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Ein kleiner Himmel TEXT: ANDREA WALTER FOTOS: FRANCESCO ZIZOLA

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In einem 2000-Seelen-Dorf in den Hügeln Kalabriens soll ein Gedenkfriedhof entstehen für die Flüchtlinge, die bei der Fahrt über das Mittelmeer ums Leben kamen. Was ist das für ein Ort ?

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Ein kleiner

Himmel

TEXT: ANDREA WALTER

FOTOS: FRANCESCO ZIZOLA

Der kalabrische Ort Tarsia thront auf einem Gebirgs- ausläufer im Inland. Der Gedenkfriedhof soll zu Füßen des Ortes errichtet werden, wo die Olivenbäume stehen. Im Vordergrund: der alte Friedhof

Franco Corbelli (rechte Seite) ist der Initiator des Gedenkfriedhofs. Auf die Idee kam der Menschen- rechtsaktivist und Berufsschullehrer, als er die Bilder der Tragödie von Lampedusa sah

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F l u c h t u n d H o f f n u n g

F

RANCO CORBELLI LÄUFT ÜBER DAS FELD, DAS EIN­

mal seine Vision tragen soll. Es ist trocken, steinig, da sind Disteln, aber auch alte Olivenbäume. Zikaden sin­

gen in der Mittagshitze; sie schreien fast, diese kleinen Krea­

turen. „Hier werden sie ihre Ruhe finden“, sagt Corbelli gegen das Trommeln der Tierchen an, „gegenüber von Wasser.“ Er zeigt auf den See von Tarsia. „Eine Botschaft der Hoffnung“, fügt er hinzu. Denn Wasser müsse nicht Tod bedeuten.

Corbelli, ein schmaler Mann Anfang sechzig, sieht müde aus. Seit Jahren kämpft er für seinen Traum, auf dem Stück Land zu Füßen von Tarsia einen Gedenkfriedhof zu errich­

ten – für die Flüchtlinge, die auf ihrem Weg übers Mittelmeer ums Leben kamen. Für deren Familien. Und für die Welt.

Damit sie nachdenkt über das Drama der Migration. Doch der Weg dorthin ist steinig, wie der Boden, auf dem er steht.

Franco Corbelli kommt nicht aus Tarsia, er lebt 15 Kilo­

meter entfernt. Aber man kennt ihn hier. Im Rathaus klopft ihm ein Mann auf die Schulter. „Ich habe Sie im Fernsehen gesehen“, sagt er. „Ich bewundere Ihre Arbeit.“ Corbelli senkt den Kopf und winkt ab. Es sei eine Familientradition, sagt er später. Schon seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern hätten stets auf der Seite derer gestanden, die ganz unten sind. „In jeder Minute, leider“, sagt Corbelli verzweifelt, es ist Mitte

cierte einen Appell in der Presse: „Gibt es einen Bürgermeister in ganz Kalabrien, der mir die Möglichkeit dafür bietet?“ Doch:

„Silenzio!“, sagt Corbelli. Niemand reagierte.

Er bot bereits den kleinen Weinberg an, 5000 Quadrat­

meter groß, den er von seinen Eltern geerbt hatte, als die Regionalwahlen kamen und die Hoffnung wieder wuchs:

Oliverio wurde Präsident von Kalabrien. Erneut dachten sie über den Friedhof nach – und kamen auf Tarsia. Ein Nest von 2060 Seelen, im Inland gelegen. Wieso, um Himmels willen, dort? Weil Tarsia eine besondere Geschichte hat.

In der Nähe, in einem ehemaligen Sumpfgebiet, wurde im Zweiten Weltkrieg das größte Konzentra tionslager Italiens ge­

baut. Es gab 92 Baracken und bis zu 2700 Gefangene, die meisten ausländische Juden, die auf der Flucht in Italien ver­

haftet worden waren, aber auch andere Feinde des faschis­

tischen Regimes. Und obwohl es ein Internierungslager war, war es – es ist kaum zu glauben – ein menschlicher Ort.

