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Archiv "Reformstudiengänge Medizin: Mehr Praxis, weniger Multiple Choice" (06.08.2001)

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T H E M E N D E R Z E I T

A

A2020 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 31–32½½6. August 2001

er Traum von vielen Medizinstu- denten in Deutschland ist an eini- gen Universitäten bereits Realität:

ein praxisorientiertes Studium, das bei- zeiten auf den ärztlichen Alltag vorbe- reitet. Zwei vollständig reformierte Mo- dellstudiengänge existieren hierzulan- de: der Reformstudiengang Medizin an der Humboldt-Universität Berlin (Cha- rité) und der Modellstudiengang Medi- zin der privaten Universität Witten/Her- decke. Beide Universitäten bilden ihre zukünftigen Ärzte nach einem völlig umstrukturierten Lehr-, Lern- und Prü- fungssystem aus. Wesentlich sind dabei die Einheit von Vorklinik und Klinik, der problemorientierte, fallbezogene Unterricht in Kleingruppen sowie Prü- fungen, die nicht nur kognitives Wissen, sondern auch praktische Fertigkeiten und diagnostisches Denken abfragen.

Reformmöglichkeiten bisher wenig genutzt

Reformideen dieser Art gibt es bereits an mehreren medizinischen Fakultäten in Deutschland. Die Umsetzung vari- iert. So ergab eine Umfrage des Marbur- ger Bundes, dass gegenwärtig 15 der 37 Medizinischen Fakultäten in Deutsch- land ihre Ausbildung abgewandelt ha- ben, zumindest teilweise (zum Beispiel München, Dresden, Heidelberg, Mün- ster, Lübeck). Bei weiteren 24 Fakul- täten werden Reformschritte geplant.

Die genannten Projekte beziehen sich hauptsächlich auf das problemorientier- te Lernen (POL), Blockpraktika, frühe- ren Kontakt der Studenten mit Patien- ten und die Einbeziehung von Lehrpra- xen in die Ausbildung. Einen Antrag für einen Modellstudiengang haben neben Berlin und Witten-Herdecke die Uni- versitäten Hamburg und Bochum ge- stellt.

Dass die komplett umstrukturierten Modellstudiengänge in Berlin und Wit-

ten/Herdecke neben dem traditionellen Medizinstudium anerkannt sind, ermög- lichte die 8. Novelle der Approbations- ordnung für Ärzte vom 5. Februar 1999.

Die in § 36 a enthaltene Modellversuchs- klausel schaffte die rechtliche Grundla- ge für die veränderten Studien- und Prü- fungsmodalitäten. So können seitdem die beiden Modellstudiengänge auf die ansonsten in der Approbationsord- nung vorgesehene Ärztliche Vorprüfung (Physikum) sowie das erste Staatsex- amen in der Multiple-Choice-Form ver- zichten. Ersetzt wurden diese durch neue, hochschulinterne Prüfungsfor- men.

An der Berliner Charité bestanden die Reformpläne seit etwa zehn Jahren.

Nach der Genehmigung der von Berlin beantragten „Experimen- tierklausel“ durch den Bundes- rat und das Bundesgesundheits- ministerium startete am 18. Okto- ber 1999 der Reformstudiengang Medizin. Nach Anmeldung über die Zentrale Vergabestelle für Studien- plätze (ZVS) werden jährlich 63 Stu- dienanfänger, die sich um die Teilnah- me am Reformstudiengang bewerben, ausgelost. Parallel werden etwa 150 Hu- manmedizin-Studenten an der Charité zum konventionellen Studiengang zuge- lassen. Im Unterschied zu diesem ent- fällt beim Reformstudiengang die Tren- nung von Vorklinik und Klinik. Den Studenten werden vom ersten Tag an anhand konkreter Problemstellungen und Fallbeispiele die naturwissenschaft- lichen Grundlagen gemeinsam mit den klinischen Inhalten vermittelt. Der erste Studienabschnitt (erstes bis fünftes Se- mester) widmet sich dabei hauptsäch- lich den Organen und Organsystemen.

Die Studenten hospitieren während die- ser Zeit einen Tag pro Woche in einer ärztlichen Praxis der Primärversorgung und erlernen das handwerkliche Know- how. Gleichzeitig stehen im „Trainings- zentrum für ärztliche Fertigkeiten“ für

das Selbststudium anatomische Model- le, EKG-Geräte, Dummys zur Blutab- nahme, Stethoskope und andere ärztli- che Arbeitsmittel bereit. Der zweite Studienabschnitt ist nach Lebensab- schnitten gegliedert und umfasst mehr- wöchige Blockpraktika auf Station in den einzelnen klinischen Fachgebieten.

