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Devant le tribunal de l'histoire ... irrévocablement condamnée: Eleonore von Aquitanien

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Academic year: 2022

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Kultur- und Sozialwissen- schaften

Dissertation

Devant le tribunal de l'histoire ...

irrévocablement condamnée

Eleonore von Aquitanien

(2)

devant le tribunal de l'histoire ... irrévocablement condamnée Eleonore von Aquitanien

DISSERTATION zur

Erlangung des akademischen Grades Doktor der Philosophie (Dr. phil.) der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften

der Fernuniversität Hagen

vorgelegt von Wieder Ingrid Rostock

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Der Schriftzug "A. Regina" des DL 10/39 Dokuments des National Archives Kew, Surrey darf mit freundlicher Genehmigung des Managers Paul Johnson der Images Library publiziert werden.

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Betreuerin: Frau Professor Dr. Felicitas Schmieder

Historisches Institut der Fernuniversität Hagen Lehrgebiet Geschichte und Gegenwart Alteuropas Zweitbegutachter: Herr Professor Dr. Thomas Sokoll

Historisches Institut der Fernuniversität Hagen Lehrgebiet Geschichte und Gegenwart Alteuropas

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Die vorliegende Arbeit wurde im Jahr 2017 vom Historischen Institut der Frenuniversität Hagen als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung wurde sie geringfügig überarbeitet und ergänzt.

Auf Anregung von Frau Professor Dr. Felicitas Schmieder beschäftige ich mich mit Eleonore von Aquitanien. Die Diskrepanzen zwischen den Berichten in Chroniken und den Ausführungen in späteren Geschichts- und literarischen Werken, die die Königin betrafen, waren der Anlass dafür, dass ich mich mit der Entstehung der Legenden über Eleonore von Aquitanien befasste. Als

Voraussetzung für die Beurteilung der Überlieferungen war es erforderlich, sowohl die zeitbezogene Auffassung der Geschichtsschreiber über Geschichte als auch die Geschichtsschreibung und die Erinnerungskultur in die Betrachtungen einzubeziehen.

Frau Professor Schmieder möchte ich sehr herzlich für die Betreuung meiner Arbeit, für Hinweise, aufmunternde Kritik und Ratschläge danken. Mein herzlicher Dank gilt ebenfalls Herrn Professor Sokoll für die Zweitbegutachtung. Frau

Professor Schmieder und Herr Professor Sokoll haben mir in Kolloquien gemeinsam mit meinen Mitdoktoranden/innen durch Fragen, Gespräche und Vorträge Denkanstöße und neue Impulse für meine Arbeit gegeben, die wichtig und inspirierend gewesen sind. Dafür möchte ich mich vielmals bedanken.

Herrn Paul Kruth sei Dank für die graphische Gestaltung der Karten.

Ganz besonders möchte ich meiner Familie danken: meiner Tochter Julie Kind und meiner Schwiegertochter Renée Wieder für das unermüdliche Korrekturlesen und ganz besonders meinem Mann für seine Rücksichtnahme und Unterstützung in den täglichen Dingen; ihm möchte ich meine Arbeit widmen.

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und ohne unzulässige Inanspruchnahme Dritter verfasst habe. Ich habe dabei nur die angegebenen oder unveröffentlichten Quellen und Hilfsmittel verwendet und die aus diesen wörtlich, inhaltlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche den

wissenschaftlichen Anforderungen entsprechend kenntlich gemacht. Die Versicherung selbständiger Arbeit gilt auch für Zeichnungen, Skizzen oder graphische Darstellungen.

Die Arbeit wurde in gleicher oder ähnlicher Form weder derselben noch einer anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch noch nicht veröffentlicht. Mit der Abgabe der elektronischen Fassung der endgültigen Version der Arbeit nehme ich zur Kenntnis, dass diese mit Hilfe eines Plagiatserkennungsdienstes auf enthaltene Plagiate überprüft und ausschließlich für Prüfungszwecke gespeichert wird. Es ist mir bekannt, dass wegen einer falschen Versicherung bereits erfolgte Promotionsleistungen für ungültig erklärt werden und eine bereits verliehene Doktorwürde entzogen wird.

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Inhaltsverzeichnis

Lebenslauf von Eleonore von Aquitanien. Lexikon des Mittelalters 2003 3

I. Einleitung 5

I. 1. Die Rolle der Königin im Hochmittelalter 7

I. 2. Geschichtsschreibung im Hochmittelalter und Bemerkungen zur Erinnerungskultur 8

II. Eleonore von Aquitanien in zeitgenössischen Quellen und Chroniken 22 II. 1. Berichte über Eleonore von Aquitanien in Chroniken des 12. Jahrhunderts 22

II. 1a. Das Matrimonium von Eleonore von Aquitanien und Ludwig VII. 23

Das Zustandekommen des Ehebündnisses 23

II. 1b. Der zweite Kreuzzug 1147-1149 29

Die Teilnahme von Damen am Kreuzzug 29

Die Niederlage am Berg Cadmos 45

Berichte über die Ereignisse in Antiochia 54

Analyse der Aussagen der Chronisten 66

II. 1c. Die Jahre von 1149 bis 1152 87

Die Annullierung der Ehe des französischen Königspaars und die Eheschließung Eleonores mit Herzog Heinrich Plantagenêt 87

Zeitgenössische Berichte zur Annullierung der Ehe und zur Eheschließung Eleonores mit Herzog Heinrich 91

Beurteilung der Berichte über die Annullierung der Ehe 110

Frankreichs Verlust des Herzogtums Aquitanien 114

II. 1d. Die Rebellion der Söhne 117

II. 1e. Eleonore in Gefangenschaft von 1173 bis 1189 134

II. 1f. Eleonores herrschaftliche Tätigkeit 137

Eleonore als consors regni in den Jahren 1137 bis 1189 137

Eleonores herrschaftliche Tätigkeit als Königinmutter in den Jahren 1189 bis 1204 140

II. 1g. Eleonores Einfluss auf Dichter und Troubadoure 144

II. 1h. Rosamunde und Alix 147

II. 1i. Der Mythos Merlin 150

II. 1j. Zusammenfassende Beurteilungen 162

Beurteilung der Berichte über den zweiten Kreuzzug 163

Analyse der Berichte über die Ereignisse in Antiochia 164

Zusammenfassendes Urteil zur Annullierung der Ehe 167

Beurteilung zur Beteiligung Eleonores an der Rebellion 1173/1174 173

III. Legendenbildung über Eleonore von Aquitanien in der Zeit vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 193

III. 1. Überblick über die Geschichtsschreibung 193

III. 2. Legendenbildung über Eleonore von Aquitanien in französischen und englischen Geschichtswerken und literarischen Erzeugnissen vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 203

III. 2a. 13. Jahrhundert 205

III. 2b. um 1300 215

III. 2c. 13.-15. Jahrhundert 219

III. 2d. 16. Jahrhundert 228

III. 2e. um 1600 245

III. 2f. 17. Jahrhundert 250

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III. 2g. 18. Jahrhundert 264

III. 3. Zusammenfassende Beurteilungen 275

Zusammenfassende Beurteilung französischer Werke vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 276

Bemerkungen zur Geschichtsschreibung französischer Autoren 278

Zusammenfassende Beurteilung englischer Werke vom 13. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts 282

Bemerkungen zur Geschichtsschreibung englischer Autoren 284

Vergleich zwischen Werken französischer und englischer Autoren 286

IV. Bemerkungen zur Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert 291 V. Legenden über Eleonore von Aquitanien in französischen Werken des 19. Jahrhunderts 304 Zusammenfassender Überblick 338

VI. Legenden über Eleonore von Aquitanien in englischen Werken des 19. Jahrhunderts 340

Zusammenfassender Überblick 358 VII. Vergleich zwischen den Werken französischer und englischer Autoren 359

VIII. Eleonore von Aquitanien in Werken des 20. und 21. Jahrhunderts 361

Vorworte 362

Das Untreue Motiv 365

Unterordnung und Macht 385

Die Rebellion 1173/1174 392

Charakter, Herkunft und Frauenfeindlichkeit 394

Mord, cours d'amour und Troubadoure 398

Eleonore in der Unterhaltungsliteratur 400

Zusammenfassende Bemerkungen 403

IX. Kommentar zu John Critchleys Lebenslauf Eleonores von Aquitanien 404

X. Schluss 409

Karten 176

Siegel 185

Stemmata 188

Abkürzungen 415

Quellen- und Literaturverzeichnis 417

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Lebenslauf von Eleonore von Aquitanien. Lexikon des Mittelalters 20031 Eleonore (Aliénor), Königin von Frankreich, Königin von England.

