Hintergrund
Bei irreversiblen visuslimitierenden Erkrankungen sollten Patienten einer individuellen visuellen und sozialen Rehabilitation zugeführt werden, um Lesefähigkeit und Mobilität zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Dabei sollten die individuellen Voraussetzungen und Ansprüche der Patienten beachtet werden. Insbesondere das Alter und die Diagnose haben großen Einfluss auf die Wahl der richtigen Hilfsmittel. Zur Analyse der krankheits- und alters- spezifischen Hilfsmittelverordnungen unternahmen wir eine retrospektive Auswertung unserer Sehbehindertenambulanz.
Evaluation der Versorgungssituation von Sehbehinderten – Signifikante Unterschiede zwischen Jung und Alt
Michael Oeverhaus
1, Herbert Hirche
2, Joachim Esser
1, Anja K. Eckstein
1,Barbara Schaperdoth-Gerlings
11Klinik für Augenheilkunde, Universitätsklinikum Essen; 2Institut für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie, Universität Duisburg-Essen
Methoden
Die Untersuchungsdaten aller Patienten der Sehbehindertenambulanz der Jahre 2014 - 2016 wurden ausgewertet (n =1548). Dabei wurden Diagnose, Visus, Vergrößerungsbedarf, Alter, sowie die benutzten und verordneten vergrößernden Sehhilfen analysiert. Die Datenverarbeitung erfolgte durch globale und krankheitsspezifische deskriptive Statistik. Um eine Alphafehler- Kumulierung bei multipler Testung zu vermeiden wurde die Bonferroni-Methode verwendet.
Ergebnisse
1548 konsekutive Patienten (Alter: 0-97) wurden erfasst. 73% der Patienten waren jünger als 18 Jahre. 49% der Patienten waren sehbehindert (Visus ≤0,3), 15% blind. Entsprechend unserer klinischen Schwerpunkte waren die häufigsten Diagnosen Retinoblastom (11%), kongenitale Katarakt (10%), AMD (6%) und Albinismus (6%). Der durchschnittliche Vergrößerungsbedarf war 9,9±7-fach. Am häufigsten wurden Bildschirmlesegeräte (22%), Kantenfiltergläser (15%), elektronische Lupen (13%) und Leuchtlupen (9%) verordnet. Kinder und Jugendliche nutzten im Unterschied zu älteren Sehbehinderten (>60 Jahre) signifikant häufiger Tablets und Smartphones (‚smart devices‘) als vergrößernde Sehhilfe (7,8% vs. 0,6%, p<0,001). Diese Gruppe wurde dagegen deutlich häufiger mit elektronischen Lupen versorgt (29,5% vs. 2,9%, p<0,001). Bildschirmlesegeräte wurden in beiden Altersgruppen etwa gleich häufig verordnet (22,5% vs. 26,5%). Auch Tafelkameras und Kantenfilter wurden signifikant häufiger für Kinder und Jugendliche verordnet (p<0,001). Der Vergrößerungsbedarf variierte signifikant (6,3-fach vs. 10-fach, p<0,001) zwischen beiden Altersgruppen. Optische Hilfsmittel wurden besonders für jüngere Kinder ( 𝑥 ∶ 10,8 J.) verordnet.
Bildschirmlesegeräte wurden erst bei etwas älteren Kindern verordnet (𝑥 : 11,3 J.). ‚Smart devices‘ wurden von durchschnittlich noch älteren Kindern genutzt (𝑥 : 14,3 J.).
Schlussfolgerung
Durch den besonderen Schwerpunkt unserer Klinik zeigte sich ein für eine Sehbehindertenambulanz ungewöhnliches Patientenkollektiv mit überwiegend minderjährigen Patienten. Dadurch konnte die Versorgung von älteren Sehbehinderten mit Kindern und Jugendlichen verglichen werden.
• Minderjährige Sehbehinderte waren signifikant häufiger zufriedenstellend mit
‚smart devices‘ versorgt und benötigten deutlich seltener eine elektronische Lupe als mobiles Hilfsmittel.
• ‚smart devices‘ stigmatisieren weniger
• Ältere Sehbehinderte sollten auch über die Möglichkeit der Verwendung von
‚smart devices‘ als Hilfsmittel aufgeklärt und geschult werden.
• Bei Patienten jeden Alters sollten die vorhandenen technischen Kenntnisse und Ressourcen erfragt werden, um den Patienten adäquat beraten zu können.
• Bei der Wahl des zu verordneten Hilfsmittels sollten Alter, Diagnose, soziale Situation, Ausbildungsstand und bereits vorhandene Hilfsmittel beachtet werden um eine effiziente und kosteneffektive Behandlung zu sichern.
Abb. 1: Zusammensetzung des Patientenkollektivs (n=1548) unterteilt u.a. nach den in Deutschland gesetzlich definierten Visusgrenzen
Abb. 2: Die Altersverteilung des Patientenkollektivs zeigt, dass der größte Anteil an Patienten unserer Sehbehindertenambulanz untypischerweise ≤10 Jahre alt ist.
Abb. 3: Die Häufigkeit der verschiedenen ophthalmologischen Diagnosen im Patientengut der Sehbehindertenambulanz Essen
Abb. 4: Anteil der verordneten/ benutzten Hilfsmittel vergleichend zwischen der Gruppe der Kinder und Jugendlichen und älteren Sehbehinderten. [*= p<0.05, **= p<0.01, *]
Disclosure: All authors have no financial disclosures. Contact: michael.oeverhaus@uk-essen.de
Blind (Visus ≤0,02) 15,3%
Hochgradig
sehbehindert (Visus
≤0,05) 9,5%
Sehbehindert (Visus
≤0,3) 39,6%
Visus ≤0,5 10,2%
Nur Einseitig erblindet
6,1%
Einseitig ≤0.3 9,6%
Keine
Sehbehinderung 9,7%
57,6
16,6
4,5 2,2 3,7 2,5 2,6 4,3 6,1
0 10 20 30 40 50 60
0-10J. 11-20J. 21-30J. 31-40J. 41-50J. 51-60J. 61-70J. 71-80J. >81J.
Anteil in %
ALTER
1,1 1,4
2,0 2,3 2,3 2,5
2,5 2,6
2,6 2,8
3,4
4,5 4,8
5,0 5,3
5,7 6,2
9,9
11,0
19,6
Aniridie Hornhauttrübung Anlagestörung Achromatopsie CVI M. Stargardt Glaukom Strabismus Nystagmus Refraktionsamblyopie RP Optikusatrophie
ROP Myopia magna Netzhautdystrophie Albinismus AMD kongenitale Katarakt Retinoblastom Sonstiges
0 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20
Anteil in %
DIAGNOSEN
H ilfs m it t e l n a c h A lt e r s g r u p p e
0 1 0 2 0 3 0
V o r l e s e g e r ä t V i s o l e t t l u p e T a f e l k a m e r a S o f t w a r e S m a r t p h o n e / T a b l e t M o n o k u l a r M o b i l i t ä t s t r a i n i n g M o b i l e s B L G L u p e n b r i l l e L u p e u n b e l e u c h t e t L e u c h t l u p e L a n g s t o c k K a n t e n f i l t e r E l e k t r o n i s c h e L u p e D a i s y - P l a y e r B r a i l l e Z e i l e
B i l d s c h i r m l e s e g e r ä t < 1 8 J .
> 6 0 J .
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