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Nur dieses jetzt ist / jetzt. Zeiterleben im Medium Zeichnung

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NUR DIESES JETZT IST / JETZT

ZEITERLEBEN IM MEDIUM ZEICHNUNG

Zeit-Vorgabe

Jede Zeichnung ist per se eine visuelle Manifesta­ tion von Zeit. Dieses künstlerische Mediumbietet die Option, einen Ablauf, Verlauf, einezeitliche Un­ terbrechung, einen Augenblick,Dauer, Simultanei­ tät, und soweiter direkt und zujedemZeitpunkt ab­

zulesen. Die Dauer des Zeichenvorgangs kann da­

bei identisch seinmit derBetrachtungszeit.

Im MediumZeichnung kannman einerseitsdas Denkmodell von Heraklit erkennen,dass allesei­ nem ständigen Werden unterliegt und Zeit ein irre­

versibler unumkehrbarerAblaufist. Andererseits lässt sich abergenauso die These vonParmenides in der Zeichnung veranschaulichen,dass jede Ver­

änderung nur scheinbarundZeit ein reversibles Pa­ rameter ist,wie es derkolumbianischeKünstler Os­

kar Munoz in seiner Video-ArbeitRe/trato von 2003

OSCAR MUNOS, Re/trato, 2004. Single Channel video. 29:51 min, color, silent. Daros-Latinamerica Collection, Zürich. Photo: Zo6 Ternp®s

Originalveröffentlichung in: Kunstforum international 196 (2009), S. 80-87

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zurAnschauung bringt. Erzeichnetmit Wasser ein Portrait auf einen Stein. Sobalder die Gesichtszü­ ge umrissenhat, istder erste Strich verdunstet und er beginnt von neuem.Scheinbar endlos.1

Innerhalb derbreit gefächertenLiteratur zu dem Phänomen Zeit gibtes grob aufgeteilt zwei Grup­ pen. Zum einen diejenigen, die den berechtigten Versuch unternehmen, die Unfassbarkeit von Zeit in einempopulistischformulierten Ansatz zu „fas­ sen“unddiejenigen Publikationen, die einenein­ seitigen Reduktionismus des Zeitbegriffesvorneh­

men, um auf dieseWeise einen Teilaspekt von Zeit detailliertund im jeweiligen Fachjargon zu definie­ ren. Beide Gruppierungen haben ihre Berechtigung, da die Fragen, die wir an dieses ontologische Phä­

nomen par excellence stellen, existenzielleFragen sind.2

Das PhänomenZeit in der Gegenwartskunst muss man meines Erachtens interdisziplinär und fach­ übergreifenddiskutieren.Eswäre wieein Anlaufen gegen die Zeit, eineauch nur annähernd begriffli­

che DefinitionvonZeit ohne Hinzunahme der Er­

kenntnisse andererWissenschaften zu geben.Kein anderes Phänomen erhält in dem Maße dieAuf­ merksamkeit aller Disziplinen, derPhysik, Psycho­ logie, Soziologie,Biologie, Philosophie, Literatur

und Kunst, wie die Zeit. Ein Begriff, der nicht fass­ bar, vielleicht gar nicht begreifbar ist, wirddabei im Medium Zeichnung in den verschiedenen Facetten aufs anschaulichstenachvollziehbar.

Der Fokus der Zeitdiskussion liegt heute in den Bildwissenschaften aufden zeitbasierten Medien wie Film, Video, Netzkunstu.a. Eine eingehendeAna­

lysezu Manifestationsformen vonZeit im Medium Zeichnung liegtnochnicht vor. Nacheinerersten Bestandsaufnahme des Materials ist eine differen­

zierte Auffächerung zu einemZeitbegriff möglich, der so nur innerhalbder Zeichnung gedacht und zur Anschauung gebrachtwerden kann.