Leben: geboren 1122 (?), gestorben am 31. März 1204 in Poitiers oder Fontevrault;

Erbtochter Wilhelms X., Herzog von Aquitanien, aus dem Hause Poitou, und der Aénor de Châtellerault;

verheiratet 1. 1137 mit Ludwig VII., König von Frankreich (geschieden: 1152), 2. 1152 mit Heinrich Plantagenêt, Graf von Anjou, Maine und Touraine, Herzog von der Normandie, dem späteren König Heinrich II. von England;

Kinder von 1: Marie (gest. 1198), verheiratet mit Heinrich, Graf von Champagne; Alix (gest. nach 1195), verheiratet mit Theobald, Graf von Blois; von 2: Wilhelm (gest.

1156); Heinrich (gest. 1183); Mathilde (gest. 1189), verheiratet mit Heinrich dem Löwen; Richard I. Löwenherz (gest. 1199); Geoffrey (gest. 1186); Eleonore ( gest.

1214), verheiratet mit Alfons VIII. von Kastilien; Johanna (gest. 1199) verheiratet 1.

mit Wilhelm II. von Sizilien, 2. mit Raimund VI. von Toulouse; Johann (Ohneland, gest. 1216).

Wilhelm X. hatte im westfranzösischen Raum eine Reihe großer Herrschaften in seinem Besitz (Herzogtümer Guyenne und Gascogne, Grafschaften Poitiers, Saintes und Bordeaux) und herrschte darüber hinaus über weitere Territorien. Die Bedeutung des Erbes Eleonores lag zum einen in der strategischen Rolle dieser weiträumigen Gebiete für das Königreich Frankreich wie für das große Fürstentum Anjou, zum anderen in seinen reichen wirtschaftlichen Ressourcen.

Wilhelm X. verstarb 1137 auf der Pilgerfahrt nach Santiago de Compostella; vor seinem Aufbruch hatte er seine aquitanische Herrschaft und die Sorge um seine Tochter Eleonore seinem Lehnsherrn, König Ludwig VI. von Frankreich, anvertraut. König Ludwig vermählte Eleonore mit seinem Sohn, der noch im gleichen Jahr als Ludwig VII. die Nachfolge antreten sollte. Aquitanien wurde nicht der Krondomäne einverleibt, sondern in der Person König Ludwigs VII., der den Titel des Dux Aquitanorum annahm, mit Frankreich vereinigt. Ludwig machte von seiner Herzogswürde hauptsächlich Gebrauch, indem er die Ansprüche seiner Gattin auf Toulouse durchzusetzen versuchte (1141).

1152 wurde die Ehe wegen zu naher Verwandtschaft geschieden. Einige Zeitgenossen behaupten, Ludwigs Persönlichkeit habe sich geändert, nachdem er 1143 in Vitry eine Kirche, in der Flüchtlinge Asyl gesucht hatten, in Brand stecken ließ. 1147-1149 hatten

1 John S. Critchley, Eleonore (Aliénor). LEX MA, 2003, Bd. III, Sp. 1805-1807.

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Ludwig und Eleonore gemeinsam am 2. Kreuzzug teilgenommen; das Gerücht einer Liebesbeziehung der Königin zu ihrem Onkel Raimund I. von Antiochia kam auf.

Darüber hinaus wurde ihr später auch ein Verhältnis mit Sultan Saladin angedichtet;

obwohl letzteres zweifellos reine Erfindung ist, gibt es doch Aufschluß über Eleonores Ruf bei der Nachwelt. Suger von Saint-Denis bemühte sich bis zu seinem Tod (1151), Ludwigs und Eleonores Ehe zu erhalten. Ludwigs Hauptmotiv für die Ehescheidung dürften dynastische Erwägungen gewesen sein; die Königin hatte lediglich zwei Töchter, aber keinen Sohn geboren.

An Bewerbern um Eleonores Hand und Land fehlte es nicht. Bereits knapp zwei Monate später heiratete sie in 2. Ehe Heinrich Plantagenêt. Er war um einige Jahre jünger als Eleonore; diese soll dem Gerücht zufolge bereits ein Verhältnis mit Heinrichs Vater, Geoffroy von Anjou, unterhalten haben, und es hatte bereits das Projekt einer Heirat zwischen Heinrich und der ältesten Tochter Eleonores aus der Ehe mit Ludwig, Marie, existiert. Angeblich war es Eleonore, die die Initiative zur Heirat ergriff;

Heinrich mag eingewilligt haben, weil er nicht zulassen konnte, daß ein anderer Bewerber die Partie machte. Da Heinrich nicht die offizielle Genehmigung von seiten seines Lehnherrn, Ludwig, eingeholt hatte, nahm der französische König dies zum Anlaß, die Territorien der Plantagenêts anzugreifen. Doch wurde Ludwig schließlich genötigt, der Heirat zuzustimmen. 1154 wurde Eleonores Gatte als Heinrich II. König von England. (Angevinisches Reich.)

Wie schon Ludwig VII. verfolgte auch Heinrich II. Eleonores Ansprüche auf Toulouse (1159, 1162), und 1173 erkannte Raimund V. von Toulouse Heinrichs Oberherrschaft an, wodurch sich Raimund dem Treueid gegenüber dem König von Frankreich entzog.

In Aquitanien übte Heinrich seine Herzogswürde kraftvoller aus, als es seinerzeit Ludwig getan hatte. Dies erregte namentlich im Poitou Widerstand; dortige Gruppierungen versuchten, den päpstlichen Legaten davon zu überzeugen, dass die Ehe Heinrichs mit Eleonore ungültig sei. Das Herzogtum Gascogne wurde dagegen für eine spätere Abtretung an Kastilien vorbereitet; es sollte als Mitgift bei der Heirat von Eleonores Tocher Eleonore mit Alfons VIII. dienen (allerdings sollte die Mitgift erst nach dem Tode Eleonores übertragen werden).

Ein Bruch zwischen Eleonore und Heinrich II. erfolgte, als die Königin 1173 die Revolte ihrer Söhne unterstützte. Die Gründe für ihre Parteinahme gegen Heinrich sind nicht klar. Vielleicht fühlte sie sich - wie ihre Söhne - von der Machtausübung ausgeschlossen; möglicherweise war sie auch über den Ehebruch ihres Mannes, der in

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dieser Zeit im Bann von Rosamund Clifford stand, erbost. Nach der Niederschlagung des Aufstands wurde sie bis zum Ende der Regierung Heinrichs II. unter Bewachung gestellt. 1175 dürfte Heinrich eine "Scheidung" erwogen haben, doch blieb Eleonore weiterhin Königin und spielte als solche ihre Rolle in der Öffentlichkeit. 1185 bediente sich der König ihrer, um seinen Sohn in die Botmäßigkeit zurückzubringen; diesem wurde befohlen, Aquitanien an seine Mutter zurückzuerstatten.

Mit Heinrichs Tod und Richards Thronfolge kehrte Eleonore als Königinmutter ins politische Leben zurück. 1190 geleitete sie Berenguela von Navarra, die von Eleonore favorisierte Braut Richards, zu diesem nach Messina. 1192 trug sie dazu bei, die Rebellion Prinz Johanns in England während der Kreuzfahrt Richards zu unterdrücken.

In ihrem Namen wurde das Lösegeld für den von Kaiser Heinrich VI. gefangen gehaltenen Richard erhoben. Nach Richards gewaltsamem Tod (1199) setzte sie die Nachfolge Johanns gegen ihren Enkel, Arthur I. von Bretagne, durch. Während Arthur Eleonore in Mirabeau belagerte, geriet er in Gefangenschaft und wurde an Johann ausgeliefert. Eleonore blieb fast bis zu ihrem Tod politisch aktiv. Ihr Tod im Jahr 1204 beraubte Johann seines Anhangs im Poitou, während Alfons VIII. von Kastilien in die Gascogne einrückte, um die Mitgift seiner Frau, gemäß der Vereinbarung von 1170, in Besitz zu nehmen.

Eleonores Wirkung auf Zeitgenossen und Nachwelt kann nicht allein mit dem reichen Erbe, dessen Trägerin sie war, erklärt werden. Es war ihre Persönlichkeit, welche die Mitwelt beeindruckte. Gervasius von Canterbury faßte das Urteil über sie zusammen:

"Erat prudens femina valde, nobilius orta natalibus, sed instabilis."

I. Einleitung

Die Biographie von Eleonore von Aquitanien, wie sie im Lexikon des Mittelalters aus dem Jahr 2003 verzeichnet ist, wird der Arbeit vorangestellt, um den Leser mit Daten und Fakten über das Leben einer großen Königin des 12. Jahrhunderts bekannt zu machen.

