DEUTSCHES
AR ZTE BLATT Zur Fortbildung
Aktuelle Medizin
KOMPENDIUM:
Frühzeitige Diagnostik der diabetischen Stoffwechselstörungen Die Amniozentese Alkoholismus
AUSSPRACHE:
Diagnostische Methoden zur Erkennung
allergischer Krankheiten
THERAPIE IN KÜRZE:
Patienten mit einem Kolostoma
Die Diagnose des manifesten Dia- betes mellitus bietet bei erhöhten Blutzuckernüchternwerten und bei gleichzeitig vorhandener Glukos- urie keine wesentlichen Probleme.
Die diagnostischen Schwierigkei- ten treten vorwiegend bei dem Ver- such auf, diabetische Frühstadien so rechtzeitig zu erkennen, daß die gefürchteten Spätstadien der Zuk- kerkrankheit durch eine konse- quente Therapie verhindert oder zumindest in ihrer Entwicklung hin- ausgezögert werden können. Ein- malige Harn- und Blutzuckerbe-
stimmungen reichen für eine Früh- diagnose nicht aus. Nur mit Hilfe von Belastungsmethoden läßt sich ein subklinischer (latenter) Diabe- tes mellitus erfassen.
Für eine frühzeitige Diagnose von Kohlenhydrattoleranzstörungen werden drei verschiedene Testver- fahren empfohlen: der orale einzei- tige Glukosetoleranztest (OGTT), der intravenöse Glukosetoleranztest und der intravenöse Tolbutamid- test. Für jedes dieser diagnosti- schen Verfahren sind eigene Be-
Frühzeitige Diagnostik der diabetischen
Stoffwechselstörung
Harald Förster, Franz Schulz, Karl Schöffling, Manfred Haslbeck und Hellmut Mehnert
Aus dem Zentrum der Biologischen Chemie des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, dem Zentrum der Inne-
ren Medizin des Klinikums der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt am Main, Abteilung für Endokrinologie (Leiter: Professor Dr.
med. Karl Schöffling) und dem Städtischen Krankenhaus München- Schwabing, III. Medizinische Abteilung (Chefarzt: Professor Dr. med. Hell- mut Mehnert)
Der einzeitige orale Glukosetoleranztest ist das wichtigste Verfah- ren bei der Diagnose von Störungen des Kohlenhydratstoffwech- sels. Die Bedeutung dieser Methode liegt darin, daß durch enterale Resorption von Glukose auf physiologischem Wege eine Störung der Blutzucker-Homöostase erzeugt wird, die es erlaubt, klinisch noch nicht in Erscheinung tretende Vorstadien des Diabetes melli- tus frühzeitig zu erkennen. Die oral verabreichte Glukosedosis soll- te 100 Gramm betragen, da geringere Mengen keine sicheren Rück- schlüsse auf das Vorliegen einer latent diabetischen Stoffwechselsi- tuation gestatten.
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Heft 23 vom 6.Juni 1974
1679Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Diabetes-Diagnostik
Wertungskriterien erarbeitet wor-
den; dabei muß die mögliche Fehl-
interpretation - besonders in den Grenzbereichen - berücksichtigt werden. Diese diagnostischen Kri- terien sind empirisch gewonnene Größen, die dem fließenden Über- gang von der physiologischen Stoffwechsellage zur diabetischen Stoffwechselstörung nicht immer gerecht werden. Fällt ein Test-
Störgröße
ergebnis in diesen Grenzbereich, ist eine eindeutige Beurteilung der Stoffwechsellage nicht möglich.
Bei fraglich pathologischen Resul- taten muß die Untersuchung wie- derholt oder ein anderer Test durchgeführt werden.
Die orale Belastungsprobe mit 100 Gramm Glukose wird heute allge- mein als Untersuchungsmethode
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Zeit nach Verabreichung
Darstellung 2: Das Verhalten der Glukosekonzentration im venösen Blut bei oraler und bei intraduodenaler Glukosebelastung
1680 Heft 23 vom 6. Juni 1974 DEUTSCHES ARZTEBLA'IT
der Wahl angesehen, da hier auf physiologischem Wege das Verhal- ten von Blutzucker- und Insulin- konzentration überprüft und Störun- gen des Kohlenhydratstoffwechsels frühzeitig erfaßt werden können.