Folgeoder Dauer

Der französischeWahmehmungspsychologe Paul Fraisse (1911 bis 1996) hat in seinem Hauptwerk zur Zeitwahrnehmung „Psychologiedu Temps“ von

1957 3 schlüssigund verständlich dargelegt, dass zwei verschiedene Aspekte fürdasZeiterleben we­ sentlich sind: zumeinenist es die Wahrnehmung von Folge, zum anderen dievon Dauer. Inder Folge schlüs­ seltFraisse dieWahrnehmung von Einzelereignis­ sen in einer zeitlichen Folge auf. MitdemBegriff Dauernimmt er eine Einschränkung vor.Dauerist

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HANNE DARBOVEN, Ein Jahrhundert - Johann Wolfgang von Goethe gewidmet 1971 - 1982, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main. Foto Axel Schneider

für ihn die Wahrnehmung eines Intervalls zwischen zwei aufeinander folgenden Ereignissen. Soweit klingt dieseThese logisch.Kunstwerke, dieexpli­ zit das Thema Zeit visualisieren, sind selten Einzel­

werke.4 Der BegriffderSerie,verstandenals Varia­

tionzu einem Thema, erfasst auch nicht präzise die Werkkomplexe von Künstlerinnen, wie die von Hanne Darboven, Alexander Roob, Dieter Roth, Marcia Hafif, SongDongu.v.a.

Die erste Behauptung,die aufgestcllt werden kann, ist diejenige, dass Zeit keinGegenstand dersinnli­

chenWahrnehmung ist. Dazu kommt erschwerend hinzu, dass wenn wirüber Zeit sprechen,feststel­

len, dassZeiterlebnisse nicht aufObjekte verwei­ sen. Wir sehen Dinge, wirhören Geräusche, wir riechen Düfte,einenentsprechenden Zeitsinn gibt es nicht, er isteine Konstruktion, präziserformu­ liert ein Konstruktionsmodell. Wir bedienen uns Beschreibungenund Paraphrasierungen, „Hilfsbe­

griffen“ wie „bewegen“,„warten“, „erinnern“,ein Auf-die-Uhr-sehen etc... Und damit wären wirbei der drittenHürde, die unsdasSprechen und Schrei­

ben über Zeit in denWegstellt, speziellin der deut­ schen Sprache. Wir haben kein Verb wie die Eng­

länder to time. Esist die substantivischeFormdes BegriffesZeit, dieeinen fehlleitet. Sie erschwert,wie Norbert Elias nachweist die „Wahrnehmung des Zusammenhangsvon Ereignissen sehr“. 5Der ame­

rikanische LinguistBenjaminLee Whorf, der die

Verwendungder Zeit in der Sprache derHopi-In- dianer erforscht hat, zeigt, dass es in unserer Spra­ cheeine bipolare AufteilungderNaturgibt:diein Verben und Substantive. DieHopi-Indianerbenen­

nen Zeit in ihrer Sprache in Annexen undKonne­

xen, die eine differenzierte Aufteilung derZeitebe­

nen ermöglicht. Wir haben dagegen nur Futur, Prä­ senz, Imperfekt,Perfekt und Plusquamperfekt.6 Die Natur ist, wie dies die hochentwickelteGrammatik derHopiszeigt,nicht derart polarisiert, wieesun­

sere Sprache vorzugeben scheint. Die Schlussfol­

gerung wäre, dass dieParadoxalität, die wirdemPhä­

nomen Zeit zusprechen, diejenige unserer Kultur und unserer Sprachaufteilung ist.7Die chinesische Spra­

cheverzichtet ganz auf Konjugationen. Der deut­ sche Himforscher EmstPöppel hat 1978 erstmals einedetaillierte Klassifizierung FraisschenGruppen Folge und Dauervorgenommen. Er schlüsselt die Zeiterlebnisseauf in5 Unterscheidungen: in Wahr­

nehmung von Gleichzeitigkeit, in Wahrnehmung vonUnglcichzeitigkeit, zeitliche Folge,Gegenwart und Dauer.8.