Der Autor JOHN CRITCHLEY erwähnt das Gerücht einer Liebesbeziehung Eleonores von Aquitanien zu ihrem Onkel Raimund und nennt weitere Gerüchte, die die Moral der Königin in Frage stellen. CRITCHLEY bewegt sich damit auf beliebtem Terrain. Die Feststellung ... devant le tribunal de l'histoire, l'infidèle épouse de Louis VII est

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irrévocablement condamnée2 traf der französische Historiker Tamizey de Larroque im Jahr 1864. Ist die bedeutendste Königin des Hochmittelalters vor den Tribunal der Geschichte unwiderruflich zu verurteilen? Es schien an der Zeit zu sein, durch gründliche Forschungsarbeit der Frage auf den Grund zu gehen, wann und warum die Gerüchte über Eleonore von Aquitanien entstanden sind und ob es sich um Gerüchte handelt. Was hat Chronisten des 12. Jahrhunderts und nachfolgende Geschichtsschreiber veranlasst, das moralische Verhalten der Königin zu kritisieren oder in Frage zu stellen? Welche historischen Ereignisse haben die Wahrnehmungen und Erinnerungen der Geschichtsschreiber bei ihren Berichten beeinflusst? Wie sind die Erzählungen entstanden und von wem verfasst, warum tradiert worden? Welche Rückschlüsse können über die Königin aufgrund der Berichte gezogen werden? War es den Chronisten möglich, ihren eigenen, immer wieder betonten Ansprüchen eines wahren Berichts nachzukommen?

Zu diesem Zweck wurden zunächst die Chroniken des 12. Jahrhunderts auf der Suche nach Aussagen über Eleonore bearbeitet; diese Berichte wiederum erforderten, sich über das mögliche Geschichtsbild und Geschichtsbewusstsein der Chronisten zu informieren.

Wie stellten die Geschichtsschreiber des 12. Jahrhunderts die mit Eleonore im Zusammenhang stehenden Ereignisse in der eigenen und in Abhängigkeit von der kollektiven Wahrnehmung dar?

Die Legenden und die Legendenbildung über Eleonore von Aquitanien wurden bis in die heutige Zeit verfolgt, um zu eruieren, welche Einflüsse auf die Aussagen der Geschichtsschreiber oder der Historiker in darauffolgenden Jahrhunderten möglicherweise ausgeübt wurden und was diese Einflüsse für die Entwicklung der Gerüchte bedeuteten. Weshalb wurden Berichte über die Königin aus dem 12.

Jahrhundert später zu ihren Ungunsten modifiziert und neue Legenden hinzugefügt?

Weshalb werden bis in die heutige Zeit fragliche Überlieferungen und Überformungen von Historikern übernommen oder in den Chroniken geschilderte Ereignisse sogar willentlich verfälscht? Diesen und weiteren Fragen soll in dieser Arbeit nachgegangen werden.

Einige Gerüchte sind aufgekommen, weil Geschichtsschreiber darauffolgender Jahrhunderte nicht ausreichend über allgemeine geschichtliche Fakten Bescheid wussten, etwa über die Rolle einer consors regni im Hochmittelalter oder über die

"Regeln" der Geschichtsschreibung; auch die Rolle der Chronisten für die

2 Philippe Tamizey de Larroque, Observation sur l'Histoire d'Eléonore de Guyenne. Durand, Paris 1864, S. 20.

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Berichterstattung einschließlich deren Informationswege wurden bei der Beurteilung der Ereignisse zum Teil nicht ausreichend berücksichtigt. Einleitend soll etwas zu diesem nicht beachteten oder nicht bekannten historischen Rüstzeug gesagt werden.

I. 1. Die Rolle der Königin im Hochmittelalter

Die Tatsache, dass sich die Pflichten einer Königin im Laufe der Jahrhunderte grundlegend änderten, war den Geschichtsschreibern der Neuzeit teilweise unbekannt;

dadurch entstanden Interpretationsfehler, die Gerüchte zur Folge hatten. Aus diesem Grund sollen, nach heutigem Forschungsstand, zunächst kurz die Herrschaftsaufgaben einer westeuropäischen Königin im 12. Jahrhundert genannt werden.

Die Königin hatte als consors regni, als Teilhaberin an der Herrschaft im Reich, gemeinsam mit ihrem Gemahl die Regentschaft in ihrem Land zu führen. Sie hatte wie ihr Mann ihre eigenen Zuständigkeiten, aber in seiner Abwesenheit übernahm sie als Statthalterin seine Vertretung beziehungsweise übte als Regentin im Fall des Todes des Königs die Herrschaft für den unmündigen Thronfolger aus. Eine wesentliche Aufgabe stand dem königlichen Paar, insbesondere der Königin, zu: Die dynastische Nachfolge zu sichern. Söhne spielten die wichtigste Rolle. Töchter waren ebenfalls wichtig; ihre Ehen dienten auch dazu, Bündnisse zu schließen, Grenzen zu sichern und auszudehnen oder Friedensverträge zu erfüllen und zu festigen. Für die Erfüllung dieser letztgenannten Aufgaben war die Königin mitverantwortlich.

Die consors regni war in die wichtigsten Gebiete der Machtausübung eingebunden: in die Jurisdiktion, in die finanzielle Hof- und Haushaltsführung, in die Administration, im Zweifelsfall auch in die Planung und Ausführung militärischer Aktionen. Die Vergabe von Privilegien und Schenkungen, die Gründung geistlicher Stiftungen, die Sorge um Witwen, Waisen und Arme gehörten zu ihren Pflichten, die sie selbst erfüllte oder die durch ihre Interventionen und Petitionen erfüllt wurden. Königinnen sorgten sich um die Memoria, das heißt um das eigene und das Seelenheil ihrer Familie und ihrer Vorfahren. Sie repräsentierten die curia regia vor höchsten geistlichen und weltlichen Fürsten des eigenen Reichs und fremder Länder bis hin zu Vertretern des Volkes. Ihrem Rang entsprechend hatte sich die Königin in eigener Regie mit Hilfe ihres Hofstaats um ihre Dos zu kümmern.

Dieser Überblick dient lediglich dazu, die immense Fülle von Herrschaftsrechten und Herrschaftspflichten einer Königin zu umreißen.

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I. 2. Geschichtsschreibung im Hochmittelalter und Bemerkungen zur Erinnerungskultur

Eine orientierende Einführung in die Geschichtsschreibung des Hochmittelalters verbunden mit Bemerkungen zur Erinnerungskultur soll vor allem die Vorgehensweise bei der Beurteilung der erzählenden Quellen und deren Autoren in dieser Arbeit verständlich machen.

Ein sehr bedeutender Gelehrter des 12. Jahrhunderts, Johannes von Salisbury (1115/20- 1180), schreibt im Prolog seiner "Historia Pontificalis":

Ist es doch die einheitliche Absicht aller Geschichtsschreiber, das Wissenswerte zu überliefern, damit aus dem Geschehenen das unsichtbar Göttliche gewahr wird, damit die Menschen durch gleichsam augenfällige Beispiele von Lohn und Strafe sich wohlbedachter zur Furcht des Herrn und Pflege der Gerechtigkeit wenden. [...] Denn, wie schon ein Heide sagt, das Leben der anderen ist unser Lehrer, und wer nichts weiß von dem Vergangenen, der stürzt wie ein Blinder in das Los der Zukunft.3

Johannes fasst wichtige Kriterien zusammen, die die mittelalterliche Geschichtsschreibung kennzeichnen: Es werden wesentliche Ereignisse bekannt gemacht, damit diese nicht in Vergessenheit geraten; Gottes Wille wird deutlich gemacht, damit der Mensch ein Leben in Gottesfurcht führe und veranlasst wird, aus der Vergangenheit zu lernen.

Bei Heinrich von Huntington (um 1084-1155) heißt es in seiner zwischen 1127 und 1154 verfassten "Historia Anglorum":

Die Geschichtsschreibung bringt das Vergangene gleichsam wie Gegenwärtiges in den Blick, und sie beurteilt die Zukunft, indem sie sich aus dem Vergangenen ein Bild davon macht.4

3 Horum uero omnium uniformis intentio est, scitu digna referre, ut per ea que facta sunt conspiciantur inuisibilia Dei, et quasi propositis exemplis premii uel pene, reddant homines in timore Domini et cultu iustitie cautiores. [...] Nam, ut ait ethnicus, aliena uita nobis magistra est, et qui ignarus est preteritorum, quasi cecus in futurorum prorumpit euentus. Johannes von Salisbury, Historia Pontificalis. Hg. und Übers.: Marjorie Chibnall. Clarendon Press, Oxford 1986, Prolog, S. 3. Übers. nach Melville Wozu Geschichte Schreiben? Stellung und Funktion der Historie im Mittelalter. In: Formen der

Geschichtsschreibung. Hg.: Reinhart Koselleck, Heinrich Lutz, Jörn Rüsen. Beiträge zur Historik, Bd. IV.

dtv, München 1982, S. 86-146, hier S. 86.