Gleichzeitig werden die Studenten Zeit erhalten, sich mithilfe des Fragen- katalogs „Schwarze Reihe“ auf das

zweite Staatsexamen vorzubereiten, denn dieses ist dann wieder mit dem der konventionellen Studiengänge iden- tisch. „Trotz der veränderten Lehr- und Lernmethoden im Reformstudiengang zweifeln wir nicht am Fachwissen unse- rer Studenten“, erklärt Prof. Dr. med.

Walter Burger, stellvertretender Leiter des Reformstudiengangs Medizin der Berliner Charité. Interne Evaluationen wiesen bereits gute Resultate auf. Um objektive Vergleiche mit den Studenten der traditionellen Studiengänge vorzu- nehmen, ist es jedoch zu früh. Die Stu- denten, die im Wintersemester 1999/2000 den Modellstudiengang in Berlin starteten, befinden sich derzeit erst am Ende des vierten Semesters.

Grund für den Optimismus von Bur- ger sind jedoch die guten Ergebnisse der

Reformstudiengänge Medizin

Mehr Praxis, weniger Multiple Choice

Einige medizinische Fakultäten haben bereits ihre Ausbildung reformiert.

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Zeichnung: Ralf Brunner

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Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 31–32½½6. August 2001 AA2021

hochschulinternen Prüfungen. Statt Physikum und erstem Staatsexamen müssen die Berliner Reformstudenten nach jedem Semester eine zweiwöchige Prüfung ablegen, bei der sowohl theore- tisches Wissen als auch praktisches Kön- nen benötigt wird. Die Multiple-Choice- Abfrage wird durch Multiple Essay Questions (MEQs) ersetzt. Dies sind of- fene, fallbezogene Fragen. Bei Simulati- onspatienten auf Station müssen die Studenten Diagnosen stellen und The- rapien entwickeln (Objective Structured Clinical Examinations, OSCEs). Studi- enbegleitend nehmen sie an einem Pro- gresstest teil, der ihnen ein Feedback über ihr kognitives Wissen ermöglicht.

Die zentrale Lehr- und Lernmethode im Reformstudiengang ist das Problem- orientierte Lernen (POL). Dabei wer- den die Fächer nicht getrennt gelehrt, sondern die Fachinhalte kehren in Form einer Lernspirale im gesamten Studien- verlauf mit zunehmender Komplexität wieder. „Die Studenten sind gezwungen, gleichzeitig aus mehreren Büchern zu lernen“, erklärt Burger. Dabei würden die Inhalte entsprechend der Häufigkeit der Erkrankung, der Dringlichkeit der Behandlung und der didaktischen Be- deutung zum Verständnis der Grundbe- griffe ausgewählt. „Zu Beginn des Studi- ums fiel es uns schwer, die richtigen Bücher zu finden und selbstständig zu lernen“, berichten Anke Neuwirth und Dörte Worthmann, Studentinnen des Reformstudiengangs Medizin der Hum- boldt-Universität zu Berlin. „Doch das fächerübergreifende Lernen macht die Sache interessanter und spannender.“

Eine Herausforderung ist das POL nicht nur für die Studierenden, sondern auch für die Lehrenden. Sie müssen als Tutor die Studenten anleiten, ohne ferti- ge Antworten vorwegzunehmen.

Die private Universität Witten/Her- decke unterrichtet bereits seit 1983 nach einem modernisierten Lehrplan. Seit 1992 sind auch hier POL, die Verzah- nung von theoretischem und prakti- schem Unterricht sowie modifizierte Prüfungen (MEQ und OSCE) die we- sentlichen Elemente der Medizineraus- bildung. Bis zur Einführung der Modell- klausel 1999 mussten die Studenten je- doch an sämtlichen zentralen Staatsprü- fungen teilnehmen; seit dem Sommerse- mester 2000 nur noch am zweiten und

dritten Staatsexamen. „Da das Lernver- halten wesentlich von den Prüfungen gelenkt wird, haben wir unser Curricu- lum so aufgebaut, dass den Studieren- den Zeit zur gezielten Vorbereitung auf das Multiple-Choice-basierte Examen bleibt“, erläutert Dr. med. Wilhelm E.