Die orale Glukose-Doppelbelastung nach Staub und Traugott hat keine größere Aussagekraft als der ein- zeitige orale Glukosetoleranztest Die Weltgesundheitsorganisation konnte sich deswegen nicht ent- schließen, die orale Glukose-Dop- pelbelastung zu empfehlen. ln den Richtlinien der Studiengruppe Epi- demiologie der Europäischen Ge- sellschaft für Diabetologie und der Schweizerischen Diabetes-Gesell- schaft wird der Test überhaupt nicht mehr erwähnt.
Physiologische Vorbemerkungen Die Glukose-lnsulin-Homöostase läßt sich vereinfacht als Regelkreis darstellen (Darstellung 1). Die Glu- kosekonzentration im Blut stellt hier die Regelgröße, die B-Zelle der Langerhanssehen Inseln den Regler dar. Er verhindert durch Freisatzung von Insulin und damit durch Förderung des Glukoseab- stroms ein zu hohes Ansteigen der Glukosekonzentration. Eine lebens- gefährliche Hypoglykämie wird auf anderem Wege durch Katecholami- na und Glukagon vermieden.
Eine Störung dieser Glukose-lnsu- lin-Homöostase ist unter physiolo- gischen Bedingungen nur aus dem Intestinaltrakt nach Nahrungsauf- nahme zu erwarten. Diese Möglich- keit wird im oralen Glukosebela- stungstest provoziert. Bei schnellem Anstieg des Blutzuckers durch Re- sorption von Glukose aus dem Darm findet eine zusätzliche und frühzeitige Stimulation der B-Zelle durch Enterehormone statt. Der Regelkreis wird damit teilweise umgangen.
Die Resorption der Glukose aus dem Darm erfolgt außerordentlich rasch. Im Darm von Versuchstieren wird nach oraler Glukoseverabrei- chung nur im Duodenum und im
proximalen Teil des Jejunum Trau- benzucker gefunden. Die verwen- dete Glukosedosis spielt dabei kei- ne wesentliche Rolle. Unter physio- logischen Bedingungen ist vor al- len Dingen die Magenentleerung für das Glukoseangebot an den Darm und damit für die Glukosere- sorption bedeutungsvoll.
Andererseits wird von der Glukose- konzentration im Lumen des obe- ren Dünndarms die Geschwindig- keit der Magenentleerung beein- flußt, so daß bei oraler Gabe grö- ßerer Traubenzuckermengen ein kontinuierlicher Glukosestrom in den Darm zu erwarten ist. Bei ge- störter Funktion des Magen-Darm- Kanals, insbesondere nach Magen- resektion, ist mit sicheren Ergeb- nissen beim oralen Glukosetole- ranztest nicht zu rechnen. Hier muß ein intravenöser Belastungstest eingesetzt werden.