Man könnte bereits diese Aufteilung wunderbar als Inhaltsangabe für die Zeitanalyse von Zeich­

nungen verwenden. Dieses Verfahren wäre einer Beweisführung gleich zu setzen, wie siein den Na­

turwissenschaften als Methode verwendet wird. P*e Hierarchie wäre eindeutig bei den einzelnen Diszip' linen der Naturwissenschaft oder Psychologie. Der

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mARcia HAFIF, October 21,1973, Bleistift auf Papier, 60 x 45,5 cm. Courtesey Galerie Michael Sturm, Stuttgart

besonderenStellung einzelnerkünstlerischen Posi­

tionen werdenwir damitnicht gerecht. Tatsache ist, dass Bilder die komplexen Strukturenbeziehungs­

weisedassprachlich kaum Fassbare, wiehierZeit,

"augenscheinlich“ in einer anderen Sprache, eben

derBildsprache, in einer eigenen Grammatik und Syntax zum Ausdruck bringen. Diese können wir wahmehmen und somit denken, aber nicht eins zu eins in eine andereSprache übersetzen. Es solltefolg­

lich eine andereGliederungdes Materialserfolgen,

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die das Medium Zeichnung als gleichberechtigte Disziplinneben den Wissenschaften gelten lässt.

Die effektivere Vorgehensweise ist diejenige,den Mehrwert eines Zeitbegriffes, den eine Zeichnung visualisiert,zubestimmen. DieAufteilung von Pop­

pel ist eine vereinfachteReduzierung. Die Beispie­

le der Kunst lassen erahnen,wie vielfältigZeit zu untergliedern ist. Schlägt manin einem beliebigen Sammelwerk zum ThemaZeit das Sachregisterauf, findet man unglaublichvieleAufsplitterungen, An­

nexe und Konnexe zu Zeit:absolute Zeit, erlebte Zeit,

lineare Zeit, Zeitbegriff, Zeitempfinden, Zeitlich­ keit,Zeitstruktur, Beobachtungszeit, Zeitdehnung, Zeit­ pfeil, Zeitblume etc, etc. Langeweile kommt dabei

nicht auf. Versucht man den hilflosen Versuchen der neuesten Wortschöpfungen-dasBekannteste zur Zeit ist das sogerne verwendete Zeitfenster - eine Gemeinsamkeit abzugewinnen,so ist das je­ weilige Suffix nicht nur eine räumliche Angabe, sondern einevisuelle Interpretation, ein Zusatz, der Zeit körperlich zu fassenversucht.

PIERO MANZONI, Linie 1000 m, 24. Juli 1961, Tinte auf Papier in Metallbehälter. Museum of Modern Art, New-York

PIERO MANZONI, Linie 11,40 m, Juli 1959, Tinte auf Papier in PapP Kartusche. Privatsammmlung.

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unkt Diereine Anschauung vonZeit hatlaut Kant keine

Gestalt.Die Zeitfolge und damitmeint er Vergangen­ heit, Gegenwartund Zukunft, die erals Beharrlich­

keit, Folge und Zugleichseinbezeichnet, lässt sich nur als eine ins„UnendlichefortgehendeLinie“9 den­

ken.Damit wählt ereine Metapher,für die der italie­

nische Konzeptkünstler Piero Manzoni (1933 bis 1963) 200 Jahre später die visuelle Entsprechung fin­ det. Inder Mailänder Galerie Azimut10,die der Künst­

ler mit seinemKollegen Enrico Castellani gründet, zeigt eram 4.12.1959 12 Linien unterschiedlicher Länge. Insgesamt haben sieeine Länge von 33,63m erreicht. Diese bezeichnetderKünstler noch als „end­ lich“".Von 1960biszum Jahr 1961, in demerdie­ sen Werkkomplex mit demTitel„Linea di lunghez- za infinita“ abschließt, zeichneter Linien mit schwar­

