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nde August 2003 entschied der Stadtrat in Halle an der Saale über einen teil- weisen Abriss des Kernareals der ehemaligen Königlich- Preußischen Provinzial-Irren- anstalt Halle-Nietleben. Die Chancen für den Erhalt des restlichen, bislang beinahe ge- schlossen erhaltenen,spätklas- sizistischen Ensembles stehen schlecht, da an dessen Stelle der Erweiterungskomplex ei- nes „Technologie- und Grün- derzentrums“ (TGZ III) ent- stehen soll.Sechs von Abrissgegnern vorgeschlagene Ersatzflächen in unmittelbarer Nachbar- schaft wurden vom Investor bislang mit der Begründung abgelehnt, dass selbst ent- kernte Anstaltsgebäude für die geplante Labornutzung nicht infrage kämen. Wich- tigstes Argument, an dem al- ternative Nutzungskonzepte bislang scheiterten: Instand- haltungsmaßnahmen am An- staltskomplex wurden mit den für den Bau des TGZ III bereits eingeworbenen EU- Fördergeldern finanziert, die dann zurückgezahlt werden müssten – mit Geld, das der Stadt nicht zur Verfügung ste- he. Ernsthafte Interessenten an den Gebäuden wurden bis- lang nicht gefunden (1, 2, 4, 8, 10, 11, 13, 14).
Psychisch Kranke wurden bis Anfang des 19. Jahrhun- derts in säkularisierten Klö- stern oder Haftanstalten
„aufbewahrt“. Der Heidel- berger Psychiater Christian Friedrich Roller reformierte
in den 30er-Jahren des 19.
Jahrhunderts das Behand- lungskonzept psychisch Kran- ker, deren Erkrankung er als Folge belastender Lebensbe- dingungen ansah, indem er den Aufenthalt der Kranken in der isolierten, aber archi-
tektonisch ideal geordneten Umwelt einer Anstalt propa- gierte. Daraufhin entstanden im süddeutschen Raum die Heilanstalten Illenau in Ba- den und Eichberg im Rhein- gau (9).
1835 wurde nach den Vor- gaben des in Berlin habilitier- ten Psychiaters und künftigen ersten Anstaltsdirektors Hein- rich Damerow (1798–1866) auf dem Gelände eines ehe- maligen Weinberges der Bau der ersten Königlich-Preußi- schen Provinzial-Irrenanstalt im Stil einer „relativ verbun-
denen Heil- und Pflegean- stalt“ begonnen, die 1844 ihre Arbeit aufnahm.
Nüchtern gehaltene, teils giebelständige, zwei- bis drei- stöckige Putzbauten umschlie- ßen einen etwa fußballfeld- großen Innenhof mit Wirt-
schaftsgebäuden. Aus den Schlafsälen konnte der Blick durch Fenster mit Ziergittern in die Saaleauen schweifen. Das System hofseitiger Korridore mit Zugang zu Zellen und Sälen gewährleistete die Überwa- chung der Patienten. Hofseitige Arkadengänge (Communica- tiones) verbanden die Gebäude und gewährten einen gewissen Schutz der Privatsphäre. Ord- nung wurde durch die zentrale Stellung von Wohngebäuden für den Direktor und die Ärzte, die räumliche Trennung nach Standeszugehörigkeit,von Män-
ner- und Frauen-, Heil- und Pflegetrakten sowie Anbauten als Isolierhäuser für Tobsüchti- ge erreicht. Dieses Areal war für die Aufnahme von 300 bis 400 Insassen angelegt.
Damerows Nachfolger Mo- ritz Koeppe (1832–1879) gilt als einer der bedeutendsten deutschen Verfechter der aus England kommenden No- Restrain-Bewegung, die die Ausübung von körperlichen Zwangsmaßnahmen in Thera- pie und Betreuung vermeiden wollte. In dieser Zeit wurde auch begonnen, Patienten zur Arbeit auf den zur Anstalt gehörenden landwirtschaftli- chen Flächen mit Gärten und Äckern heranzuziehen (12, 17).
Die zwischen 1887 und 1894 im Pavillonsystem erbauten, locker um das Kernareal grup- pierten Villen zur Unterbrin- gung weiterer Patienten und Anstaltspersonal sind meist Klinkerbauten.
Unter Berthold Pfeifer (1871–1942) wurde die Anstalt ein Zentrum in der Behand- lung von Patienten mit progres- siver Paralyse und beherbergte 1917 bis 1923 ein Sonderlaza- rett für Hirnverletzte (15, 16).
Unter den Nationalsozialisten wurde die Anstalt 1935 aufge- löst und das Areal der benach- barten, gerade entstandenen Kaserne der Luftwaffe ange- gliedert. Später wurde das Gelände von der Roten Armee weiter genutzt. Anstaltsteile wurden 1994 abgerissen. Der Komplex steht seitdem leer.
Ein Abriss des Kernareals wird auch die zu einem späteren Zeitpunkt erbauten, verblei- benden Gebäude aus ihrem ar- chitektonischen und funktiona- len Zusammenhang reißen und entwerten.Dr. med. Frank Hanisch V A R I A
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A438 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 713. Februar 2004
„Irrenanstalt Nietleben“
Spätklassizistisches Ensemble
Der ehemaligen Königlich-Preußischen Provinzial-Irrenanstalt Halle droht der Abriss.
Feuilleton
Abbildungen:Arbeitskreis Innenstadt e.V.Halle/Saale
Panoramaaufnahme des Kern- areals der Irrenanstalt vom Innenhof. Links befindet sich das Direktorengebäude, Kolon- naden und Arkadengänge ver- binden die einzelnen Gebäude.
(C. Feigl vom 17. 4. 2003)
Historische Darstellung der Provinzial-Irrenanstalt, Mitte des 19. Jahrhunderts
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das im Internet unter www.aerzteblatt.de/
lit0704 abrufbar ist.