Vermaasen, Studiendekan der Fakultät für Medizin, Universität Witten/Her- decke. „Damit kann in der übrigen Zeit der Fokus stärker auf praxisorientiertes Wissen und die Schulung von klinischen Fähigkeiten gerichtet werden.“

Im Unterschied zu anderen POL-ba- sierten Studiengängen werden in Wit- ten/Herdecke mit Fortschreiten der Se- mester die „Papierfälle“ durch „echte“

Patienten in Kliniken und Arztpraxen ersetzt. „Darüber hinaus arbeiten die Studenten während des gesamten Studi- ums im Rahmen des ‚Allgemeinarzt- Adoptionsprogramms‘ in einer regiona- len Allgemeinarztpraxis“, berichtet Kay Preuß, Absolvent der Medizinischen Fa- kultät Witten/Herdecke. Etwa 120 Pra- xen hätten sich bereit erklärt, einen der 42 Studenten pro Studienjahr zeitweise aufzunehmen. Begleitet würde dies zu- dem von sozialmedizinischen Praktika und Hospitationen in Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen.

Zwar keine Modellstudiengänge, je- doch reformierte Lernformen in der me- dizinischen Ausbildung können die me- dizinischen Fakultäten der Universitä- ten München, Dresden und Heidelberg vorweisen. Sie erproben praxisorientier- te und POL-basierte Lehrmethoden, die unter Einbeziehung der Erfahrungen

der Harvard Medical School, Boston, USA, entwickelt wurden. Das an der kli- nischen Realität, Leitsymptomen und Patientenbeispielen orientierte Unter- richtssystem wird seit 1986 an der Har- vard Medical School praktiziert („New pathway of teaching“). Die Tutoren der deutschen Universitäten werden gegen eine Kooperationsgebühr eigens von Professoren der Harvard Medical School ausgebildet.

Alternative:

Interdisziplinäre Kurse

An der Medizinischen Fakultät der Lud- wig-Maximilians-Universität München finden seit 1996/1997 für die Studenten der klinischen Semester mehrwöchige, interdisziplinäre Kurse zu einem Organ- bereich statt (Kardiovaskuläres System, Infektiologie und Immunantwort, Not- fall und muskuloskelettales System, Nervensystem und Verhalten), die die Ausbildungsinhalte zeitlich und inhalt- lich zusammenfassen. Ein ähnliches Re- formmodell wurde 1998 an der Medizi- nischen Fakultät Carl Gustav Carus der Technischen Universität Dresden ge- startet. Bis 2004 sollen die interdiszi- plinären POL-Blockkurse und Klini- schen Blockpraktika in allen Studien- jahren integriert sein. Derzeit nehmen nur das dritte und vierte Studienjahr an der reformierten Ausbildung teil. „Bis Ende 2002 werden alle Professoren und Dozenten als Tutoren ausgebildet sein“, plant Prof. Dr. Peter Dieter, Studiende- kan der Medizinischen Fakultät Dres- den. „Jeder muss jetzt seine Lehre ver- ändern – Nichtreformer sind bereits Außenseiter.“ Das Dresdner Curricu- lum besteht als „Hybridcurriculum“ so- wohl aus den neuen Elementen (POL, Blockpraktika, neue Prüfungsformen) sowie den traditionellen (Vorlesungen, Seminare). Auch in Heidelberg studie- ren diejenigen Studenten, die im Früh- jahr ihr Physikum abgelegt haben, be- reits nach einem reformierten, Harvard- ähnlichen Curriculum. Ab Oktober soll das klinische Curriculum vollständig neu organisiert werden. Möglichkeiten, das Medizinstudium praxisorientierter zu gestalten, gibt es offensichtlich viele, doch bislang werden sie zu wenig ge- nutzt. Dr. med. Eva A. Richter

POL – Problemorientiertes Lernen

Das POL ist ein didaktisches Vorgehen zur gezielten Erarbeitung von Lerninhalten in Kleingruppen unter Leitung eines Tutors. Es besteht aus einer Kombinati- on von Kleingruppendiskussionen und Selbststudium.

Ausgangspunkt ist eine Problemstellung oder ein Fallbeispiel. Der Ablauf des POL ist in Lernschritte gegliedert, am Ende kann die Problemlösung ste- hen. Entscheidend ist aber nicht das Ergebnis, son- dern der Weg zu ihm. Der Lernstoff soll für die Stu- dierenden in einen nachvollziehbaren Zusam- menhang gestellt werden. POL knüpft somit unmit- telbar am Vorwissen an, geht auf Wissenslücken ein und motiviert zu eigenverantwortlichem Lernen.

Erstmalig wurde POL in den 60er-Jahren an der Mc- Master University in Hamilton, Ontario, Kanada, etabliert, wo es seit 1965 ein Grundpfeiler der me- dizinischen Ausbildung ist.

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