zer Tusche auf Papiervon „unendlicher“ Länge. Die längste mit 7.200 m entstehtim Juli 1960 in einerDru­

ckereiin Herning(Dänemark).Diesegibt erin einen BehälterausBlei undEisen, verschließt sie und ver­ gräbt siedanach im Erdboden.12 Nun ist nebendem Datum undderLänge auchpräzise die Zeit der Her­

stellung angegeben: 16.00- 18.55 Uhr. Paradox, be­ denkt man: es gehtihm um denBegriff derUnend­ lichkeit. Die angegebene Zeitspanne oder Zeitraum

•st genau die Dauer, die er inseiner Fertigkeit und in seinerTechnikbenötigt, um dieseLänge von über sie­ ben Kilometer zu zeichnen. Wirkönnen Unendlich­

keit nichtdenkenund ebenauch nurineinem zeitli­

chen Ausschnitt, der mehrmitdem Gedanken des Unermesslichen spielt,andeuten.„DasUnendliche ist Lein Bild“, postuliert Wittgenstein l3. Das Zeichen hirunendlich ist eingängig, aber eine Ensprechung hir das zirkuläre Zeitbewusstsein, wie die analoge Uhr, mitder 12Stunden-Takt Wiederholung.Die un­ endliche Linie, die weit über unserAugenfeld hinaus­ geht, ist eine Konstruktion von Unendlichkeit, eine Entsprechung des linearen Zeitbewußtseins. War es hort die analoge Uhr, so könnte man hierdiedigita- e Zeitmessung als Vergleich heranziehen. Für Man­

oni ist dielogischeSchrittfolge diejenige vonPunkt- Linie-Unendlichkeit. Dies ist der Gedankengang Pla­ ins, der uns später auchbei Kleeund Kandinsky be­ gegnenwird. Manzonis utopischgebliebenesVorha-

en wares, eine weißeLinie entlang des gesamten T^eridian von Greenwichzu ziehen.14 Er postuliert le Linie in seinem Manifest „LiberaDimensione“ as Zeit: „ Die Linie entwickelt sichnur in der Län­

ge»sie läuft insUnendliche: dieeinzige Dimension jst die Zeit.“15 Sein Freund und Mitbegründerder Ga-

ej16»Enrico Castellani stelltdieser Äußerung ein em­

phatisches,stakkatoartigesStatement zur Zeit dane- en: „ um den Werken die Konkretheit der Unend- 'chkeit zu verleihen“,soseine Worte „... welchesdie

onjugation der Zeit erfahren kann,Zeit als einzig assbare Dimension,Maßstab undRechtfertigung un­ serer geistiger Bedürfnisse.“ 16

DerfranzösischePhilosoph Henri Bergson(1859 bis 1941) weistKant in seinem Hauptwerk„Zeitund Freiheit“ einen Denkfehler nach, indem er ihm ant­ wortet: „Kants Irrtum bestand darin,dasser dieZeit als homogenes Medium auffasste. Er scheint nicht bemerkt zu haben,dass sichdie wirkliche Dauer aus Momentenzusammensetzt.“17 Diesem Argument kontert wiederum AlbertEinstein humorvoll: „Für unsgläubige Physiker hat die Scheidungzwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur die Be­ deutungeiner wenn auchhartnäckigenIllusion.“18 Allein diese drei Argumente gewichtiger Denker zeigen die Problematik, die in jeder derZeit-Detail­

fragen steckt.DerKünstler,wie z.B. PaulKlee no­

tiert 1938: „Kein Tag ohne Linie“in seinem Werk­ verzeichnis in Anlehnung an die berühmt geworde­

ne Äußerung „Nulla diessine linea“19 des römischen UniversalgelehrtenGaius PliniusSecundusd.Ä (23- 79n.Chr).20