In Ferramonti, wie das Lager hieß, wurde keine Gewalt angewendet. Im Gegenteil: Der Direktor, Paolo Salvatore, ein Polizeikommissar, bestand darauf, dass die Internierten gut behandelt wurden. Die Familien wurden nicht getrennt. Nie­

mand musste arbeiten. Aber sie durften sich selbst organisie­

ren. Die Internierten führten eine Schule, einen Kindergarten, Juli 2018, „sterben Menschen.“ Seit es

den NGOs verboten sei, die italienischen Häfen anzusteuern, sei die Zahl noch gestiegen. „Das ist der verheerende, der schreckliche Schaden“, sagt er. Und über Innenminister Sal vini: Er sei eine Persön­

lichkeit, die sich gar nicht bewusst sei, „welche Schäden an der Menschlichkeit sie anrichtet, an denen, die am ärmsten sind und am meisten leiden, den Migranten“.

Schon als Kind konnte Corbelli keine Ungerechtigkeit ertragen, mit sieben wollte er Journalist werden. Später, neben dem Studium, arbeitete er fürs Radio und als Korrespon­

dent für verschiedene Zeitungen. Heute ist er Berufsschul­

lehrer, nebenbei Aktivist. Vor 23 Jahren gründete er die Be wegung „Diritti Civili“, Bürgerrechte. Längst trägt er einen Verdienstorden des italienischen Staates, ein Laudator nannte ihn „Gandhi Kalabriens“, eine Lokalzeitung schrieb „Kein Härtefall, zu dem er nicht geeilt kommt“.

Auf die Idee mit dem Friedhof kam Corbelli im Oktober 2013, als er die Bilder der Tragödie von Lampedusa im Fern­

sehen sah. Erschüttert blickte er auf „all die Körper ohne Namen, eingeschlossen in Särgen, vor allem die kleinen wei­

ßen, in denen Kinder lagen“. Jetzt werden sie an irgendwel­

chen Orten begraben, dachte er, und die Erinnerung an sie wird für immer verwischt, weil kein Angehöriger je wissen wird, wo sie liegen. „Wenigstens diese Unmenschlichkeit“, sagte er sich, „müssen wir beenden.“

Er rief Mario Oliverio an, den damaligen Präsidenten der Provinz Cosenza. Er kannte ihn aus der Zeit, als er dort Rats­

mitglied war. Oliverio gefiel die Friedhofsidee, sagt Corbelli.

Doch was fehlte, war ein Ort dafür. Corbelli kontaktierte die Präsidentin der Region. Nichts passierte, monatelang. Er lan­

eine Krankenstube, drei Synagogen. Auch eine Art Parlament durften sie bilden, mit einem Delegierten je Ba racke. Und die Dorfbewohner brachten ihnen zusätzlich Essen. Tarsia muss in jener Zeit eine Art gallisches Dorf gewesen sein.

Auch das Gedenkmuseum am Ortsrand zeugt davon. Die Ausstellung befindet sich in den wenigen Gebäuden, die geblieben sind, die anderen mussten der Autobahn weichen.

Auf Schwarz­Weiß­Aufnahmen sieht man die Internierten beim Kartenspiel, beim Schreinern, bei Fußballturnieren.

Sogar Konzerte gaben sie, viele von ihnen waren hochgebil­

det, Ärzte, Professoren, Musiker – und sie luden die Dorf­

bewohner zu den Konzerten ein. Die Engländer, die das KZ 1943 befreiten, notierten: „Es ähnelte eher einem kleinen Dorf als allem anderen.“ Als die „Jerusalem Post“ einen Artikel über Ferramonti veröffentlichte, tat sie dies unter der Über­

schrift „Ein unerwarteter Himmel“. Noch heute prangt am Ein­

gang des Ortes ein Schild mit der Aufschrift: „Tarsia, terra di pace e solidarietà“, Land des Friedens und der Solidarität.

„Deshalb“, sagt Franco Corbelli, „habe ich Tarsia gewählt.“ Er hofft, die Geschichte fortschreiben zu können. „Das Herz Itali­

ens“, sagt er, „ist nicht das von Salvini – es ist das von Tarsia.“

Im Rathaus trifft Roberto Ameruso ein. Der Bürgermeister ist Anfang vierzig und in Turin geboren, doch seine Eltern stammen aus Tarsia. Nach dem Studium in Rom eröffnete er hier eine Anwaltskanzlei, obwohl viele ihm sagten: „Da ist doch nichts! Null.“ Kalabrien gilt vielen als verfluchter Land­

strich, ohne Arbeit, ohne Hoffnung. Junge Leute verlassen die Dörfer. Ameruso ging den anderen Weg. Er deutet aus dem Fenster: „Ich fühle mich wie die Olivenbäume da draußen“, sagt er, „eng verbunden mit dieser Erde.“ ➣

