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Biodiversität als Teil des kulturellen Erbes

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10 HOTSPOT 37 | 2018

Die Biodiversität ist geprägt durch die Landnutzung – das Europäische Kulturerbejahr bietet die Gelegen­

heit, sich daran zu erinnern. Die viel­

fältigen Nutzungsformen haben im Laufe der Jahrhunderte zu einer reichhaltigen, kleinstrukturierten Kulturlandschaft geführt, die lange Zeit Lebensräume für viele Tier­ und Pflanzenarten bot. Somit sind das praktische Erfahrungswissen der Nutzungsformen, die dadurch ge­

prägte Kulturlandschaft und die dazu gehörige Artenvielfalt Teil des kulturellen Erbes.

Von Matthias Bürgi

Führen wir uns kurz vor Augen, wie sich die Landschaften und Lebensräume in der Schweiz in den letzten Jahrhunderten verän- dert haben und wie sie umgestaltet wurden (Mathieu et al. 2016): Nach dem Rückzug der Gletscher haben sich Wälder ausgebreitet;

mäandrierende Flüsse durchzogen die ausge- dehnten Feuchtgebiete der Niederungen. Spä- ter mussten die Wälder Weiden und Acker- land Platz machen, und diverse Nutzungssys- teme wurden entwickelt, um mithilfe von Sonnenlicht und -wärme aus knappen Nähr- und Düngerstoffen ein Maximum an Nah- rungsmitteln für eine wachsende Bevölke- rung herzustellen. All diese Veränderungen fanden ihren Niederschlag in der Entwick- lung der Kulturlandschaften und der dazu ge- hörigen Artenvielfalt (Poschlod 2015).

Biodiversität als Nebenprodukt der extensiven Landnutzung

Die durch den Menschen im Zuge der Land- nahme (Urbarisierung) geschaffenen Lebens- räume wiesen teilweise Eigenschaften natürli- cher Lebensräume auf. So begannen Mit- telspechte in den mächtigen Eichen von Mit- telwäldern zu brüten, anstatt in den Hartholz- auen, Reptilien profitierten von der Anlage von Lesesteinhaufen und Trockenmauern, in Weinbergen fanden Frühlingsgeophyten ei- nen alternativen Lebensraum zu mediterra- nen Trockenrasen, und Hochstammobstgär- ten boten vielfältige Lebensräume für eine Vielzahl an Vögeln, Insekten und Säugetieren.

Die Arten fanden ihre Nischen in den zahlrei- chen durch Menschenhand angelegten (Klein-) Strukturen. Der jährliche Rhythmus der kleinräumigen Landnutzung von Saat bis zur Ernte enthielt viele Zeitfenster, zu denen die Lebenszyklen von vielerlei Pflanzen- und Tier- arten passten.

Selbstverständlich nutzte der Mensch seine Umwelt nicht mit dem Ziel, die Artenvielfalt zu erhöhen und zu erhalten. Vielmehr war der Reichtum an Habitaten und Arten ein Ne- benprodukt der Landnutzung – sicherlich oft- mals positiv wahrgenommen, aber mehr als Zugabe, denn als Ziel.

Dann schwappten seit dem 19. Jahrhundert in Wellen neue fossile Energieträger über die Landschaft herein. Wärme, Energie und Nähr- stoffe standen nun in steigenden Mengen zur Verfügung und erlaubten eine enorme Steige- rung an Lebensqualität. Mittels neuer Techno- logien machte man sich diese Energieträger zu Nutzen und schraubte die Intensität der Landnutzung auf nie gekannte Höhen. Seither muss sich nur noch ein kleiner Teil der Bevöl- kerung um die Bereitstellung der Nahrungs- mittel kümmern.