Bereits in seinem ersten Vortragszyklus am Staat­ lichen Bauhaus Weimar 1921/22 notiert eranmeh­

reren Stellen seine Gedanken zu der Linie. Dort un­

terscheidet er zwischen Linear aktiv, Linear medi­

al,Linear passiv. Für unsere Argumentation istsei­

neDefinition zu Linear aktiv erkenntnisreich:„Die­ seneue Linie hingegenistbefristet,will möglichst rasch nach 1 dann nachzwei nach 3 u-s-w. Mankann eher von einem Geschäftsgang reden, alsvon einem Spaziergang. Die Geraden bezeugen es. Aber sowohl diefreiealsdie befristete Linie sind rein aktiver Typ.“21 Einige Seiten zuvor heißtes: „Kurz nachdemAn­

setzen des Stiftes oder was es sonst Spitzes ist,ent­ steht eine Linie Je freier sie sich zunächst ergeht, destoklarer ihrebewegliche Natur.. In Vorzeiten derVölker, wo schreiben und zeichnen noch zusam­ menfallt, ist esdasgegebene Element. Auch unse­ reKinder beginnenmeistdamit, sieentdeckenei­ nes Tages das Phänomen des beweglichen Punk­ tes. Mit größter Ungebundenheitbewegtsichder Stift wohin es gefällt....“22

Wir sprechen,wenn wirunszum PhänomenZeit äußern,oft in dualen Begriffen,wie in zirkulären und einemlinearenZeitbewusstsein. Paul Klee legt in diesen Vorlesungsnotizen dar, wie gerade im Me­

dium Zeichnung undimSpeziellen durch die Linie auf demBlattPapier eine Vermischung derbeiden Bewusstseinstrukturen möglich ist.

Beinahe zeitgleich, 1926, hat sich Wassily Kan­

dinskyinseinem Buch „Punkt und Liniezu Fläche“

zur Visualisierungvon Zeit geäußert. Den Begriff Zeit selbst unterzieht er keinernäheren Bestim­

mung, benennt ihn aber im Vergleich zu Klee ex­

plizit.

„Das Elementder Zeit ist im Punkt fast vollkom­

men ausgeschlossen, esgleicht kurzen Pauken- oder Triangelschlägen in der Musik.“23 „Der Punkt ist die zeitlich knappste Form.“24

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9

BAUHAUSBÜCHER

KANDINSKY

PUNKTuho LINIE zu FLÄCHE

2. AUFLAGE

Istdieser knappste Punktauch gleichzusetzenmit demJetzt,der Grenzezwischen Vergangenem und Zukünftigem?

Interessant ist es, dassKandinsky als Erklärung fürdasZeichnen ein anderes Medium, dasder Mu­

sik heranzieht. Der kurzePaukenschlag kann nach­ hallen,wielange,bedingt dassubjektive Zeitemp­ finden. Der einmal gezeichnete Punkt auf dem Blatt oderder Leinwandist immerzu jeder Zeit wahrnehm­ bar. Hierist die Betrachtungszeit gleich derjenigen Zeit der Ausführung. Damit wird dergezeichnete Punktauch zueinem memento mori.

Er ist die Visualisierungschlechthin, wie schnell die Zeit vergeht,wieunfassbar sie ist,dass eben das gerade Gesetzte/Geschehene bereits Vergangenheit ist.

Er ist, das zeigt diese einfachsteSetzung, auch im­

mer zu erinnern, als Zeitpunkt, egal auf welcher Stufeder Vergangenheit.25 An diesem Punkt kön­

nen wirnocheinmal Aristoteles zitieren. Er hat im neunten Buch der PhysikdieBehauptung aufgestellt, dass die Zeit nicht ausJetztpunkten bestehen kann.

Wennder Jetztpunkt aber keinTeil der Zeit ist, was ist erdann? Der georgianische Künstler Iliko Zau- tashvili findethierzu inder Wand-Arbeit„Time dis- appears in Time“ von 2003-2006 den passenden Satz:„don'tworry about the future, it isn't hereyet and now it's gone“26.

