Prometheus
Bedecke deinen Himmel, Zeus, Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich, Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!
Musst mir meine Erde Doch lassen stehn, Und meine Hütte, Die du nicht gebaut, Und meinen Herd, Um dessen Glut Du mich beneidest.
Ich kenne nichts Ärmeres
Unter der Sonn als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich Von Opfersteuern Und Gebetshauch Eure Majestät Und darbtet, wären Nicht Kinder und Bettler Hoffnungsvolle Toren.
Da ich ein Kind war,
Nicht wusste, wo aus, wo ein, Kehrte mein verirrtes Aug
Zur Sonne, als wenn drüber wär Ein Ohr zu hören meine Klage, Ein Herz wie meins,
Sich des Bedrängten zu erbarmen.
Wer half mir wider Der Titanen Übermut?
Wer rettete vom Tode mich, Von Sklaverei?
Hast du's nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz?
Betrogen, Rettungsdank Dem Schlafenden dadroben?
Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit Und das ewige Schicksal, Meine Herren und deine?
Wähntest du etwa,
Ich sollte das Leben hassen, In Wüsten fliehn,
Weil nicht alle Knabenmorgen- Blütenträume reiften?
Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich.
Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)
entstanden 1772-1774
Ganymed
Wie im Morgenglanze Du rings mich anglühst, Frühling, Geliebter!
Mit tausendfacher Liebeswonne Sich an mein Herz drängt
Deiner ewigen Wärme Heilig Gefühl,
Unendliche Schöne!
Daß ich dich fassen möcht In diesen Arm!
Ach, an deinem Busen Lieg ich, schmachte,
Und deine Blumen, dein Gras Drängen sich an mein Herz.
Du kühlst den brennenden Durst meines Busens, Lieblicher Morgenwind!
Ruft drein die Nachtigall
Liebend nach mir aus dem Nebeltal.
Ich komm, ich komme!
Wohin? Ach, wohin?
Hinauf! Hinauf strebts.
Es schweben die Wolken Abwärts, die Wolken
Neigen sich der sehnenden Liebe.
Mir! Mir!
In eurem Schoße Aufwärts!
Umfangend umfangen!
Aufwärts an deinen Busen, Alliebender Vater!
Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)
Vor Gericht
Von wem ich’s habe, das sag’ ich euch nicht, Das Kind in meinem Leib.
Pfui, speit ihr aus, die Hure da!
Bin doch ein ehrlich Weib.
Mit wem ich mich traute, das sag’ ich euch nicht, Mein Schatz ist lieb und gut,
Trägt er eine goldne Kett’ am Hals, Trägt er einen strohernen Hut.
Soll Spott und Hohn getragen sein, Trag’ ich allein den Hohn.
Ich kenn’ ihn wohl, er kennt mich wohl, Und Gott weiß auch davon.
Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr, Ich bitt’, laßt mich in Ruh!
Es ist mein Kind und bleibt mein Kind, Ihr gebt mir ja nichts dazu.
Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)
entstanden 1774
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehen, sich ihrer entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich presst,
und dank’ ihm, wenn er dich wieder entlässt.
Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) entstanden: 1819
Gingko biloba
Dieses Baums Blatt, der von Osten Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten, Wie’s den Wissenden erbaut.
Ist es Ein lebendig Wesen
Das sich in sich selbst getrennt, Sind es zwey die sich erlesen, Dass man sie als eines kennt.
Solche Frage zu erwiedern
Fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern Dass ich Eins und doppelt bin?
entstanden: 1815
Auf dem See
Und frische Nahrung, neues Blut Saug' ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut, Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig, himmelan, Begegnen unserm Lauf.
Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so gold du bist;
Hier auch Lieb' und Leben ist.
Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne ; Weiche Nebel trinken
Rings die türmende Ferne;
Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht, Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht.
Erstfassung: «Den 15 Junius 1775. Donnerstags morgen aufm Zürchersee.»
Für die Veröffentlichung im Jahr 1789 hat Goethe das Gedicht noch «retouchiert» (siehe nächste Seite)
Franz Schubert hat das Gedicht 1817 vertont:
https://schubertlied.de/en/the-lied/auf-dem-see-op-922-d-543b-zweite-fassung
Ich saug an meiner Nabelschnur1 (1775) Ich saug an meiner Nabelschnur
Nun Nahrung aus der Welt.
Und herrlich rings ist die Natur Die mich am Busen hält.
Die Welle wieget unsern Kahn Im Rudertackt hinauf
Und Berge Wolken angethan Entgegnen unserm Lauf.
Aug mein Aug was sinckst du nieder Goldne Träume, kommt ihr wieder Weg du Traum so Gold du bist; Hier auch Lieb und Leben ist.
Auf der Welle blincken Tausend schwebende Sterne Liebe Nebel trincken
Rings die türmende Ferne Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht.
1Text aus Goethes Schweizer Reisetagebuch vom 15.6. bis 21.6. 1775. Zit. nach Joachim Dyck, Die Physiognomie der Selbsterkenntnis: Goethes Gedicht „Auf dem See“. In: Euphorion. Zeitschrift für
Auf dem See2 (1789)
Und frische Nahrung, neues Blut Saug’ ich aus freyer Welt;
Wie ist Natur so hold und gut, Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig himmelan, Begegnen unserm Lauf.
Aug’, mein Aug’, was sinkst du nieder?
Goldne Träume kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so Gold du bist;
Hier auch Lieb’ und Leben ist.
Auf der Welle blinken Tausend schwebende Sterne, Weiche Nebel trinken Rings die thürmende Ferne;
Morgenwind umflügelt Die beschattete Bucht, Und im See bespiegelt Sich die reifende Frucht.
2 Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Schriften.
Achter Band, Leipzig (Göschen) 1789, S. 144-145. Das Gedicht fußt auf der ersten Fassung aus der Periode des Sturm und Drang von 1775. Für die