4 Historia igitur preterita quasi praesentia visui repraesentat; futura ex praeteritis imaginando dijudicat.

Heinrich von Huntingdon, Historia Anglorum. Hg.: Thomas Arnold. RS 74, London 1879, Kraus Reprint 1965, Prolog, S. 2; Übers.: Hans-Werner Goetz, Geschichtsschreibung und

Geschichtsbewußtsein im hohen Mittelalter (im Folgenden zitiert als: Geschichtsschreibung). Akademie Verlag, Berlin 2008, S. 131.

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Im 11. und 12. Jahrhundert wurde das Geschichtsdenken der Gesellschaft deutlich durch den Kampf zwischen Regnum und Sacerdotium beeinflusst. Das Weltbild der Menschen wurde sowohl durch die Herausbildung und Festigung des Ritterstands und durch die Kreuzzüge als auch durch das aufkommende Bürgertum in den wachsenden und neu gegründeten Städten mit gesteigertem Handel in andere Länder, mit höheren Schulen und Universitäten – vor allem in Oberitalien und Westeuropa – verändert. Die Kirchen- und Klosterreformen und sich wandelnde ländliche Strukturen führten ebenfalls seit dem späten 11. Jahrhundert zu einem politischen, sozialen, wirtschaftlichen, strukturellen und geistigen Wandel; die Geschichtsschreiber und Philosophen waren herausgefordert, sich neu zu orientieren und die in ihrer Zeit erworbenen Erkenntnisse und Fakten in das tradierte Weltbild einzuordnen.5

Geschichtsschreiber zeichnen Ereignisse der Vergangenheit oder der eigenen Zeit auf, die sie für wichtig erachten; ihre Werke sind von ihrem Geschichtsbild und ihrem Geschichtsbewusstsein geprägt. Das Geschichtsbild entspricht dem historischen Wissen des Geschichtsschreibers und gibt dessen persönliche Auffassung und Vorstellung von historischen Geschehnissen wieder, die er aus Sicht der jeweiligen Gegenwart beurteilt.

Das Geschichtsbild des Einzelnen hängt von seinem Urteilsvermögen, seiner geistigen Befähigung, seinen ethischen Vorstellungen ab. Das Geschichtsbewusstsein spezifiziert das Verhältnis des Geschichtsschreibers zu den historischen Erinnerungen und zur historia.6

Welche Rolle spielte die Erinnerung in der Geschichtsschreibung im Hohen Mittelalter?

Wahrnehmungen und Erinnerungen beeinflussten, von Weitergabe zu Weitergabe modifiziert, das Geschichtsverständnis.7 Jede Erinnerung ist verformt, ist unzuverlässig, ob sie mündlich oder schriftlich überliefert wird. Von dem, was der Mensch wahrnimmt, wählt er primär schon situationsbedingt und nach eigenen Prioritäten aus den Ereignissen aus; er beurteilt diese Wahrnehmungen in der Erinnerung von seinem individuellen und gegenwärtigen Standpunkt aus. Erinnern ist immer an die äußeren und an persönliche Bedingungen geknüpft. Sekundäre Verformungen entstehen bei der mündlichen Weitergabe der Erinnerungen, weil Rücksicht auf politische, soziale, religiöse, bildungsbezogene Interessen der Gesprächspartner genommen wird

5 Joachim Ehlers, Historiographische Literatur. In: Joachim Ehlers, Ausgewählte Aufsätze. Hg.: M.

Kinzinger, B. Schneidmüller, (Berliner Historische Studien Bd. 21). Duncker und Humblot, Berlin 1996, S. 78-114, hier S. 78f; Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 41f, S. 47-49.

6 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 16-25.

7 Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik (im Folgenden zitiert als: Schleier der Erinnerung). C. H. Beck, München 2004, S. 14f.

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beziehungsweise sich die Persönlichkeit des Erzählers verändert.8 Entsprechend sind bei der schriftlichen Fixierung von Erinnerungen oder wenn schriftliche Zeugnisse übernommen und in neuen Werken verarbeitet werden, das Geschichtsbild und das Geschichtsbewusstsein des Geschichtsschreibers für die sekundären Verformungen mitverantwortlich. Bei ALEIDA ASSMANN heißt es: "Die Operation des Übersetzens von Erinnerungen bedeutet immer zugleich auch Veränderung, Verlagerung, Verschiebung."9

In einer Zeit mit weithin schriftloser Kultur nutzten die Geschichtsschreiber vorhandene Handschriften, waren jedoch in hohem Maß auf mündliche Überlieferung angewiesen, also auf die Kommunikation mit Gesprächspartnern. Wenn Oderic Vitalis (1075-1142) in seiner "Historia Ecclesiastica" schreibt: Einige bejahrte Greise freilich haben, was sie gesehen oder gehört hatten, den Söhnen mit beredtem Munde berichtet;

was diese nichtsdestoweniger selbst im Leim ihres dauerhaften Gedächtnisses behalten und dem nachfolgenden Zeitalter weitererzählt haben,10 dann war er wie seine Zeitgenossen und nachfolgende Geschichtsschreiber davon überzeugt, dass die Erinnerungen der Vorfahren den Tatsachen entsprachen und authentisch tradiert wurden.

JOHANNES FRIED formuliert: "Das Erinnerte paßt sich fortlaufend Detail für Detail und in seinen Grundlinien der erzählenden Gegenwart an, und wieder verrät keine Erzählung aus sich heraus, was zutrifft und was aus späterer Verformung resultiert.

Danach wäre es grundsätzlich falsch, den mittelalterlichen, ja, überhaupt den erzählenden Quellen, soweit sie sich einem Gedächtnis verdanken, im Hinblick auf Zeit, Ort, beteiligte Personen, auf Umstände, Motive, auf historisch relevante Momente einen Vertrauensvorschuß zuzubilligen."11

Das Gedächtnis und die Erinnerung sind unvollkommen und sie sind ebenfalls von den psychologischen Faktoren derjenigen abhängig, die die vermittelten Ereignisse miterlebt haben.12 Außerdem ist die schriftliche Fixierung dieser Erinnerungen davon abhängig, in welchem zeitlichen Abstand die Erinnerungen aufgezeichnet werden und ob sie von

8 Fried, Schleier der Erinnerung (wie Anm. 7), S. 54f, S. 75f.

9 Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik (im Folgenden zitiert als: Schatten). C. H. Beck, München 2006, S. 124.

10 Quaedam tamen annosi senes uisa uel audita filiis ore facundo retulerunt, quae nichilominus et ipsi tenacis glutino memoriae retinuerunt, et sequenti aeuo diuulgauerunt. The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis, Hg. und Übers.: Marjorie Chibnall. Clarendon Press, Oxford 1998, Bd. III, Buch 6, S.

284. Übers.: Melville (wie Anm. 3), S. 104.

11 Fried, Schleier der Erinnerung (wie Anm. 7), S. 77f, wörtl. S. 78.

12 Fried, Schleier der Erinnerung (wie Anm. 7), S. 69f.

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veränderten politischen und sozialen Gegebenheiten oder von neuen Erkenntnissen und Schlussfolgerungen des Chronisten beeinflusst werden.

Um den tatsächlich stattgefundenen Begebenheiten näher zu kommen, müssen die darüber vorhandenen zeitgenössischen Aufzeichnungen miteinander verglichen werden.

So können Unterschiede und Modulationen aber auch Übereinstimmungen in den Wahrnehmungen und Erinnerungen der Autoren verglichen und eine Quellenanalyse versucht beziehungsweise verbessert werden.

Über die Erinnerungskultur machen sich Wissenschaftler seit Mitte des 20. Jahrhunderts intensiv Gedanken. Der Soziologe MAURICE HALBWACHS (1877-1945) regte die Forschung über das "kollektive Gedächtnis", über den Einfluss kollektiver Erinnerungen auf das Individuum, auf eine Gruppe, auf eine Gesellschaft an.13 JAN und ALEIDA ASSMANN (Jahrgang 1938 und 1947) befassten sich eingehend und weiterführend mit der Halbwachsschen Theorie der "mémoire collective". J. ASSMANN erörtert, dass das kollektive Gedächtnis aus dem kulturellen und dem kommunikativen Gedächtnis resultiert. Das kommunikative Gedächtnis lebt und wird erhalten durch die Interaktion zwischen den Generationen und kann somit nur in einem biologisch begrenzten Zeitrahmen bewahrt werden. Das kommunikative Gedächtnis lebt durch die Erinnerungen der Mitglieder einer Gemeinschaft.14 In der teilschriftlichen Gesellschaft der vormodernen Vergangenheit wird der Erhalt konsolidierter Erinnerungen für die kommunizierende Gruppe neben der schriftlichen Dokumentation ebenfalls durch eine

"symbolische Fixierung" erreicht. Unter einer symbolischen Fixierung werden bestimmte Orte, Denkmäler oder festgelegte Bräuche verstanden.15

Das kulturelle Gedächtnis, bezieht sich auf die kulturelle Identität eines Menschen oder einer Gemeinschaft und besteht unabhängig von der biologischen Überlebenszeit der Individuen.16 Das kulturelle Gedächtnis geht auf das Totengedeken und ruhmreiche oder allgemein historische Erinnerungen in der Vergangenheit zurück; diese Erinnerungen dienen insbesondere der Bildung nationaler und individueller Identitäten.

Der Erhalt der Gedächtnisinhalte wird durch externe Speichermedien und kulturelle

13 Maurice Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 1991. Der Titel der französischen Originalausgabe aus dem Jahr 1939: "La mémoire collectiv".

14 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (im Folgenden zitiert als: Das kulturelle Gedächtnis). C. H. Beck, München 2007, S. 50f.

15 Felicitas Schmieder, Zugänge zur Geschichte der Vormoderne 2: Gedächtnis und Geschichte.

Unveröffentlichtes Manuskript, 2012, S. 5.

16 A. Assmann, Schatten (wie Anm. 9), S. 32f.

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Praktiken unterstützt beziehungsweise erst möglich.17 In externen Speichern, etwa in Archiven, Museen oder anderen Bildungseinrichtungen werden Erinnerungen durch Schrift, Bild oder Ton nicht nur aufbewahrt, sondern dort wird auch Geschichte in Abhängigkeit von den jeweiligen gegenwärtigen Interessen einzelner Gemeinschaften konstruiert.18 Es wurde gerade dargelegt, dass fundierende Erinnerungen nicht notwendigerweise durch Kommunikation in der Gruppe vermittelt werden, sondern dass sie auch durch "Fixpunkte in der Vergangenheit" im Gedächtnis erhalten bleiben können.19 Derartige Fixpunkte, sinnstiftende Erinnerungsfiguren oder Erinnerungsorte, werden in Zeiten erschlossen, in denen Bedürfnisse nach Orientierung bestehen; um diese Bedürfnisse zu befriedigen, müssen nicht Fakten aus der Vergangenheit herangezogen werden, auch ein Mythos kann als fundierende Erzählung Sinn- und Orientierungshilfe für die Gegenwart darstellen.20 Fixpunkte der Vergangenheit können Gedenkorte, Zeitpunkte oder Ereignisse sein, von denen nur noch die Erinnerung existiert, und selbst diese Erinnerung kann konstruiert sein. Im Zusammenhang mit Eleonore von Aquitanien werden zu ihren Lebzeiten und zu späteren Zeitpunkten historisch bedeutende oder überwiegend die Königin betreffende Vorgänge, Stätten und Daten erinnert, die orientierend und sinnstiftend gewirkt haben. Heute wird die Königin durch Gedenkorte, vor allem durch ihre Grablege in Fontevrault für den Tourismus genutzt; diese Art kultureller Erinnerung befriedigt gesellschaftliche und ökonomische Bedürfnisse unserer Gegenwart. Fixpunkte der Vergangenheit können ihre Rolle als Erinnerungsorte verlieren oder sie können Bezugspunkte einer neuen kulturellen Erinnerung werden.21

In schriftlosen und teilliteraten Kulturen sieht J. ASSMANN in "festen Objektivationen" eine Möglichkeit, identitätssicherndes Wissen für eine Gemeinschaft zu erhalten. Festen Objetivationen: "Ritualen, Tänzen, Mythen, Mustern, Kleidung, Schmuck, Tätowierungen, Wegen, Malen, Landschaften usw." spricht er mnemotechnische, das heißt erinnernde und identitätsstützende Funktionen zu.22 Sowohl die Wiederholung von Riten und Traditionen als auch die Sicherung durch Schriften, Bilder oder Archivalien sind gleich wichtig für den Erhalt kultureller

17 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (im Folgenden zitiert als: Erinnerungsräume). C. H. Beck, München 2010, S. 18f.

18 A. Assmann, Erinnerungsräume (wie Anm. 17), S. 21.

19 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 14), S. 52.

20 Jan Assmann, Mythos und Geschichte (im Folgenden zitiert als: Mythos). In: Helmut Altrichter, Klaus Herbers, Helmut Neuhaus, Mythen in der Geschichte. Rombach, Freiburg 2004, S. 13-28, wörtl. S. 14f.

21 Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990, S. 11.

22 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 14), S. 52; Nicolas Pethes, Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, zur Einführung. Junius, Hamburg 2008, S. 64f.

(19)

Erinnerungen, wobei gerade die wiederholte Ausübung symbolischer Praktiken eine besonders prägende Rolle für das kulturelle Gedächtnis spielt.23

Die Überlegungen über die Erinnerungskultur auf die Geschichtsschreibung im Mittelalter zu beziehen verlangt, den Blick auf die Chronisten zu richten. Im hohen Mittelalter schrieben vor allem Kleriker und Mönche Geschichtswerke; sie deuteten und interpretierten Geschichte. Der Klerus war in die weltliche Politik eingebunden, und die zeitspezifischen Anschauungen wurden vom Klerus mitgeformt; den Mönchen waren diese Anschauungen nicht immer in vollem Ausmaß bekannt, was sich in den Werken niederschlug.24 Das heißt, die biologische Kommunikation beschränkte sich im Kreis der Mönche wohl überwiegend auf den eher engeren Kreis des Konvents einschließlich deren Besucher. Kleriker im Dienst an weltlichen und geistlichen Höfen hatten an den kommunikativen Erinnerungen eines umfangreicheren Teils der Gesellschaft teil. Der Erhalt der Erinnerungen durch Schriften und feste Objektivationen war je nach Zugang Klerikern und Mönchen gleichermaßen möglich.

Der mittelalterliche Historiograph traf eine bewusste Auswahl zwischen erinnerungswürdigen und nicht erinnerungswürdigen Ereignissen.25 Der Erinnerung würdig waren Kriege, Verhandlungen, Prozesse, das Leben und die Taten von weltlichen und geistlichen Herren oder Heiligen. Die Chronisten nutzten schriftliche Zeugnisse und sie legten, wie sie in ihren Vorworten betonen, besonderes Gewicht auf die Erzählungen von Augenzeugen. Es wurde oben bereits gesagt, dass Wahrnehmungen beziehungsweise Erinnerungen primären und sekundären Verformungen unterliegen, die im Laufe der Zeit durch Missverständnisse, durch Überlagerungen, Phantasien, Vergessen und Auslassungen, durch Rücksichtnahmen und Loyalitäten entstehen.26

Die Autoren schlossen zum besseren Verständnis ungeklärte Lücken, floating gaps, sowohl zwischen den übernommenen mündlichen Berichten als auch zwischen den schriftlichen Zeugnissen, indem sie die für sie wahrscheinlichste Lösung in Form einer Erzählung oder Erklärung einfügten. Die Geschichtsschreiber waren überzeugt, dadurch nichts Falsches zu schreiben oder Vorurteilen zu erliegen.

23 Schmieder (wie Anm. 15), S. 15.

24 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 96.

25 Gerd Althoff, Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie. In: Ders.:

Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter. WBG, Darmstadt 2003, S. 25-51, hier S. 25-27.

26 Fried, Schleier der Erinnerung (wie Anm. 7), S. 69f.

(20)

Im Verständnis der Menschen des Mittelalters begann die Geschichte mit der Erschaffung der Welt und endete mit dem Jüngsten Gericht. Die Bibel nahm den Platz eines Geschichtsbuchs ein. Die narratio rei gestae diente in der Exegese sowohl als Gerüst für Ordnung, Zeit und Raum als auch als notwendige Stütze für die memoria, um die Überlieferungen zu bewahren.27

Die philosophische Strömung der Frühscholastik stellte die überlieferten Dogmen, die Bibel und die Bibelexegese nicht in Frage, sie waren wahr. Bibelzitate wurden in fast allen Schriften eingesetzt, insbesondere auch, um wissenschaftliche Diskurse zu führen.28 Die Chronisten neigten im Mittelalter zu umfassenden Darstellungen.29 Die Universal- oder Weltchroniken beginnen mit der Schöpfung oder mit Christi Geburt und wurden bis in die eigene Zeit fortgesetzt. JOACHIM EHLERS nennt sie eine

"systematische Zusammenfassung von Ereignis und Interpretation unter theologischen[m] Aspekt".30

In der Wahrnehmung der Geschichtsschreiber hatte die göttliche Vorsehung die Ereignisse sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart vorausbestimmt und Entsprechendes würde auch für die Zukunft gelten; sich ähnelnde Vorgänge hatten sich wiederholt und in der gegenwärtigen Zeit an Bedeutung gewonnen. Dafür musste es eine Erklärung geben, die es zu suchen und zu finden galt.31

Das Geschichtsbewusstsein der Geschichtsschreiber war sowohl ein

"vergangenheitsorientiertes Gegenwartsbewusstsein"32 als auch ein

"gegenwartsorientiertes Vergangenheitsbewusstsein".33 Das heißt zum Einen, mittels der res gestae der Vergangenheit versuchten die Geschichtsschreiber den Bezug zu ihrer eigenen Zeit herzustellen; sie suchten zum Beispiel die möglichst bedeutenden Anfänge und die alte Tradition eines Volkes, einer Herrschaft oder einer Institution nachzuweisen, um diesen Legitimation oder eine gewünschte Identität in der Gegenwart zu verschaffen. Andererseits waren die Chroniken gegenwartsorientiert, sie nutzten die

27 Markus Völkel, Geschichtsschreibung. Eine Einführung in globaler Perspektive. Böhlau, Köln, Weimar, Wien, 2006, S. 115-117.

28 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 58f, S. 68.

29 Völkel (wie Anm. 27), S. 122.

30 Ehlers (wie Anm. 5), S. 111. vgl. Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 115.

31 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 91, S. 216; Charles F. Briggs, History, Story, and Community: Representing the Past in Latin Christendom, 1050-1400. In: OH, Bd. II, Kap. 19, S. 391- 413, hier S. 393.

32 Hans-Werner Goetz, Die Gegenwart der Vergangenheit im früh- und hochmittelalterlichen Geschichtsbewußtsein (1992) (im Folgenden zitiert als: Gegenwart). In: Hans-Werner Goetz,

Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter. Hg.: Anna Aurast, Simon Elling u.a. Winkler, Bochum 2007, S. 453-476, hier S. 456;

Melville (wie Anm. 3), S. 105, S. 114.

33 Goetz, Gegenwart (wie Anm. 32), S. 460.

(21)

historia, um moralischen Einfluss auf den Leser zu nehmen, denn die Grundtendenz der Geschichtswerke war didaktischer Art. Die Geschichtsschreiber machten Begebenheiten aus der Geschichte bekannt als Vorbild für gegenwärtiges Verhalten und Handeln.34 Es bestand durch den Rückgriff auf die Vergangenheit sowohl die Möglichkeit, Rechte für die Gegenwart herzuleiten, Forderungen zu untermauern oder herabsetzende Gerüchte zu widerlegen, als auch argumentativ in politische Auseinandersetzungen einzugreifen.

Für diese Zwecke wurden zum Teil willkürlich 'Tatsachen' geschaffen. Positive Ereignisse der Vergangenheit wurden zu kritischen Situationen und Konflikten der Gegenwart als zweckdienliche Erfahrungen in Beziehung gesetzt.35 Es wurden etwa Urkundenfälschungen vorgenommen, die durchaus als Beweismittel tradiert und in die Geschichtsschreibung aufgenommen wurden.36

Es hing von dem Geschichtsverständnis der Historiographen ab, welche Fakten sie aufschrieben, welche sie für wichtig und wahr erachteten, welche nicht in Vergessenheit geraten sollten. Folglich handelte es sich nicht um einen objektiven Bericht, sondern um eine subjektive Auswahl, Deutung und Beurteilung des Geschichtsschreibers von Geschichte, so dass dessen persönliche Sicht von den Ereignissen oder auch eine zeittypische Anschauung übermittelt wurde, immer in dem Glauben, dass die ausgewählten Berichte der Wahrheit entsprachen. Für gewöhnlich gingen die primären und sekundären Verformungen der übernommenen mündlichen und schriftlichen Erzählungen in das Werk ein und führten eventuell zu weiteren der schon vorhandenen Modulationen. Die Örtlichkeit und die Institution, der sich die Geschichtsschreiber verpflichtet fühlten, prägten sowohl die Thematik als auch die Tendenz des Werkes, das heißt die Lebensbedingungen und die Umgebung wirkten zwangsläufig auf die Arbeitsweise, die Wahrnehmungen und die Absichten des Autors ein. Die verfügbaren Quellen beeinflussten das Geschichtsbild und damit den Inhalt der Chroniken.

Außerdem ist es für die Betrachtung und Beurteilung der Historiographie notwendig, sowohl den Stand und die Bildung, als auch die familiäre und nationale Herkunft der Autoren zu berücksichtigen.37 Es muss also für jeden Chronisten erwogen werden, welche der genannten Aspekte zu Verzerrungen, Verschiebungen, Modifikationen geführt haben könnten.

34 Goetz, Gegenwart (wie Anm. 32), S. 456-462; Althoff (wie Anm. 25), S. 27-29.

35 Althoff (wie Anm. 25), S. 42f; Goetz, Gegenwart (wie Anm. 32), S. 466-473.

36 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 287- 294.

37 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 94, S. 19f.

(22)

Oberste Priorität in der Geschichtsschreibung kam seit der Antike dem wahren Bericht zu.38 Lukian von Samosata (um 120 – um 180) fasste das Wahrheitsgebot, das Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit einschließt, eindrucksvoll zusammen: Der Geschichtsschreiber solle furchtlos, unbestechlich, unabhängig, ein Freund der freimütigen Rede und der Wahrheit sein, [...] der in seinem Werk ein Fremdling und ein Mann ohne Vaterland ist, unabhängig und keinem König untertan, und der keine Rücksicht darauf nimmt, was der eine oder andere denkt, sondern nur berichtet, was sich zugetragen hat.39 Geschichtsschreiber des Hohen Mittelalters waren der Ansicht, dass sie wahrheitsgemäß und unparteiisch berichteten, wenn sie zum Beispiel die guten und die schlechten Taten und Eigenschaften einer Persönlichkeit anführten und diskutierten.40 Das bisher Gesagte macht deutlich, dass den Forderungen nach Wahrheit und Unparteilichkeit niemand nachkommen konnte, auch wenn er sich darum bemühte.

Schriftliche Quellen besaßen für die Historiographen ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit. Von den Berichten der Geschichtsschreiber wurde angenommen, dass sie wahr sind; das Vertrauen schwand, wenn sich mehrere Aussagen über den gleichen Vorgang deutlich unterschieden.41

Viele Chroniken sind Kompilationen verschiedener Vorlagen. Die Historiographen suchten aber auch nach ergänzenden Quellen, um ihre Werke zu vervollständigen;

zahlreiche mittelalterliche Geschichtswerke fanden mehrere Fortführungen, etwa die wichtige Weltchronik von Sigebert von Gembloux (um 1030-1112). Andererseits entstanden, insbesondere in Klöstern, neue Geschichtswerke, die über noch nicht beschriebene Ereignisse berichteten oder tradierte Fakten in ihrer Auslegung dem Zeitgeist anpassten. Die Autoren setzten neue Schwerpunkte, erstellten eine bessere chronologische Anordnung oder Übersicht; wieder andere Historiographen interpretierten interessanter, lesefreundlicher oder stilistisch korrekter.42

In den Prologen wurde oft darauf verwiesen, dass vier bestimmende Faktoren der res gestae in dem jeweils vorliegenden Werk beachtet würden: wer die handelnden Personen waren und was wirklich, wann und wo geschah. Bei Hugo von St. Viktor (um

38 Marie Schulz, Die Lehre von der historischen Methode bei den Geschichtsschreibern des Mittelalters ( VI.-XIII. Jahrhundert). Rothschild, Berlin, Leipzig 1909, mit zahlreichen Beispielen unter anderem S. 5- 14.

39 Lukian, Wie man Geschichte schreiben soll. Hg. und Übers.: H. Homeyer. Fink, München 1965, S.

146-149.

40 Robert Bartlett England Under the Norman and Angevin Kings 1075-1225. Clarendon Press, Oxford 2000, S. 632.

41 Franz-Josef Schmale, Funktion und Formen Mittelalterlicher Geschichtsschreibung. WBG, Darmstadt 1985, S. 73-75.

42 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 138-141.

(23)

1097 - 1141) heißt es in seinem "Didascalicon": Denn dies sind die vier Dinge, die in der Geschichte vor allem festzustellen sind: die Person, die Handlung, die Zeit und der Ort.43

Die Autoren konzentrierten sich in erster Linie auf den wichtigsten Handlungsträger, den Menschen. Geschichtswürdig waren bedeutende Persönlichkeiten: Kaiser, Könige, Päpste, Fürsten, Bischöfe, Äbte und weniger Vertreter des Bürgertums. Der handelnde Mensch konnte nur begrenzt das Geschehen beeinflussen, er konnte nur ausführen, was die göttliche Vorsehung erlaubte. Und doch war der Mensch verantwortlich, wenn er Gottes Plan nachkam oder es nicht tat. Die Personen und ihre Handlungen griffen ineinander, und durch die Beschreibung wurden sowohl die Genealogie als auch die Taten und die institutionelle Umgebung dieser Personen charakterisiert. HANS- WERNER GOETZ weist darauf hin, dass für die Historiographen das Individuum ein exemplum war als "Repräsentant[en] einer Funktionsgruppe", das durch die Beachtung oder Nichtbeachtung von Gottes Wille eine "ethische Funktion" erhielt.44

Der Geschichtsschreiber hatte über die Bedeutung der auszuwählenden Fakten und über die Glaubwürdigkeit der Überlieferung zu entscheiden; er musste für jedes Ereignis die Bedingungen herausarbeiten, und er sollte für jedes Faktum den Willen Gottes deuten.

Die res gestae mussten also interpretiert und vor allem auf den göttlichen Heilsplan hin untersucht werden, um der gegenwärtigen und zukünftigen Generation den

"heilsgeschichtlichen Sinn der Geschichte" zu erklären. Jedoch musste der Leser aufgrund der Auswahl und der Anordnung der Fakten oft selbst eine Deutung vornehmen.45 Nicht jeder Autor hat Erklärungen formuliert, vermutlich auch weil sie für ihn auf der Hand lagen.

Wissenswert und erinnerungswürdig war insbesondere die politische Geschichte der herrschenden Geschlechter. Auch die Kirchengeschichte nahm einen großen Raum in der Historiographie ein, und schließlich gehörten kulturelle Elemente zu den zentralen Themen. Zwischen die Fakten wurden gerne Anekdoten eingeflochten, die sich angeblich in der Vergangenheit zugetragen hatten und zum angeführten Thema einen Bezug herstellen sollten.46

43 Haec enim quattuor praecipue in historia requirenda sunt, persona, negotium, tempus et locus. Hugo von St. Viktor, Didascalicon, De studio Legendi. Fontes Christiani. Hg. und Übers.: Thilo Offergeld.

Herder, Freiburg 1997, Buch 6, Kap. 3, S. 361f; vgl. Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 137.

44 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 168-172, wörtl. S. 169.

45 Ehlers (wie Anm. 5), S. 83; Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 137-142, wörtl. S. 138.

46 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 164-167.

(24)

Die Zeit gehörte seit der Antike zu den wichtigen zu beachtenden Kriterien und führte zum Bemühen um chronologische Anordnung der Fakten.47

Der Ort des Geschehens führte zur Beschäftigung mit dem Raum, den Städten, Residenzen, Ländern, der Welt und den Völkern. Die Historiographen befassten sich zu dieser Zeit eher mit dem eigenen Land oder der eigenen Region; das heißt jedoch nicht, dass schon von einem nationalen Geschichtsbewusstsein gesprochen werden kann.

Ebenso bezogen sich die Verfasser von Weltchroniken überwiegend auf das eigene Reich; ihrem Raumbewusstsein waren geographische Grenzen gesetzt, der Zugriff auf erklärende Quellen war eingeschränkt.48

Für historische Erinnerungen standen ebenfalls die Memorialzeugnisse durch Gründungs-, Stifter- und Schenkungsaufzeichnungen: Dem Gedanken an die Toten und den Fürbitten für deren Seelenheil war immer auch die Bitte oder Forderung für das eigene Seelenheil eingeschlossen. Die memoria war fest im Geschichtsbewusstsein des Menschen verankert, vergangenheitsbezogen, gegenwartsorientiert und zukunftsbestimmt.49

Die Geschichtsschreiber erzählten Mythen, um zum Beispiel eine nationale Geschichte neu zu schreiben;50 und sie stellten neben die Ereignisse der Vergangenheit Prophetien, die Erklärungen zu dringenden politischen Problemen der Gegenwart versprachen. J.

ASSMANN betont: "Mythen gewinnen ihre Form, Bedeutung und Strahlkraft, [...] aus den Sinnbedürfnissen der Gegenwart."51

Gründungsmythen waren keine Seltenheit. Es ist nicht nachzuweisen, ob diese Mythen bewusste Fälschungen waren oder ob die Autoren von den ihnen übermittelten Berichten überzeugt waren.52 Mythen wurden für ein Volk, aber ebenfalls für Geschlechter und geistliche Institutionen eingesetzt, um diesen durch eine bedeutende Vergangenheit ein historisches Prestige zu verleihen.53

FELICITAS SCHMIEDER definiert: "Der Mythos fundiert durch Vergangenheitsbezug die Identität der Gruppe."54

47 Antonia Gransden, Prologues in the Historiography of Twelfth-Century England. In: Antonia

Gransden, Legends, Traditions and History in Medieval England. Hambledon Press, Rio Grande 1992, S.

142; Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 192-195.

48 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 174-178.

49 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 297-299; Goetz, Gegenwart (wie Anm. 32), S. 455.

50 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 229.

51 J. Assmann, Mythos (wie Anm. 20), S. 15.

52 Schmieder, (wie Anm.15), S. 18.

53 Goetz, Geschichtsschreibung (wie Anm. 4), S. 287.

54 Schmieder (wie Anm. 15), S. 6.

(25)

Der Gründungsmythos Britanniens, den Gottfried von Monmouth (um 1090-1155) um 1136 schuf und in seiner "Historia regum Britanniae"55 bekannt machte, kann als Beispiel für ein sinn- und identitätsstiftendes Element des kulturellen und damit auch des kollektiven Gedächtnisses dienen. Aus der frühen Zeit gibt es keine Quellen über die britische Geschichte. Monmouth füllte floating gaps,56 geschickt durch seine Mythen, die für die britische Nation lang anhaltende "Überzeugungskraft und affektive Wirkmacht"57 entfalteten.

Der Gründungsmythos Britanniens wurde als Fiktion erkannt, hatte aber insbesondere für das Hochmittelalter und weitere Jahrhunderte Bedeutung als identitätsbildende Kraft. Auf das kulturelle Gedächtnis zurückgeführt, stellte der Mythos eine

"orientierende Kraft" für die Gegenwart dar, die J. ASSMANN als "Mythomotorik"

bezeichnet.

Geschichten, die immer wieder erzählt wurden, ob Fakt oder Fiktion, wurden im kulturellen Gedächtnis gespeichert und schließlich selbst zum Mythos.58 Mit der Schrift und der Alphabetisierung wurden die schriftlich fixierten kulturellen Erinnerungen immer mehr Teil der Gesellschaft; aber auch noch in unserer Zeit wird durch wiederholtes Gedenken der Vergangenheit, zum Beispiel in Form von nationalen oder religiösen Feiertagen, sowohl das kulturelle als auch das kommunikative Gedächtnis auf nicht-schriftgebundene Art und Weise wach gehalten.

Mythen können ersetzt werden, wenn sie für die Gruppe wertlos geworden sind; sie können vergessen oder bewusst unterdrückt werden, etwa wenn eine Herrschaft aus den kulturellen Erinnerungen keinen legitimierenden oder fundierenden Gewinn erzielen beziehungsweise das Unterdrücken der Erinnerungen nützlich sein kann.59 Durch die Verschriftlichung von Fakt oder Fiktion kann aber längst Vergessenes wieder bewusst gemacht und in einem anderen Zusammenhang belebt werden.60

Der moderne Historiker will historische Fakten ohne identitätsstiftende oder legitimierende Absicht erforschen und aufschreiben. Aber so sehr er sich um strikte Objektivität bemüht, um die Trennung von Geschichte und Gedächtnis, "er kann sich gar nicht vollkommen aus der perspektivischen Sicht auf die Geschichte lösen."61 Der Historiker kommt nicht umhin, die Vergangenheit aus gegenwärtiger Sicht zu sehen und

55 Herbert Pilch, Geoffrey von Monmouth. LEX MA, Bd. IV, Sp. 1263.

56 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 14), S. 48f.

57 A. Assmann, Schatten (wie Anm. 9), S. 40; Schmieder (wie Anm. 15), wörtl. S. 13.

58 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 14), S. 52.

59 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 14), S. 55; Schmieder (wie Anm. 15), S. 7.

60 A. Assmann, Schatten (wie Anm. 9), S. 52f; Schmieder (wie Anm. 15), S.14.

61 Schmieder (wie Anm. 15), S. 16.

(26)

zu beurteilen, weil er seine erworbenen oder die auf ihn gekommenen kulturellen Erinnerungen nicht aus seinem Gedächtnis verbannen kann.62

Durch das Ehepaar Assmann hat sich die Vergangenheitsforschung verändert. Wenn heute Historiker Genealogien als "konstruiert" erkennen, ist ihnen bewusst, dass es keine Geschichtsfälschung gewesen sein muss, sondern der Geschichtsschreiber der Vormoderne mag dank seines kulturellen Gedächtnisses von diesem Konstrukt, das er eventuell weiterentwickelte, überzeugt gewesen sein. Er hat symbolische Medien geschaffen, die seine Vergangenheit vermitteln.63

Diese Tatsache muss der Historiker bedenken und versuchen zu ergründen, warum, wann, wo und unter welchen Umständen ein Geschichtsschreiber Ereignisse übermittelte und welchen Einfluss sein Bericht auf nachfolgende Generationen hatte und noch hat.64

Historiker und Leser müssen bedenken, dass "alles, was bereits erinnert Eingang in die Quellen findet, kulturell überformt auf uns kommt und nicht, wie es war".65

Im Anschluss an diese einleitenden Ausführungen folgen noch einige allgemeine Erklärungen zur formalen Vorgehensweise in dieser Arbeit:

Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit den schriftlichen Zeugnissen des 12.

Jahrhunderts, die sich mit Eleonore von Aquitanien befassen beziehungsweise in denen die Herzogin oder Königin in einem hier relevanten Zusammenhang erwähnt wird. Die Ereignisse und die dazugehörigen Berichte der Geschichtsschreiber werden chronologisch anhand des Lebenslaufs der Königin beschrieben und analysiert. Kurze Kapitel werden nicht durch eine zusammenfassende Einschätzung abgeschlossen, während größere Kapitel jeweils eine direkte Beurteilung erfordern, um den Überblick zu gewährleisten.

Die Chroniken des 12. Jahrhunderts werden in der Arbeit auch als erzählende Quellen bezeichnet, vor allem dann, wenn eine Unterscheidung zwischen überlieferten Dokumenten und den Berichten von Geschichtsschreibern über Ereignisse relevant ist.

Spätere Werke, die ausführlicher oder auch weniger eingehend über Eleonore von Aquitanien schreiben, werden als Sekundärliteratur angegeben.

62 Schmieder (wie Anm. 15), S. 17.

63 Schmieder (wie Anm. 15), S. 18.

64 Schmieder (wie Anm. 15), S. 21.

65 Schmieder (wie Anm. 15), S. 4.

(27)

Damit die Namensgebung der Protagonisten und der Chronisten durch den lateinischen, französischen oder englischen Ursprung den Text nicht unnötig kompliziert gestaltet, soll hier im Allgemeinen der deutsche Name, insbesondere der deutsche Vorname benutzt werden. Es wird heute für gewöhnlich nur vom Herzogtum Aquitanien gesprochen und die Grafschaft Poitou, die ebenfalls zu Eleonores Patrimonium gehörte, hinzugerechnet, ohne sie zu nennen. In dieser Arbeit wird auf die heutigen Gepflogenheiten nicht immer Rücksicht genommen.

Um zu verhindern, dass die Krondomäne des mittelalterlichen Reichs der franci mit dem heutigen Frankreich identifiziert wird, wird von der Krone Frankreich oder eben auch der Krondomäne gesprochen. Auf diesem Weg sind gerade die franci im Unterschied unter anderem zu den Aquitaniern, Poitevinern, Normannen oder Angevinern genannt worden. England und die Engländer werden vorrangig unter diesen Bezeichnungen geführt, es sei denn, dass etwa Waliser oder Schotten extra zu nennen sind.

Der dritte Teil der Arbeit setzt sich mit Werken aus der Zeit vom Beginn des 13.

Jahrhunderts bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auseinander. Die Auswahl aus der Vielzahl der Quellen beschränkt sich auf Frankreich und England, weil Eleonore von Aquitanien in diesen Ländern Königin beziehungsweise Königinmutter und Herzogin gewesen ist; dementsprechend dürfte sie im kollektiven Gedächtnis der Franzosen und Engländer präsenter sein als bei Menschen in angrenzenden europäischen Ländern. Es wurden nicht nur Geschichtswerke sondern auch literarische Werke ausgewählt, immer unter dem Gesichtspunkt ihrer Bedeutung für das Weitertragen vorhandener oder das Herausbilden neuer Gerüchte über die Königin, und die Auswahl betraf Werke, die von Historiographen darauffolgender Jahrhunderte für ihre Arbeit bevorzugt genutzt wurden. Die Legendenbildung in diesen Jahrhunderten hat unter anderem historisch- politische Hintergründe, deshalb wird jedes Unterkapitel durch einen kurzen Überblick über die politische Entwicklung in Frankreich und England und über die Differenzen zwischen den beiden Nationen eingeleitet. Es erwies sich als schwierig, eine strikte chronologische oder eine typologische Ordnung für diesen Teil der Arbeit herzustellen;

aber eine einführende Übersicht und nachfolgende Wegweiser werden helfen, die Vielzahl der Gerüchte in ein brauchbares Schema einzuteilen und somit das Verständnis zu erleichtern. Auch für diesen Zeitraum erweist sich einleitend ein Überblick über neue Aspekte der Geschichtsschreibung als nützlich.

(28)

Im vierten bis achten Kapitel der Arbeit über die Zeit des 19. Jahrhunderts respektive des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts zeigen sich der Einfluss neuen wissenschaftlichen Arbeitens und vor allem auch die Ergebnisse besserer Forschungsmöglichkeiten. Im 19. Jahrhundert sind die Unterschiede zwischen den französischen und englischen Werken in ihrer Behandlung der Gerüchte über Eleonore von Aquitanien zu erkennen. Die politische Entwicklung in Frankreich und die geschichtstheoretischen Einflüsse kamen auf dem Kontinent stärker als in England zum Tragen. Um diese Unterschiede zu verdeutlichen, wurden die französischen und die englischen Werke getrennt vorgestellt.

Im 20. und 21. Jahrhundert beschäftigen sich insbesondere französische, amerikanische und englische Historiker und auch Literaturwissenschaftler mit der Geschichte der Königin, ohne immer ausreichend die Chroniken und Dokumente zu bewerten. Es konnte nur eine kleine Auswahl getroffen werden, aber die Tendenz der Forschung sowie neue Erkenntnisse oder das Beharren auf Gerüchten oder Andeutungen sollten deutlich gemacht werden. In den Kapiteln VIII und IX sowie bei den Schlussbetrachtungen werden teilweise persönliche Werturteile formuliert und es wird vorübergehend Abstand von wissenschaftlichen Sachaussagen genommen.

II. Eleonore von Aquitanien in zeitgenössischen Quellen und Chroniken

II.1. Berichte über Eleonore von Aquitanien in Chroniken des 12. Jahrhunderts Zunächst sei etwas Grundsätzliches zur Sichtung und Bewahrung der zahlreichen Werke zur französischen und englischen Geschichte im Hochmittelalter gesagt: Die ersten Historiographien über die Franken und insbesondere über die französischen Könige sind womöglich auf Initiative Sugers (1081-1151), des Abts von Saint-Denis, zusammengestellt worden; daraus ist bis spätestens 1180 die "Abbreviatio de gestis Francorum" entstanden, die Geschichtswerke bis zum Jahr 1137 enthält.66 Zahlreiche Chroniken oder Fragmente von Chroniken über die französische Geschichte einschließlich der "Abbreviatio" sind im 13. Jahrhundert in den "Grandes Chroniques de France" oder "Chroniques de Saint-Denis" zusammengefasst worden. Die "Chroniques"

dienten vor allem der Legitimierung und der Verherrlichung der Königshäuser,

66 Georg Waitz, Über die sogenannte Abbreviatio gestorum regum Franciae. NA, Bd. VII, Hannover 1880, S. 385-390; Auguste Molinier, Les Sources de l’Histoire de France (im Folgenden zitiert als: Les Sources), A. Picard & Fils, Paris 1902, Bd. III, S. 98f; vgl. Daniela Laube, Zehn Kapitel zur Geschichte der Eleonore von Aquitanien. Peter Lang, Bern, Frankfurt, New York 1984, S. 15.

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