Auch Aristoteles ist sich in demPunkt unsicher, wenn er schreibt, das Jetzt ist das, was „ dasVer­

gangeneundZukünftigezu trennen scheint.“27 Die Sprache verwendet, KandinskysDefinition entspre­ chend, den Begriff des Zeit-Punkts. Aristoteles spricht in seinemBuchder Physik von der Unzu­

gehörigkeitvonJetztpunkten zu derZeit. Aneiner späteren Stelle wertet er das Jetzt auf, wenn er schreibt, das Jetzt bildet die theoretische Möglich­

keit,Zeitabschnitte voneinander getrennt zu denken- Aberweiche Schlussfolgerungen lassensich daraus ziehen? Jetzt istein Schnitt, eine Grenze in der Zeit, ohnedas Vergangene unddas Zukünftige istes aber nicht zu denken, sprich inexistent. Jetztist ein Ad' verb, alsoeine Sprachform, die etwas Anderes nä­

her bestimmen will: einen Augenblick, wie eine sehr treffende Metapher für dasJetztlautet. Einer­ seits kann man demGedankenvon Aristoteles fol­

gen, dass wennJetzt ein Teil der Zeitwäre, diese nicht als Kontinuum begriffenwerden kann2S,wed dieZeit nicht als Kette aneinander gereihter Punk' tegesehen werden kann, umeineandere Metapher heranzuziehen.

Zeitist eine kontinuierlicheLinie. Diese Behaup­

tung trifftzuund trifft aberauch nicht zu. Der ar­ gentinische Schriftsteller JorgeLuis Borges (1^

bis 1986), hat in seiner Erzählung „Fiktionen“ sich auch zurLinie geäußert:

„ Ich weißvoneinem griechischen Labyrinth, das nuraus einereinzigen gerade Liniebesteht. In die­

serLinie haben schon viele Philosophen die Orien­ tierung verloren.“29 Im Akt des Zeichnens kann ich, wie es Kandinsky undKleeausführen durch ei­

nen Punkt ein Jetzt setzen, gleichzeitig aber den Zeichenstift weiterführen und eine Linie ziehen-

„Eineaktive Linie, die sichfrei ergeht, einSpazier

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gang um seiner selbst willen, ohneZiel. Das agens 'st einPunkt,der sich verschiebt.“30

Keine Frage, dasJetzt nimmt in unseremDenken und dessen Visualisierungeine Sonderstellung ein.

Martin Heidegger formuliert es in seinem Haupt­

werk „Seinund Zeit“ relativ einfach: „Jedes Jetzt ist auchschon ein Soeben bzw Sofort.“Verstanden. Sei­ neErläuterungenzudieser Behauptungverifizieren diese einfache Setzung abernicht: „Jedes letzte Jetzt 'st alsJetzt'yeimmer schon ein Sofort-nicht-mehr, al­ so Zeit im Sinne des Nicht-mehr,der Vergangenheit;

Jedes erste Jetztist jeein Soeben-noch-nicht, mithin Zeit im Sinne desNoch-nicht-jetzt, der Zukunft.“31

Die Behauptung, dass Jetzt eine Grenzezwischen

^künftiger und vergangenerZeit wäre, eine Gren- 2e ohne Ausdehnung sei, die nur trennt, würde nichts anderesbedeuten,alsdass die Zeit nur in eine Ver­

gangenheit und Zukunft zu unterteilen ist.Max Ben- Se (1910 bis 1990), der deutsche Philosoph,der die Denkmodelle seiner Disziplin mit der Naturwissen­ schaft und der Kunst verbindet,hat in den 80er Jah- rcn des letzten Jahrhunderts in einem Gedicht all diesehier ausgeführten Wenn und Abers zu Jetzt auf­

gereiht.

