U
nfall auf der A 4: Ein Lastwagenfahrer schläft am Steuer ein, durch- bricht eine Leitplanke und klemmt ein anderes Fahrzeug ein. Mindestens zwei Schwer- verletzte, vielleicht gibt es so- gar Tote. Was für die meisten Menschen ein Alptraum ist, gehört für Rettungssanitäter, Ärzte und Polizisten zum All- tag. Allein in der Region Dresden werden jährlich et- wa 4 500 Unfälle mit Verletz- ten oder Toten registriert.Nach einjähriger Vorbe- reitungszeit und getragen vom Lehrstuhl für Kraft- fahrzeug- und Antriebstech- nik sowie dem Universitäts- klinikum, Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschir- urgie, wollen Wissenschaftler nun etwa ein Viertel der Un-
fälle in Dresden genauer un- ter die Lupe nehmen. Das zunächst auf drei Jahre an- gelegte und knapp zwei Mil- lionen DM teure Projekt wird von der Forschungsver- einigung Automobiltechnik e.V., einem Zusammenschluß großer Autofirmen (Ford, Volkswagen, Opel, Merce- des) sowie der Bundesanstalt für Straßenwesen finanziert.
Ziel der Forschung ist es, den jeweiligen Unfallhergang zu rekonstruieren und daraus Rückschlüsse für bessere Si- cherheitsstandards zu ziehen.
Ein vergleichbares Pro- jekt gibt es bereits in Han- nover. Einige Ergebnisse der dort seit 1973 laufenden Forschungen sind zum Bei-
spiel die Weiterentwicklung des Integralhelms für Motor- radfahrer, die nach unten kor- rigierte Position der Stoß- stange und die Einsicht, daß auch Radfahrer Helme benötigen. Doch der Autoin- dustrie genügten die Daten aus dem flachen Hanno- veraner Land nicht mehr. Da-
her suchte sie nach einem zu- sätzlichen Erhebungsgebiet.
Unter 15 Bewerbern bekam Dresden den Zuschlag. „Wir haben hier alles“, sagt Ober- arzt Dr. med. Thorsten Randt von der Unfall- und Wieder- herstellungschirurgie: „Berg- verhältnisse in der Sächsi- schen Schweiz, Autobahnen, stark befahrene Bundes- straßen, ein Großstadtgebiet und vor allem auch Alleen.“
Außerdem sei die Kombinati- on von Kraftfahrzeuglehrstuhl an der Technischen Univer- sität und Unfallchirurgie in der Uni-Klinik geradezu ideal.
Seit dem 2. Juli sind die knallroten Autos mit der leuchtend gelben Schrift im Vierschichtbetrieb in Dres-
den und Umgebung zu Unfäl- len mit Verletzten unterwegs.
Im ersten Monat nahmen sie 66 Unfälle auf. Ziel ist die ge- naue statistische Erfassung von 1 000 Unfällen jährlich.
Die Unfallforscher werden von der Polizei über Funk alarmiert, natürlich erst nach- dem Retter auf dem Weg sind. „Die Kooperation mit der Polizei läuft sehr gut“, sagt Thorsten Randt.
Mit Blaulicht zum Unfallort
Wenn im Dachgeschoß des Instituts für Kraftfahrzeug- technik ein Funkspruch ein- geht, läßt Andreas Georgi al- les fallen. Der 23jährige Kraft- fahrzeugstudent greift nach seinem silbernen Meßkoffer, stürmt die Treppen hinunter und springt ins Auto. „Wir müssen, wenn möglich, die Unfallstelle vor der Räumung erreichen“, erklärt der junge Mann. Wenn das Auto im Stau steckenzubleiben droht, kann Andreas Georgi einen kleinen Knopf neben dem Schalt- knüppel betätigen: das Blau- licht. „Blaulichtfahren ist gar nicht ohne“, sagt er. „Sirene an, Hirn aus – so geht das nicht.“ Man müsse klar struk- turiert fahren, alles, bloß kei- nen Zick-Zack-Kurs. Von der Polizei gab es deshalb für die Studenten extra Fahrtraining.
Außerdem mußten die etwa 60 studentischen Mitarbeiter an umfangreichen Erste-Hil- fe-Kursen teilnehmen.
Andreas und sein Beifah- rer sind für die technische Sei- te zuständig. Im zweiten Wa- gen sitzt ein Medizinstudent, der – die Einwilligung des Pa- tienten vorausgesetzt – die
Verletzungen dokumentieren wird. Im Kofferraum des Tech- nikfahrzeugs liegen eine Spie- gelreflexkamera, jede Menge Kreide, Meßroller und ein überdimensionaler Zollstock.
Bis zu 3 000 Daten erhebt das Team an der Unfallstelle. Zum Beispiel die Reifen: Welche Marke? Wieviel Profil war noch drauf? Wie hoch war der Reifendruck, und wie alt wa- ren sie? Die Techniker foto- grafieren das Auto von allen Seiten, messen Bremsspuren auf der Straße und Beulen in der Karosserie. Auch die Sitz- position des Fahrers und seine Kleidung werden registriert.
„Gerade junge Leute fahren oft lässig mit zurückgestellter Lehne und nur den Fingerspit- zen am Steuer“, sagt Andreas Georgi. „Da verliert man leicht die Kontrolle über das Fahrzeug.“ Genauso riskant ist es, mit Plateauschuhen oder barfuß zu fahren. „Wir beobachten neuerdings vie- le schwere Fußverletzungen“, berichtet Thorsten Randt.
Vielleicht auch ein Grund, warum Dresden den Zuschlag für das Projekt bekam: Die Dresdner Chirurgen sind un- ter anderem Fußspezialisten.
Zurück im Büro, geht die Arbeit für Andreas Georgi erst richtig los: Die Unfallda- ten müssen aus Datenschutz- gründen codiert, umfangrei- che Erhebungsbögen ausge- füllt werden. Ein kleiner Un- fall nimmt schnell fünf bis zehn Stunden Arbeit in Anspruch.
Morgens Studium, mittags Büroarbeit und abends mit Blaulicht auf den Straßen un- terwegs – ein langer Arbeits- tag. Aber: „So etwas Neues mit aufzubauen macht einfach Spaß.“ Gerlind Vollmer A-2371 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 38, 24. September 1999 (59)
V A R I A AUTO UND VERKEHR
Verkehrsunfallforschung
Neben Hannover sammelt jetzt auch Dresden Daten
Die Dresdner Unfallforscher im Einsatz: Bis zu 3 000 Daten erheben sie am
Unfallort. Foto: Ulf Aschenbrenner