Die Entkoppelung der Produktion von den lo- kal und regional verfügbaren Rohstoffen ging einher mit einer Beschleunigung der Nut- zungszyklen; damit schlossen sich die Zeit- fenster, in denen die Lebenszyklen der Arten und die landwirtschaftlichen Tätigkeiten übereinstimmten. Die im Zuge der Bewirt- schaftung entstandenen Kleinstrukturen wur- den zu Bewirtschaftungshindernissen, und so wurde die reich strukturierte Kulturland- schaft des 19. Jahrhunderts im Laufe des 20.

Jahrhunderts ausgeräumt, melioriert und ho- mogenisiert.

Wissen zu alten Nutzungsformen bewahren Das Europäische Kulturerbejahr 2018 bietet die Gelegenheit, die Geschichte der Land- schaft, der Landnutzung und der damit ver- bundenen Artenvielfalt auch als Teil des kul- turellen Erbes zu verstehen. Nur wenn wir ge- nau wissen, unter welchen Umständen die Ar- tenvielfalt im Laufe der Jahrhunderte entstan- den ist, haben wir auch die Grundlagen zu ih- rer Erhaltung in den Händen. Wann und mit welchen Nutztieren und Techniken wurden Riedwiesen beweidet? Wurde das Bettlaub für die Matratzen aus den Buchenwäldern im Herbst oder im Frühjahr zusammengerecht?

Wo gab es offene Acker- und Gartenflächen in Obstgärten? Wird eine Nutzung aufgegeben, verschwinden nicht nur die dadurch entstan-

denen Lebensräume und die darauf angewie- senen Arten, sondern – leicht verzögert – auch das detailreiche Erfahrungswissen in Be- zug auf die Praxis der Landnutzung und da- mit den Zeitpunkt und die Intensität des menschlichen Einflusses auf die Kulturland- schaft und ihre Elemente.

Dass sich Landschaften und Lebensräume im Zuge der Modernisierung verändert haben und im Zuge der Globalisierung und Digitali- sierung weiter verändern werden, ist selbst- verständlich. Auf die im Alltag erfahrbaren Vorteile dieser Entwicklungen wird kaum je- mand verzichten wollen. Immer deutlicher treten jedoch die hohen Kosten dieser Ent- wicklung zu Tage: Ob monetarisiert oder zum Selbstwert genommen, betrifft uns der Rück- gang der Artenvielfalt auf mannigfaltige Art und Weise. Heute stehen wir im Spannungs- feld von Schreckensnachrichten über den glo- balen Rückgang der Insektenvielfalt und der Unmöglichkeit, das Rad der Geschichte in die Zeit der energie-extensiven, aber arbeitsinten- siven Land- und Forstwirtschaft des 19. Jahr- hunderts zurückzudrehen, welche die Grund- lage war für die heute bedrohte Vielfalt.

Traditionelles Wissen und moderne Nutzung Das Kulturerbejahr erinnert daran, dass ein Problem nicht nur in Form eines monetären Schadens auftritt – auch die Bedeutung des Berner Münsters bemessen wir nicht nach sei- nem Beitrag an die touristische Wertschöp- fung der Stadt Bern. Beim Schutz und der Pflege des kulturellen Erbes und des kulturell geprägten Naturerbes (so könnte man die an- thropogenen Anteile der Artenvielfalt und .-zusammensetzung bezeichnen) stellen sich durchaus ähnliche Fragen, wie beispielsweise:

Kann eine Sprache, die nicht mehr im Alltag gesprochen wird, durch Kursangebote am Le- ben erhalten werden? Wieviel Geld soll ein Bauer erhalten, damit er eine Hecke pflegt?

Erleben wir die Kappelenbrücke in Luzern an- ders, wenn wir wissen, dass es sich dabei weit- gehend um eine Rekonstruktion nach dem Brand von 1993 handelt? Ist sie nun eigent- lich ein «fake monument»? Sind auch unsere Streuwiesen «fake biotops», wenn die gemäh- te Streue nicht mehr als Einstreumaterial ge- sucht ist? Welchen Wert haben Hochstamm- bäume, deren Früchte zu ernten sich nicht mehr lohnt?