"detzt, jetzt und erst jetzt, jetzt nur jetzt, jetzt und doch jetzt, jetzt ist das jetzt erst jetzt das nur jetzt

!st und doch jetzt ist, nur jetzt und doch jetzt,

|ekt das jetzt ist,

n'cht jetzt das jetzt nicht jetzt das jetzt lst ist jetzt das jetzt ist wann es jetzt lst‘ nicht jetzt wie es jetzt nicht ist, dicht jetzt, wie es jetzt nicht jetzt ist,

!etzt das nicht jetzt ist ist nicht jetzt, i®t2t nicht, jetzt noch nicht, doch jetzt . as noch nicht jetzt ist wenn es jetzt Jst| jetzt das jetzt nicht mehr jetzt ist Wenn es jetzt ist und das jetzt ist wenn

nicht mehr jetzt ist, dieses jetzt, rst dieses jetzt, nur dieses jetzt ist letzt. "32

Die Zeichnungen der amerikanischenKünstlerinMar-

*a Hafifs sind eineperfekte bildliche Analogie zu lesem Gedicht. In unterschiedlich langen Strichen etzt sieauf ein Blatt mit links oben beginnend und

dhts unten endendSetzungen eines Jetzt.

K etzt> nach diesenAusführungen, istderSatzvon andinsky „Der Punkt ist diezeitlich knappste Form“,

’*■ folgt zuinterpretieren: DerPunkt,einmal gesetzt, edört bereits derVergangenheitan, lässt sich aber . JedemZeitpunkt als Moment der Setzungin Er- Scncrung rufen. Für denBetrachter beziehungswei- die Betrachtungszeit ist er jederzeit Jetzt. Und enr noch, er dehntsichzueiner subjektiv bestimm- n Detrachtungsdaueraus. Dauerund Jetzt sindso- . In einem Punkt deckungsgleich geworden. Das

t es sonur in derKunst.

Anmerkungen

1 DasVideo hat eine Längevon 29:51 Minutenund ist in Farbe ohne Ton.

Es wird in Ausstellungen im Loop gezeigt, was den Unendlichkeitsfaktor unterstreicht. Es entstehtimmer ein leicht unterschiedliches Portrait. Neben diesem Aspekt derZeit ist auchderder Erinnerung demWerkimmanent.

21987 habe ichinder Publikation:DasPhänomen Zeit und Kunst und Wis­ senschaft(Hrsg.Hannelore Paflik), Weinheim eineausgewählteBibliogra­

phie zudeneinzelnen Disziplinen, wie Kunstwissenschaft,Philosophie,Ge­

schichtswissenschaft, Psychologie, Physik, etc erstellt. Siehe S. 137-150 3 deutsche Übersetzung: Psychologieder Zeit,Konditionierung, Wahrneh­ mung, Kontrolle,Zeitschätzung, Zeitbegriff, München/Basel 1985 4 siehe a.a.o.Kunst und Zeit, S. 31 ff.

5 Norbert Elias, Überdie Zeit, Arbeiten zurWissenssoziologie II. Frank­ furt, 1984 S. 8

6 Benjamin LeeWhorf, Sprache, Denken, Wirklichkeit,Hamburg 1963, S.

74 ff 7 ebenda, S. 14

8 Emst Pöppel, Time perception,in: R.Held, H.W. Leibowitz,H.-L.Teuber (eds) Handbook of Sensory Physiology Vol.VIII:Perception, Berlin 1978 S.713-729

Basierend aufzahlreichenempirischenVersuchsreihen an seinem neu ge­

gründeten Institut für Medizinische Psychologiein München legte er die Un­ terscheidungmit Hilfe von einfachsten Beispielen anProbandendar, in: ders.

GrenzendesBewusstseins,Über Wirklichkeit und Welterfahrung, Stuttgart 1985

9 ImmanuelKant, Kritik derreinen Vernunft, Stuttgart 2006, B 50 10 Der Name Azimut, deraus dem Arabischen stammt und den Bogen des Horizontes zwischen dem Meridian unddervertikalenUmlaufbahn eines Himmelskörpers bezeichnet,ist bereits eine sprachliche Umschreibung ei­ nesZeitverlaufes.

