitarbeit in der wis sen schaftli chen Programmkommis sion des DAC (Vorsitz: Prof. Hoeft, Bonn) ist grundsätzlich für jedes zum Zeit­.. punkt der Bewerbung

KGaA, Lübeck, gestiftete Heinrich-Dräger-Preis für Intensivmedizin in Höhe von insgesamt 2.500 Euro für herausragende Arbeiten und Projekte auf dem Gebiet der Intensivmedizin

KGaA, Lübeck, gestiftete Heinrich-Dräger-Preis für Intensivmedizin in Höhe von insgesamt 2.500 Euro für herausragende Arbeiten und Projekte auf dem Gebiet der Intensivmedizin