Untersuchungen
bei erhaltener und gestörter Glukosetoleranz
Verfolgt man die Blutzuckerkonzen- tration im venösen Blut stoffwech- selgesunder Versuchspersonen im Anschluß an orale Glukosebela- stungen mit unterschiedlicher Do- sierung, so scheint bereits nach 90 bis 120 Minuten die Glukoseresorp- tion abgeschlossen zu sein (Dar- stellung 2). Die Blutzuckerkurven sind dabei weitgehend identisch und damit unabhängig von der ver- abreichten Glukosemenge. Nur die relativ hohe Dosis von 400 Gramm erzeugt einen deutlich stärkeren Anstieg der Glukosekonzentration im .Blut. Nach intraduodenaler Ver- abreichung der Glukose normali- siert sich der Blutzuckerspiegel be- reits früher, da hier das Depot im Magen entfällt. Die Stoffwechsel- vorgänge im Anschluß an eine ora- le Glukoseapplikation sind jedoch zwei Stunden nach einer Glukose- gabe von 100 bis 300 Gramm trotz normalisierter Blutzuckerwerte noch nicht abgeschlossen. Wie Darstellung 3 zeigt, ist die Konzen- tration des Seruminsulins zu die- sem Zeitpunkt noch deutlich er-
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60 90 min 120
60 90 min 120
Darstel)t.I.~.S 3: Verhalten der Blutglukose und des Seruminsu.lins (IMI) bei jongen,gesunden Versuchspersonen nach oraler Verabreichung von Gluko·
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Glukose
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Darstellung 4: Kapillarvenöse Blutglukosekonzentr.ations-Differenzen bei jun- gen •. s~oftwechselgesundeq Versuchspers6f)en. nach oraler BE~tastung mit verschiedenen Glukosemengen· · ··
DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 23 vom 6.Juni 1974 1681
Glukose: 30g 50g n= 10
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310 60 90 120 150 180
Zeit ( min )
Darstellung 5: Verhalten des Seruminsulins (IRI), der kapillären Glukose- konzentration und der freien Fettsäuren bei jungen, stoffwechselgesunden Versuchspersonen nach oraler Verabreichung verschiedener Glukosemen- gen
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
Diabetes Diagnostik
höht. Lediglich bei einer Glukose- dosis von 50 Gramm hat auch der Insulinspiegel im peripheren Blut nach zwei Stunden den Ausgangs- wert wieder erreicht. Weiterhin geht aus Darstellung 3 hervor, daß das Integral der Insulinsekretions- kurven proportional zur verabreich- ten Glukosemenge ansteigt.
Bei der immunologischen Bestim- mung des Insulins wird auch des- sen Vorstufe, das Proinsulin, erfaßt.
Proinsulin ist biologisch jedoch kaum wirksam. Eine von Gordon und Roth entdeckte Seruminsulin- fraktion, das „big insulin", könnte diesem Proinsulin entsprechen. Es wurde gerade am Ende einer ora- len Glukosebelastung als deutlich erhöht gefunden, zu einem Zeit- punkt also, zu dem trotz normaler Zuckerkonzentration im Serum der Insulinspiegel noch deutlich über der Norm liegt.
Durch einfache Versuche kann aber nachgewiesen werden, daß es sich bei den lnsulinkonzentratio- nen, die 120 Minuten nach oraler Glukosegabe noch im Serum vorhanden sind, um biologisch wirksames Insulin handelt. Die gleichzeitige Bestimmung der GIu- kosekonzentration im Kapillar- und Venenblut läßt erkennen, daß die kapillar-venöse Differenz zum oben erwähnten Zeitpunkt noch sehr groß ist (Darstellung 4). Dies gilt aber nur für eine Glukosedosis von 100 Gramm und mehr.
Werden lediglich 50 Gramm verab- reicht, beträgt die Differenz nach 120 Minuten weniger als zehn Milli- gramm pro 100 Milliliter. Im Nüchternzustand gibt es keinen Unterschied zwischen venöser und kapillarer Zuckerkonzentration, da vom Gewebe fast keine Glukose aus dem Blut aufgenommen wird.
Erst unter dem Einfluß von Insulin ändert sich die Membranpermeabi- lität für Glukose in Muskulatur und Fettgewebe und ermöglicht so ei- nen Glukoseeinstrom in die einzel- ne Zelle.