Donna Lina ist eine der Eigentümerinnen des Grund- stücks, auf dem der Friedhof entstehen soll. Sie ist die Besitzerin eines kleinen Tabakladens

terra di pace

e solidarietà

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Fragt man ihn, warum Tarsia den Gedenkfriedhof bauen will, sagt er: „In erster Linie zu Ehren seiner Geschichte, der Solidarität und der Menschlichkeit, die diese Gemeinde in jener dunklen Phase zeigte.“ Die Generation seiner Großeltern hätte damals eine klare Entscheidung getroffen: auf Seiten derer zu stehen, die zu Unrecht verfolgt wurden. Es habe kein Zögern gegeben. Sie seien den Internierten mit Bewunderung, Empathie und Offenheit begegnet. Auch das erklärt Ameruso aus der Geschichte, mit Kalabriens Lage am Mittelmeer, die immer für Kontakt zu anderen Völkern sorgte.

K

alabriens Geschichte“, sagt er, „ist eine Geschichte der Aufnahme.“ Als Beispiel nennt er albanische Dörfer auf den Hügeln der Umgebung – gegründet von den Arbëresh, die im 15. Jahrhundert kamen. Bis heute würden dort eigene Traditionen fortgeführt. Gewalt oder Intoleranz habe es nie gegeben.

Dann erzählt Ameruso eine Geschichte, die in Tarsia jeder kennt: Es war im September 1943. Nachdem die Alliierten in Sizilien gelandet waren, befand sich die Panzerdivision „Hermann Göring“ auf dem Rückzug gen Norden – über die Straße, an der auch Ferramonti lag. Die Internierten hatten schreckliche Angst. Die Lagerleitung öffnete die Tore, damit sie ins nahe Ackerland fliehen konnten. Zurück blieben nur die Alten, die Kranken und der Geistliche des Lagers. Am Eingang hissten sie die gelbe Flagge. Sie bedeutete: Hier herrscht Cholera. Die Deutschen verschonten das Lager. Die Bauern in ihren Hütten auf dem Land indes öffneten den Internierten die Türen: „Favorite!“, sagten sie, kommt herein!

„Sie teilten mit ihnen das Wenige, das sie hatten“, sagt Ameruso.

Als Corbelli und Regionalpräsident Oliverio ihn Ende 2014 wegen des Friedhofs kontaktierten, sagte Ameruso, gerade Bürgermeister geworden, zu seiner Administration: „Auch wir müssen in dieser Situation eine Wahl treffen.“ Zu jener Zeit war in Italien eine feindliche Stimmung gegen Flüchtlinge auf­

gekommen. Die Administration beschloss, einen Teil des ohne­

hin geplanten Friedhofs für den Gedenkfriedhof bereitzustel­

len. Auch das hatte Tradition: Wer in Ferramonti starb, etwa an Malaria, wurde auf dem Friedhof von Tarsia begraben.

Ameruso spricht davon, auf „der richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen. „Ich bin seit 15 Tagen Vater“, sagt er.

„Ich schaue meinem Sohn in die Augen und kann ihn nicht zu Hass erziehen. Ich kann ihm nicht sagen, dass der andere eine Gefahr ist. Ich werde ihm beibringen, dass er eine Ressource ist.“ Man befände sich in einer hässlichen Phase der Geschich­

te. Auch deshalb sei der Friedhof so wichtig. „Wir müssen hier ein Licht anzünden, nicht ausmachen“, sagt Ameruso. „Wenn wir es ausmachen“, fürchtet er, „stürzt die gesamte Mensch­

lichkeit in Europa.“

Am Anfang sei es nicht einfach gewesen, sagt Corbelli.

Nicht jeder im Dorf war für den Friedhof. Aber der Bürger­

meister sprach mit seinen Leuten, erklärte ihnen, was es damit auf sich hat. Heute seien sie einverstanden, ja, sogar stolz.