Obgleich die Biodiversität der einstigen Kul- turlandschaft nicht das Ziel, sondern ein Ne- benprodukt der Landnutzung war, ist heute die Erhaltung der Biodiversität selber zum

Biodiversität als Teil des kulturellen Erbes

Brennpunkt – Biodiversität und Kulturerbe

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PD Dr. Matthias Bürgi ist Umweltwissen- schaftler und Leiter der Forschungseinheit

«Landschaftsdynamik» der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Er beschäftigt sich mit der geschichtlichen Entwicklung von Ökosystemen und Landschaften.

Kontakt: matthias.buergi@wsl.ch

Ziel geworden. Dass unsere Wiesen nicht mehr bunt und voller Schmetter- linge sind, ist ein Verlust, mit dem wir uns nicht abfinden dürfen. Um diesen Verlust rückgängig machen zu können und weitere Verluste zu verhindern, müssen wir wissen, wieso die Wiesen früher vielfältiger und bunter gewesen sind. Es geht nicht darum, vergangene Zustände wieder herzustellen, sondern um die Frage, wie unter heutigen Be- dingungen das reiche Natur- und Kultu- rerbe mit zeitangepassten Nutzungs- weisen und dem Wissen von früher er- halten werden kann (siehe Kasten S. 5).

Artenvielfalt als Teil des kulturellen Er- bes zu verstehen, öffnet den Horizont zur relevanten Breite. Das kulturhisto- rische Wissen ist in aktuelle Debatten einzubringen, damit Antworten gefun- den werden können auf die drängende Frage, welche Landnutzungssysteme unter den heutigen landwirtschaftli- chen und gesellschaftlichen Umstän- den vielfaltsfördernd und -erhaltend wirken.

Literatur: www.biodiversity.ch/hotspot Der Autor bedankt sich bei Michael Nobis (WSL) für wertvolle Kommentare.

HOTSPOT 37 | 2018 11

Auf der Liste der lebendigen Traditionen – auch immaterielles Kulturerbe ge- nannt – begegnet man immer wieder Figuren, die einen engen Bezug zur Natur haben und sich mit Naturmaterialien schmücken (siehe www.lebendige- traditionen.ch). Dazu gehören der Wild Maa und die Silvesterchläuse. Die Wahl der Pflanzenarten wurzelt oft in der vorchristlichen Keltenzeit: Damals war es Sitte, das Haus zur Wintersonnenwende mit Efeu, Stechpalmen und Misteln zu schmücken, eine uralte Schutzmassnahme gegen die entfesselten Geister der Winterstürme.

Weiterführende Informationen: www.biodiversity.ch/hotspot

Hintergrundfoto Jodok Guntern

Das Silvesterchlausen ist ein Winterbrauch im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Grup- pen von unterschiedlich ausgestatteten Chläusen besuchen die Bauernhöfe, stellen sich im Kreis auf, lassen im Rhythmus ihre Schellen erklingen und zäuerlen (Naturjodel). Die

«Schö-Wüeschten» Chläuse verwenden für ihre Verkleidung Naturmaterialien wie Tannen- reisig, Laub oder Stroh.

Im Januar, beim «Vogel Gryff», einem bedeutenden Anlass in Kleinbasel, zieht und tanzt der Wild Maa zusammen mit dem Vogel Gryff und dem Leu durch die Strassen. Das Naturwesen kommt nach der Wintersonnen wende aus dem Wald und schwingt eine aus- gegrabene Rottanne. Um den Kopf und um die Lenden trägt es einen Efeukranz. Der Wild Maa verheisst Fruchtbarkeit und neues Leben. (GK)

Natur im Brauchtum

Wilde Mannen aus dem Wald

Silvesterchlausen, Urnäsch AR. Foto Appenzellerland Tourismus AR

Wild Maa mit Efeu und Rottanne, Kleinbasel. Foto © Basler Standortmarketing, Julian Salin

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