Der rasche Abfall der Konzentra- tion der freien Fettsäuren im Serum
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Zeit nach Verabreichung Normalpersonen: 40g (n=13)
100g (n=10) 200g (n= 6)
Darstellung 6: Verhalten der Blutgalaktose nach oraler Galaktose-Applika- tion bei Normalpersonen
Tabelle 1: Kriterien der einzeitigen oralen Glukose-Belastungspro- be. Blutzuckerwerte: „wahre" Glukose, Kapillarblut
normal mg/100 ml
fraglich pathologisch pathologisch mg/100 ml
mg/100 ml
1. 2-Stunden-Wert < 120 121-140 > 140 2. Maximalwert < 160 161-180 > 180 Diabetes-Diagnostik
nach oraler Glukosebelastung ist ein weiterer Beweis für die biologi- sche Wirksamkeit des gemessenen Insulins (Darstellung 5). Bei hohen Insulinwerten nach Glukosedosen, die 50 Gramm übersteigen, bleibt die Konzentration der freien Fett- säuren trotz Normalisierung der Blutzuckerspiegel bis zu 180 Minu- ten lang erniedrigt. Erst nach Rückkehr der Insulinwerte zur Norm steigen auch die freien Fett- säuren wieder an. Bei Glukosedo- sen von 30 bis 50 Gramm ist neben dem frühzeitigen Abfall der Insulin- konzentration auch ein Anstieg der freien Fettsäuren zu beobachten.
Die große kapillar-venöse Differenz
der Glukosekonzentration als Zei- chen der gesteigerten Glukosever- wertung in der Peripherie und der zwei Stunden nach Traubenzucker- belastung wieder normalisierte Blutzuckerspiegel sprechen für ein dynamisches Gleichgewicht der peripheren Glukosekonzentration, das nur durch eine fortwährende Glukoseresorption aus dem Darm aufrechterhalten werden kann.
Bestätigt wird diese Annahme durch die Ergebnisse der Galakto- sebelastung. Die Resorption der Galaktose aus dem Darm erfolgt über den gleichen Mechanismus und ebenso rasch wie diejenige
der Glukose. Galaktose wird je- doch in der Leber verhältnismäßig langsam umgesetzt, ihr Stoffwech- sel unterliegt keiner hormonellen Beeinflussung. Nach einer oralen Belastung mit 200 Gramm Galakto- se steigt deren Konzentration im Blut fast vier Stunden lang kontinu- ierlich an. Das heißt, daß während dieses Zeitraums mehr Galaktose aus dem Darm resorbiert wurde, als im Stoffwechsel umgesetzt wer- den konnte (Darstellung 6). Über- trägt man diese Ergebnisse auf die orale Belastung mit 200 Gramm Glukose, kann man folgern, daß die Resorption auch hier mindestens vier Stunden andauert. Die Norma- lisierung der Glukosekonzentration im venösen Blut zeigt dementspre- chend lediglich die Wirksamkeit der hormonellen Regulationsvor- gänge an.
Stoffwechselgesunde Personen sind also in der Lage, die Störung der Glukose-Insulin-Homöostase während eines hochdosierten ora- len Glukosetoleranztests innerhalb von 90 bis 120 Minuten wieder aus- zugleichen. Liegt eine latent dia- betische Stoffwechselstörung vor, wird bis zum Erreichen der Homöo- stase ein längerer Zeitraum benö- tigt, zumal durch eine höhere Glu- kosedosis der nicht mehr vollstän- dig intakte Regelmechanismus stärker und nachhaltiger aus dem Gleichgewicht gebracht werden kann. Nach unseren Erfahrungen reichen 50 Gramm Glukose aber nicht aus, um die Glukose-Insulin- Homöostase nachhaltig zu stören, da die Resorption dieser Glukose- menge bereits nach 90 bis 120 Mi- nuten beendet ist. Bei 100 Gramm Glukose dauert die Resorption län- ger als 180 Minuten. Die Störgröße bleibt daher bis zu einem Zeitpunkt wirksam, zu dem die Regelgröße (Glukosekonzentration im Blut) beim Gesunden bereits normali- siert ist (Darstellung 2).
Abweichungen von der Norm sind bei Patienten mit subklinischem Diabetes daher am ehesten zwi- schen der zweiten und dritten Stun- de nach Beginn der Belastung zu erkennen. Darstellung 7 zeigt diese
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Glukose: 50g 100g R :1: SEM
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30 60 90 120 150 180 Zeit ( min) 220
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Darstellung 7: Verhalten der kapillären Blutglukosekonzentration, des Serum- insulins (1RI) und der freien Fettsäuren bei subklinischen Diabetikern nach oraler Verabreichung von 50 und 100 Gramm Glukose (n = 11)
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Diabetes-Diagnostik
Unterschiede im Hinblick auf die Glukosedosis besonders deutlich.