Läuft man durch den Ort, ist die Lage nicht ganz so eindeu­

tig. Tarsia – drei Supermärkte, drei Kirchen, fünf Bars, zwei Tabakläden, eine Pizzeria im Ortskern, ein Imbiss auf der zentra­

len Piazza – ist wunderschön gelegen, mit Blick auf Hügel voller

Olivenhaine, den See, den Fluss Crati. Aber es ist einstweilen auch ein Druck auf die Seele. Viele Häuser in der Altstadt stehen leer, von den Fassaden blättert Putz. Viele erste Gespräche im Dorf beginnen damit, dass es keine Arbeit gibt, zero, null.

„I poveri morti vicino ai poveri vivi“, sagt Domenico Francesco, genannt Don Ciccio, am Morgen in einer Kaffeebar, die armen Toten neben die armen Lebenden. Don Ciccio ist 82 Jahre alt, früher war er Unternehmer, heute ist er Pensio­

när, wie viele im Ort. Er finde die Idee gut, sagt er später.

„Wann geht es denn jetzt los?“ Schon oft hieß es, die Bau arbei­

ten würden bald beginnen. Ende Januar 2016, im April 2017, im Januar 2018. Con assoluta certezza, mit absoluter Sicherheit, in den ersten Tagen im Mai 2018, sagte Corbelli dem „Quotidiano del Sud“. Beim Treffen im Rathaus Mitte Juli 2018 sagt er: „Ende des Monats assolutamente sollten wir anfangen!“

Corbelli möchte, so ist auch in der Presse zu lesen, den Toten mit dem Cimitero Internazionale dei Migranti ihre Wür­

de zurückgeben. Er hofft, dass Angehörige eines Tages Blu­

Auch wenn viele sich fragen, was es soll, weil ein Friedhof Geld kostet und keines bringt. „Diese Menschen haben doch Fami­

lien. Warum nehmen sie nicht das Geld, um die Toten nach Hause zu schicken?“, sagt Stefania, der der Imbiss auf der zentra­

len Piazza gehört, Mutter dreier Kinder. „Damit ihre Familien sie bei sich begraben können und beweinen.“ Das sei es doch, was man sich wünsche, wenn man jemanden verloren habe, den man liebt. Und herkommen, um hier zu trauern? Das könnten sie sich doch niemals leisten.

„Wenn sie den Friedhof aus Barmherzigkeit bauen“, sagt eine Frau, die bei ihr zu Gast ist, „ist es eine wunderschöne Sache.“ Aber sie habe Zweifel. Sie lebe in Kalabrien, sie hätten schon vieles erlebt. Sie fürchtet, dass es um finanzielle Interes­

sen geht oder um politische. Aber es ist keine Kritik am Bürger­

meister. Ameruso sei di buona fede, guten Glaubens, sagen sie.

Er finde die Idee gut, sagt ein ehemaliger Landwirt, der mit seiner Frau und der albanischen Schwiegermutter auf einer Piazza sitzt. „Sie sind Menschen wie wir.“ Andere fragen:

men an den Gräbern niederlegen können.

Er hofft auf Staatsgäste, Schulklassen und den Papst. Und er möchte den Friedhof

„Aylan Kurdi“ nennen, nach dem syrischen Jungen, der tot an der türkischen Küste angespült wurde.

Das zweite Treffen im Rathaus sagt Ameruso ab. Er hat Halsschmerzen und Fieber. Stattdessen kommt Projektinge­

nieur Donato D’Anzi dazu. Corbelli und er breiten den Plan für das knapp 30 000 Quadratmeter große Gelände aus. Die Oli­

venbäume werden bleiben, erzählen sie. Es soll eine Ausstel­

lung geben, mit Bildern von Flüchtlingsbooten, eine Kapelle, einen Bereich mit Gräbern für die Tarsianer und einen für die Flüchtlinge – beide miteinander verbunden. Es soll Plätze zum Beten geben und einen Weg, der sich „ultimo sguar do“ nennt, der letzte Blick. Er führt dorthin, wo die Sonne untergeht.

Rund vier Millionen Euro soll der Bau schätzungsweise kosten. Er werde Stück für Stück realisiert. Ab einem Betrag von einer Million Euro könnten sie die ersten Körper bestat­

ten. Die Region habe bereits eine Summe von 240 000 Euro Sogar Hochzeiten gab es in Ferramonti.

Es wurden mehr als 20 Kinder dort geboren.