11siehe Renate Damisch-Wiehager, Zero Italien, Azimut/Azimuth 1959/60 in Mailand.Undheute,Ostfildern1996, S. 10

12Die anderen sindin schwarze Papprollenverschlossen, versehen jeweils mit einemEtikett, auf demLängeund Datum vermerkt ist. In Ausstellungen konnten dieLinienentrolltwerdenundso sichtbar ausgestelltwerden.

Später wirdman diese Bleibox wieder ausgraben.

13 LudwigWittgenstein, in Wittgenstein und der WienerKreis, Werkaus­

gabe, Band 3, Frankfurt 1984, S. 226

14 Offen bleibt, obeine Ausführung nur durch seinen frühen Tod verhin­

dert wurde.Manzoni,Einige Realisierungen. EinigeExperimente.Einige Pläne, siehe Anm.13, S.142

15 a.A.o.S.163 16 Castellani,a.A.o. S. 145

17 HenriBergson, ZeitundFreiheit, Hamburg 1994, S.171

18 Albert Einstein, zitiert nach Armin Herrmann, Einstein-DerWeltweise und sein Jahrhundert,München 1994, S.545

19 DaslateinischeZitat stammt von Plinius, Naturalishistoriae 1, Kapitel 35 Lateinische und deutsche Ausgabe herausgegeben und übersetztvonRo­

derich König. München 1968

20 Siehe: Andreas Marti, Nulladiessine linea,Von Pliniusbiszu Paul Klee, in:Zentrum Paul Klee, Bem und Tilman Osterwold, Paul Klee,Kein Tag oh­ ne Linie, Ostfildern 2005, S. 42 ff

21 Somit klärt sich auch,dass für ihndie Linie, die erunter fast jede Beti­ telung seiner Bilder und Zeichnungenzieht,ebenso wie die gezeichneten Li­

nien, mit denen er mancheseiner Zeichnungen nach oben unduntenwaag­

recht abgrenzt, ebenso zu den aktiven Linie gezählt werden können.

Jürgen Glaesemer, Paul Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bem (Hrsg), Paul Klee, Beiträgezur bildnerischenFormlehre. Faksimilierte Ausgabe des Ori­ ginalmanuskripts von Paul KleeserstemVortragszyklus am staatlichen Bau­ haus Weimar1921/22, Basel 1979, S. 10. Diesen handschriftlichen Auf­

zeichnungenist die fig 10beigefügt.Die nummerierten Punktevon 0 bis 7, liegen aufverschiedenen Höhen.Die Linien,diedie Punkte verbinden sind malmehr oder weniger steil, mal mehr oder weniger lang.

22 Ebenda S. 6f

23 Kandinsky, Punkt und Linie zur Fläche, /. Auflage Bem1973, S.32 24 ebenda, S. 342

25 Für dieMalerei ist hiervor allem Niele Toroni zu nennen.

26 Geschrieben u.a. andieAusstellungswandderSiemensSanat, Istanbul.

Ausstellung:Atmosphere 41°, 2007 27 Aristoteles, Physik IV,218a, 10 28 ebenda,219 a 12

29 Luis Jorge Borges,Fiktionen, Erzählungen1939-1944,Bd 5 München 1992, S. 15ff

30 Paul Klee, Pädagogisches Skizzenbuch,Berlin 1997, Nachdruck nach derAusgabe von 1925, S. 6

31MartinHeidegger, Sein undZeit, 16. Auflage, Tübingen1986,§79, S.408 32 Wolfgang Dauner danke ich an dieserStelle fürdenHinweis auf dieses Gedicht vonMax Bense, für das er im Auftrag des NDR eine Komposition geschriebenhat.

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