Bei der dort dargestellten Untersu- chung wären bei alleiniger Verwen- dung von 50 Gramm Traubenzuk- ker sieben von elf Patienten mit subklinischem Diabetes mellitus fälschlich als gesund bezeichnet worden.
Alle diese bei Stoffwechselgesun- den und bei subklinischen Diabeti- kern gewonnenen Befunde bewei- sen, daß mit einer oral verabreich- ten Glukosedosis von weniger als 100 Gramm keine ausreichende Störung der Glukose-Insulin-Ho- möostase erzeugt werden kann. Si- chere Rückschlüsse auf eine latent diabetische Stoffwechsellage kön- nen aus unterdosierten Belastun- gen häufig nicht gezogen werden.
Zur Durchführung der Glukosebelastung
Eine orale Belastung mit 100 Gramm Glukose ist trotz des etwas unangenehm süßen Geschmacks von reinen Traubenzuckerlösungen ohne Schwierigkeiten durchzufüh- ren, da die pharmazeutische Indu- strie trinkfertige Lösungen mit Ge- schmackskorrigentien liefert. Ein derzeit zur Verfügung stehen- des Oligosaccharidgemisch (Dex- tro®OGT) vereint die Vorteile der besseren Verträglichkeit mit dem angenehmeren Geschmack. Reine Glukoselösungen beziehungswei- se Oligosaccharidgemisch ergeben bei oraler Belastung in gleicher Dosierung weitgehend identische Ergebnisse.
Vor dem Test soll sich der Patient wenigstens drei Tage lang kohlen- hydratreich (das heißt 250 bis 300 Gramm Kohlenhydrate pro die) er- nähren. Der Belastung muß eine Nüchternperiode von zwölf Stun- den vorausgehen, während der stärkere körperliche Aktivität oder Nachtarbeit vermieden werden sol- len. Eine Behandlung mit Hormo- nen, Ovulationshemmern, Antidia- betika, Salizylaten, Barbituraten, Thiaziden und Tranquilizern soll — falls dies ohne Schaden für den Pa-
tienten möglich ist — für minde- stens 3 Tage unterbrochen werden.
Am Untersuchungstage erhält der Patient nach Abnahme des Blut- zuckernüchternwertes 100 Gramm
Glukose beziehungsweise das Oli- gosaccharidgemisch in 400 Millili- ter Wasser oder Tee. Danach er- folgen die Blutzuckerbestimmungen
nach 30, 60, 90, 120 und 180 Minu- ten. Während des Tests soll der Pa-
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 23 vom 6.Juni 1974 1685
Einsatz, Aussagekraft und Grenzen
Peter Kopecky und Hugo Jung
Eine moderne geburtshilfliche Dia- gnostik ist oft ohne Fruchtwasser- analyse nicht möglich. Die Frucht- wasserprobe wird durch eine transabdominale Amniozentese ge- wonnen. Obwohl die Technik nicht sehr schwierig ist, bedarf sie doch einiger Erfahrung und Übung. Da die Lokalisation der Plazenta unab- dingbar ist ufid die Schwangeren für einige Stunden überwacht wer- den sollen, wird man dieses Ver- fahren nur in Kliniken durchführen können, die speziell dafür einge- richtet sind.
Plazentalokalisation
Die Plazentalokalisation wird mit einem Ultraschall-B-Bild-Verfahren vorgenommen. Durch eine mecha- nische Impression der Bauchdecke kann unter Ultraschallkontrolle der
Plazentarand genau an der Bauch- decke markiert und eingezeichnet werden. Damit ist es möglich, eine transplazentare Punktion zu ver- meiden.