Die Internierten, unter ihnen viele Ge bildete, betrieben eine eigene Krankenstube

In der Nähe des Ortes Tarsia lag während des Zweiten Weltkriegs das größte Konzen- trationslager Italiens. In den 92 Baracken lebten bis zu 2700 Gefangene

accendere

una candela

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bereitgestellt. Davon wollen sie das Gelände kaufen und den Boden für den Friedhof bereiten. Ein Teil des Baus soll sich später auch selbst finanzieren. Außerdem hoffen sie auf Spen­

den und Unterstützung der EU.

„Von uns aus könnte es morgen losgehen“, sagt Corbelli.

Das Einzige, was fehle, sei die erste Zahlung aus Rom. Da die Region das Geld nicht direkt überweisen darf, läuft der Kredit über die römische Cassa Depositi e Prestiti. Fragt man Corbel­

li, wieso es so lange dauert, stöhnt er über die Bürokratie.

mehr lebe. Donna Lina, knapp 1,50 Meter groß, schwarzes Kleid, funkelnde Augen, verrät ihr Alter nicht, aber sie zählt zu den Ältesten im Dorf. Einst war sie „Miss Tarsia“, noch heute malt sie sich täglich die Lippen rot. Sie kenne fast nie­

manden im Dorf, sagt sie, voller Stolz: „Seit dem Tag meiner Hochzeit hat mein Mann mich nicht mehr allein rausgelassen.

So eifersüchtig war er!“ Es war eine große Liebe, sagt sie. Sie war glücklich mit ihm und den Kindern, beide längst Ärzte und nicht mehr im Ort. Stiller wird Donna Lina nur, wenn es

Internierten Bonbons, Schokolade, Bildung, manche Geld.

Durch die Kontakte entstanden Verbindungen, Freundschaf­

ten. Und die Wachen taten, als würden sie von alldem nichts mitbekommen. „Ferramonti war in Tarsia so etwas wie ein Wunder“, sagt Mario Rende. Er hat ein Buch über Ferramonti geschrieben. Es habe damals eine Art Übereinkunft gegeben, erzählt er. Der Direktor Salvatore sagte: „Ihr könnt tun, was ihr wollt, solange es für uns nicht gefährlich ist.“

Manchmal lud Salvatore die Kinder des Lagers in sein Auto, fuhr nach Tarsia und kaufte ihnen Eis. Manche Tarsianer fuhren auch gern nach Ferramonti, „weil es da nette Mädchen gab“. Mit den Appellen nahm man es dort auch deshalb nicht so genau, weil die Wachen die Namen der ausländischen Internierten nicht aussprechen konnten. Irgendwann fragten sie nur noch: „Seid ihr alle da?“

E

s sei eher neu, dass so viel über Ferramonti gesprochen werde, sagt Stefania vom Imbiss auf der Piazza. Auch das Gedenkmuseum gibt es erst seit 2004. Die Leute aus dem Dorf hätten damals gar nicht gewusst, wie es anders­

wo in Konzentrationslagern zuging, glaubt sie. Sie hätten ihr Verhalten auch nicht für etwas Besonderes gehalten. „Ich glaube“, sagt Stefania, „sie dachten einfach, es sei normal.“

Jeden Tag kocht sie das Essen für eine der Flüchtlings­

unterkünfte im Dorf. Etwa 50 Afrikaner leben in Tarsia. Am Anfang gab es Leute, die sie fragten: „Warum bringst du denen Essen?“ Stefania sagt: „Unsere Großeltern sind doch selbst weggegangen.“ Auch aus Kalabrien gab es immer wieder Wel­

len der Emigration, viele Häuser in Tarsia – gebaut von dem Geld, das Auswanderer heimschickten – zeugen davon.

Manchmal erinnern die Träume der Flüchtlinge sie an jene, die auch die Leute aus Tarsia hatten.

Über den Platz vor dem Rathaus läuft Ernesto. „Kommt rein“, sagt er und bittet in seinen Schneiderladen. Am Eingang hängt ein Porträt von Che Guevara. In den Regalen seines Ladens, zwischen den Kleidern, liegen Bücher. „Ich bin Kom­

munist!“, sagt er stolz. Ernesto ist 72. Seine Lehre machte er als Jugendlicher bei einem Faschisten und stritt mit ihm, jeden Tag. Später arbeitete er 30 Jahre in einer Möbelfabrik in Bern.

Mit den Flüchtlingen im Ort laufe es gut, sagt er. Manchmal kommen sie vorbei, um eine Jeans kürzen zu lassen. Er lässt sie dann nur ganz wenig bezahlen, manchmal nichts. „Die Merkel“, sagt Ernesto, „finde ich gut. Erstens: Sie ist keine Ras­

sistin.“ Er kichert: „Und zweitens: Sie kommt aus der DDR.“

Am Abend sitzt Konate vor Stefanias Imbiss. Er kommt aus Guinea, ist 26 Jahre alt und nennt sich beim Nachnamen – den können die Italiener besser aussprechen. Heute gehe es ihm gut, sagt er, aber der Weg hierher war die Hölle. Eigent­

lich wollte er nicht nach Europa. Sein Aufbruch war zu Teilen ein Missverständnis. Sein Vater, dreifach verheiratet, 20 Kin­

der, starb an Ebola. Als Leute kamen, um das Haus zu desinfi­

zieren, und seine Familie ins Krankenhaus sollte, um sich testen zu lassen, sagte er: „Ich gehe nicht mit. Ich will nicht sterben.“ „Es ist Pflicht“, sagte die Mutter. Konate ver schwand.

Er flüchtete, weil er dachte, sie hätten seinen Vater umge­

bracht. Weil er dachte, die Chlorlösung würde sie töten. ➣ Dabei hätten sie alles beisammen: die Bau­

firma ausgewählt, das Anti­Mafia­Zertifikat eingeholt, alle Autorisationen besorgt. Jetzt sei es nur noch eine Frage von Tagen.

Drängt man Corbelli in die Ecke und fragt, wie er es, wie angekündigt, schaffen

wolle, bis Ende des Jahres mit dem Bau fertig zu sein, hebt er irgendwann die Arme. „Ich lege da ein wenig Optimismus hinein“, sagt er. Wenn er den nicht hätte, würde dieser Bau nie realisiert. Als Corbelli gerade nicht dabei ist, sagt der Inge­

nieur: „Er nimmt sich die Sache sehr zu Herzen. Er schläft nicht mehr. Und ruft uns Tag und Nacht an.“

In der Via Umberto sitzt Donna Lina, eine der Eigentüme­

rinnen des designierten Friedhofsgeländes, auf einem mehr­

fach geflickten Stuhl in ihrem Tabakladen. Ihren Kunden schenkt sie Karamellbonbons. Don Natale, dem Pfarrer von Tarsia, küsst sie, als er vorbeikommt, die Hand – er möge ver­

zeihen, dass sie nicht zur Messe komme, fleht sie. Sie müsse in ihrem tabacchino bleiben. Gerade jetzt, wo ihr Mann nicht

um den Friedhof geht. „Dieses Dorf“, sagt sie, sie überlegt, „ist eher arm als reich.

Statt eines Friedhofs …“ Sie hält inne.

„Warum bauen sie nicht ein Schwimmbad?

Ein kleines Restaurant?“ Damit die jungen Leute arbeiten können. Etwas Schönes:

„Damit die Menschen lachen und nicht weinen.“

Die Bewohner von Tarsia könnten unterschiedlicher nicht sein. Und doch gibt es etwas, das sie alle eint: Sie lächeln, wenn sie von Ferramonti erzählen. „In Ferramonti waren auch Chinesen“, erzählt Don Ciccio. Eine Gruppe Kaufleute, verhaftet, weil sie Kommunisten waren. „Wir sind immer weg­

gelaufen, wenn wir sie gesehen haben“, sagt er und lacht. „Es hieß: Chinesen essen Kinder.“ Auch erinnert er sich noch, wie sein Vater ihn packte, als er sich tief in die Hand geschnitten hatte. Sie fuhren ins Lager, wo ein jüdischer Arzt ihm die Wunde nähte. „Es waren gute Leute“, sagt Don Ciccio. Zwi­

schen den Tarsianern und den Internierten entstand eine Art Warentausch. Die Tarsianer hatten Brot, Pasta, Eier, Mehl, die

Ernesto machte eine Schneiderlehre und zog dann in die Schweiz, wo er in einer Möbelfabrik arbeitete. Heute betreibt der Kommu- nist in Tarsia einen Schneiderladen

Fragt man Roberto Ameruso, warum er Bürgermeister werden wollte, zitiert er Martin Luther King:

„I have a dream.“

Er fühlt sich Tarsia, wie auch dem Süden, sehr verbunden

essere di

buona fede

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baren Energien, Tourismus, Landwirtschaft und einem wieder erwachenden Selbstbewusstsein. Früher habe man in Kala­

brien geglaubt, ihr Olivenöl sei nicht gut. Dabei stimme es nicht. Heute würden sie sich dieser Dinge wieder ermächtigen.

Dieser Landstrich, sagt er, habe ein großes Bedürfnis nach Befreiung. Alles in seiner Heimat habe einen starken Ge­

schmack. Die Ungerechtigkeit ebenso wie der Gerechtigkeits­

sinn. Es gebe hier die ehrlichsten Leute. Menschen, die mit

tigste Lektion gelehrt: „Wir hören einander nicht mehr zu“, sagt Padre Natale. „Jesus hat zugehört.“

I

nzwischen ist es Februar 2019. Der Beginn der Bauarbeiten zog sich hin. Corbelli kämpfte weiter. Zwei Tage vor Weih­

nachten 2018 dann begannen die ersten Maßnahmen. Wann der Gedenkfriedhof ganz fertig sein wird, lässt sich noch nicht sagen. Vielleicht kommt es aber auch auf etwas anderes an.

So erzählte man es sich auf der Straße in Conakry. Konate hatte kein Ebola. Aber es gab noch einen Grund, weshalb er nicht kehrtmachte: In der Autowerkstatt, die er mit seinem Vater betrieben hatte, verdienten sie kaum Geld. Er wollte versuchen, Arbeit zu finden, um seiner Mutter zu helfen. In Algerien, hatte er gehört, gab es welche.

I

n der Wüstenstadt Kidal in Mali geriet er in die Hände von Dschihadisten. Sie brachten ihn und gut 40 andere in die Wüste. „Wer von euch ist Muslim?“, fragten sie und zwan­

gen eine junge Frau, sich nackt auszuziehen und zu beten. Die jungen Männer mussten sich vor sie stellen und sie ansehen.

Niemand durfte den Kopf senken, niemand die Augen schlie­

ßen. „Wer eine Erektion bekommt“, sagten die Dschihadisten,

„den bringen wir um.“ „Ich hatte Glück“, sagt Konate. Ein jun­

ger Mann von der Elfenbeinküste und einer aus Mali mussten ein Loch in den Boden graben, bevor die Dschihadisten sie köpften. Danach durften alle anderen gehen. „Wir konnten nichts tun“, sagt Konate. „Es gab niemanden, der uns half.“

In Algerien fand er einen Job. Jeden Donnerstag wurde er ausbezahlt, jeden Donnerstag auf dem Nachhauseweg fing eine Bande ihn ab und nahm sein Geld. Seinem Chef war es egal. Die Polizei konnte er nicht rufen. Er hatte keine Aufent­

haltsgenehmigung. Nach acht Monaten Arbeit hatte Konate keine 20 Euro. Zu seiner Mutter sagte er: „Ich gehe nach Euro­

pa.“ Sie weinte: „Ich will nicht, dass du stirbst.“ Vier Monate war Konate in Libyen, fünfmal im Gefängnis. Konate wurde erpresst und geschlagen, aber er konnte fliehen. Übers Meer

kam er, obwohl er kein Geld hatte. „Steig ein, Bruder“, sagten ein paar Jungs, die ein Boot fertig hatten. Noch in der selben Nacht brachen sie auf. 119 Leute in einem Schlauchboot, Rich­

tung Italien. Einer hatte einen Kompass dabei.

Am nächsten Morgen wurden sie gerettet. Ein Militär­

schiff brachte sie nach Sizilien. Das Benzin und das Meer­

wasser hatten Konate die Haut verbrannt. Als es ihm besser ging, setzten sie ihn in einen Bus nach Tarsia. Jetzt wartet er auf seine Aufenthaltsgenehmigung. Er hofft, dann arbeiten zu können. Über den Friedhof für die verunglückten Flüchtlinge sagt er: „Ich finde, es ist eine schöne Idee. Sie retten uns, wenn wir auf dem Meer sind. Und selbst wenn wir gestorben sind und keine Bedeutung mehr haben, ziehen sie es vor, uns zu beerdigen, als uns den Fischen zu überlassen.“

Am nächsten Tag ist der Bürgermeister immer noch krank, er kommt trotzdem zum Termin. Mit heiserer Stimme erzählt er von einem jungen Mann aus Ghana, der vor Jahren in Tarsia lebte, ein Fußballtalent. Inzwischen ist er in Deutschland, wo er eine Frau hat und einen Sohn. Einmal brachte er den Sohn nach Tarsia. Er wollte ihm zeigen, an welchem Punkt in seiner Geschichte er sagen konnte, dass es „ein Leben“ war und nicht Unsicherheit oder Überlebenskampf. Es mache ihn stolz, sagt Ameruso, dass es Tarsia war.

Die Kommunen in Kalabrien würden viel für die Integra­

tion tun, sagt er. Und erzählt von Austauschprogrammen, die sie mit Argentinien, Chile, Portugal pflegen. Es gehe unter anderem darum, zu lernen, wie man mit der Arbeitslosigkeit in kleinen Kommunen umgehe. Ameruso spricht von erneuer­

offenem Visier gegen die ’Ndrangheta kämpfen – für ihn die mutigste Sache, die es gibt. Er sage seinen Leuten immer: „Wir sind arm, aber wir sitzen auf Gold.“

Der Friedhof werde kommen, sagt er.

Er glaube daran. Hier habe etwas begon­

nen, das nicht aufzuhalten sei. Sie hätten viel Unterstützung bekommen. Außerdem böten sie auch eine Lösung für ein Pro­

blem, das überall existiere: In den meisten Gemeinden seien die Friedhöfe voll. Immer wieder, wenn Schiffe kommen, wüssten sie nicht, wohin mit den Toten.

Am Sonntag, zur Messe, ist die Chiesa dei Santi Pietro e Paolo, die große Kirche von Tarsia, gut gefüllt. Auch einige Flüchtlinge sind gekommen. Padre Natale spricht an diesem Morgen von Mitgefühl. „Camminiamo tutti insieme“, zitiert er Jesus. „Wir gehen diesen Weg alle gemeinsam.“ Heute scheine der Weg des Lehrens vorbei zu sein, sagt er. Viele Eltern gäben diese Aufgabe an den Fernseher ab, an die Mobiltelefone, die Schulen. Das sei nicht richtig. Selbst wenn Jesus den Men­

schen nichts Materielles gab, so habe er sie doch die wich­

In seinem Schneiderladen, unter einem Fenster, hat Er nesto Fotos angebracht, Postkarten, einen Kalender und einen Brief. Er stammt von einem Überlebenden eines KZs und ist an einen Universitätspro­

fessor gerichtet. Der Überlebende berich­

tet in seinem Brief von Gaskammern, gebaut von Inge nieu ren;

von Kindern, vergiftet von Ärzten; von Säuglingen, ermordet von Pflegern. Er misstraue daher der Bildung, schreibt der Überlebende. Und appelliert an den Professor, er möge seinen Zöglingen helfen, Menschen zu werden und nicht gebildete Monster, qualifizierte Psychopathen oder gelehrte Eichmanns.

Er habe den Brief dort hingehängt, sagt Ernesto, „um sensibel zu bleiben für diese Dinge“. b

Andrea Walter, Jahrgang 1976, kam an einem Julinachmittag in Tarsia an, das wie ein Geisterdorf wirkte. Alle hatten sich vor der Hitze zurückgezogen. Später öffneten sich die Türen wieder. Gerade so, wie die Dorfbewohner sich nach und nach öffneten, je länger Walter und Fotograf Francesco Zizola vor Ort waren.

Zizola, Jahrgang 1962, ist Mitbegründer der Agentur Noor und lebt in Rom.

Konate ist 26 Jahre alt und kommt aus Guinea. Sein Weg nach Europa war die Hölle, sagt er, der längst gut Italienisch spricht. Den Gedenk- friedhof findet er eine schöne Idee

Tarsia ist hübsch gelegen und pittoresk, doch viele Häuser in der Altstadt stehen leer, von den Fassaden blättert Putz. Wie im ganzen Süden ziehen auch aus Kalabrien die Jungen weg

camminiamo

tutti insieme

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Diesen Einkommensausfall beziffert die Kommission unter Ansatz der allerniedrigsten Einkommensmög- lichkeiten für Frauen — Teilzeitarbeit in untersten Lohngruppen — mit 25 bis