Die Technik der Amniozentese Die Amniozentese wird in Lokalan- ästhesie mit einer Punktionskanüle mit Mandrin (Länge etwa zwölf Zentimeter, Durchmesser 0,8 bis 1,2 Millimeter) durchgeführt. Man muß dabei absolut steril arbeiten, um eine Amnioninfektion zu ver- meiden. Mit der genauen Palpa- tionsuntersuchung wird unmittelbar vor dem Eingriff die Stelle festge- stellt, an der sich größere Mengen an Fruchtwasser angesammelt ha- ben. Eine Punktion im Bereich der Nackenregion kann allerdings ge- fährlich sein, wenn eine Nabel- Diabetes-Diagnostik
tient weder liegen noch irgendwel- che körperliche Arbeiten verrichten.
Die Beurteilung der Ergebnisse der einzeitigen oralen Glukosebela- stung erfolgt nach den in Tabelle 1 angegebenen Kriterien, wobei den Blutzuckerwerten zwei und drei Stunden nach Glukoseeinnahme besondere Bedeutung zukommt.
Die Blutglukosekonzentration sollte nach 180 Minuten den Ausgangs- wert wieder erreicht haben. Der während des Tests auftretende ma- ximale Blutzuckerwert sollte nicht über 180 Milligramm pro 100 Millili- ter ansteigen. Ein pathologisch er- höhter maximaler Glukosespiegel rechtfertigt aber bei normalen 120- und 180-Minuten-Werten nicht die Diagnose Diabetes mellitus.
Verschiedene Faktoren können das Testergebnis der einzeitigen ora- len Glukosebelastung beeinflussen.
Bei Störung der enteralen Resorp- tion, bei fieberhaften Erkrankungen und während einer Reduktionsdiät sind falsche Resultate zu erwarten.
Zusätzliche Erkrankungen müssen bei der Interpretation berücksich- tigt werden. Dies gilt besonders für die Überfunktion endokriner Or- gane (Akromegalie, Cushing-Syn- drom, Phäochromozytom, Hyper- thyreose), bei Fettsucht, Leberer- krankungen oder Schwangerschaft.
Literatur
Förster, H., Haslbeck, M., Geser, C.-A., Mehnert, H.: Blutglukose und Seruminsulin nach oraler Applikation von Glukose und Stärkesirup in unterschiedlicher Dosierung, Diabetologia 6 (1970), 482 — Haslbeck, M., Pröls, H., Förster, H., Mehnert, H.:
Stoffwechseluntersuchungen zur oralen Glukosetoleranz bei Gesunden und bei subklinischen Diabetikern, Zschr. Ernäh- rungswiss. Suppl. 15 (1973), 108 — Meh- nert, H.: Diagnose und Differentialdiagnose des Diabetes mellitus. In: Mehnert, H., Schöffling, K.: Diabetologie in Klinik und Praxis, Thieme, Stuttgart, im Druck — Schöffling, K., Schulz, F.: Störungen des Kohlenhyd ratstoffwechsels: Interpretations- fehler bei der Diagnostik, Diagnostik 5 (1972), 9 — Schulz, F.: Interpretationsfehler bei der Diagnose Kohlenhydrattoleranzstö- rungen, Dtsch. med. Wschr. 97 (1972), 1662.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Franz Schulz Zentrum der Inneren Medizin 6 Frankfurt am Main
Theodor-Stern-Kai 7
KOMPENDIUM
Die Amniozentese
Aus der Abteilung Gynäkologie und Geburtshilfe (Vorstand: Professor Dr. med. Hugo Jung) der Technischen Hochschule Aachen
Die Fruchtwasserpunktion ist technisch leicht und hat diagnostisch eine große Aussagekraft, Infolge des Blutungsrisikos bei transpla- zentarer Punktion und wegen anderer Komplikationsmöglichkeiten, sollte der Eingriff nur an geburtshilflichen Kliniken durchgeführt werden. Die Bestimmung der konjugierten Bilirubinoide ist zur Klä- rung des Bilirubinmetabolismus erfolgversprechend. Die Lipidkon- zentration im Fruchtwasser gibt Auskunft, ob ein Neugeborenes durch ein Respiratory Distress Syndrom gefährdet ist, In der Früh- schwangerschaft ist die Abklärung von Chromosomenanomalien und Enzymdefekten möglich.
1686 Heft 23 vom 6. Juni 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT