FEUILLETON
Veit Stoß, geboren 1445 in Horb am Neckar (?), gestorben 1533 in Nürn- berg, hat mit etwa siebzig Jahren anno 1517/18 im Auftrag von Anton II. Tucher, dem Ersten Losunger der Stadt Nürnberg, den „Englischen Gruß" in der kurzen Zeit von fünf- zehn Monaten fast allein geschnitzt, gefaßt und bemalt. Seine eigenen Kinder lehnten es ab, ihm zu helfen.
Bis 1803 genaue Dokumentation Der „Englische Gruß" ist eine frei im hohen Chor von St. Lorenz in Nürn- berg hängende Skulptur mit der Ver- kündigung des Engels Gabriel an Maria in einem Rosenkranz mit Gott- vater und zahlreichen Engeln.
Die Stifterfamilie von Tucher hat das Werk bis 1803 betreut und mit kauf- männischer Genauigkeit in ihren Büchern dokumentiert, was im ein- zelnen an ihm gemacht wurde. So wurden zum Beispiel das Herunter- lassen der Skulptur anläßlich des Besuches eines Kaisers oder das Herunterlassen zum Abstauben oder zur Beseitigung von Schäden genau registriert.
Über die Maßnahmen der späteren Zeit sind keine Einzelheiten schrift- lich vorhanden. Man weiß nur, daß das Werk im Jahre 1811 vom bayeri- schen Staat heruntergeholt und der königlichen Galerie auf der Nürn- berger Burg einverleibt wurde.
1817: das Hanfseil riß
1815 wurde der „Englische Gruß" an die katholische Frauenkirche gege- ben, konnte aber dort wegen seiner gewaltigen Größe nicht aufgehängt werden und kam 1817 wieder nach
St. Lorenz zurück. Leider waren Ket- te und die Krone zum Aufhängen des verhüllenden Sackes verkauft worden. Man nahm ein Hanfseil zum Hochziehen der Skulptur. Dieses riß alsbald, und das Werk stürzte ab. Es zerbrach in „tausend" Teile. Nach Erholung von dem gewaltigen Schock sammelte man die Trümmer und verwahrte sie in der oberen Sa- kristei von St. Lorenz.
1825: ein Puzzlespiel
Dort lagerten sie, bis 1825 die Brü- der Rotemund unter Leitung von K.
H. Heideloff es unternahmen, einem Puzzlespiel ähnlich, die einzelnen Teile wieder zusammenzusetzen. Es fehlten jedoch zwei Engel und das ikonographisch wichtige Christus- kind mit dem Kreuz auf der Schulter.
Viele Teilstücke mußten ergänzt werden. Die Medaillons wurden auf etwa zwei Zentimeter dicken Holz- platten zusammengesetzt, aufge- leimt und genagelt. Die Rückseiten erhielten je eine Sonne aufgemalt.
1970/71: erneute Restaurierung 1970/71 übernahm es das Bayeri- sche Landesamt für Denkmalspfle- ge, den „Englischen Gruß" von Grund auf zu restaurieren.
Beim Ablösen 1970/71 stellten die Restauratoren im wieder heraus- kommenden alten Zustand zu ihi-er Überraschung fest, daß den, Rück- seiten von Mariens Tod und Mariens Krönung ein Mond bzw. eine Sonne aufgemalt war, die Rückseiten der anderen fünf Medaillons aber nur blauen Himmel mit Goldpapierster- nen zeigten. Die Streifen, an denen sie dem Rosenkranz aufsaßen, hat-
ten nur einen weißen Kreidegrund.
So erfuhr man, daß die Medaillons nicht senkrecht standen, sondern sich der Krümmung des Rosenkran- zes anpaßten. Die Schlange mit dem Apfel war so dick mit Kreidegrund übermalt und mit Schlagmetall be- legt, daß die Schuppung fast völlig verdeckt und die goldgelbe Farbe fast schwarz angelaufen war.
Gegen Ende ihrer Arbeiten kamen die Restauratoren auf den Gedan- ken, den augenblicklichen Zustand durch Röntgenaufnahmen zu doku- mentieren. So trat man an mich her- an mit der Frage, ob ich jemanden wüßte, der das übernehmen würde.
Da ich durch einen schweren Unfall meine Praxis hatte aufgeben müs- sen, hatte ich zwar Zeit, aber keine Apparate mehr.
Technische Ausstattung für die Röntgen-Dokumentation Ich wandte mich an die Firma C. H.
F. Müller und erhielt einen DA 10 und drei Entwicklertanks sowie die entsprechenden Chemikalien. Filme erhielt ich von der Firma Kodak. So stellte auch ich mich für diese Auf- gabe kostenlos zur Verfügung. Von der Firma Siemens erhielt ich für nur acht Tage ein Siremobil 2, ein chir- urgisches Aufnahme- und Durch- leuchtungsgerät, bei dem Röntgen- apparat und Fernsehkamera fest miteinander verbunden und im Raum frei beweglich sind. Dieses Gerät hat den großen Vorteil, die günstigste Einstellung auf dem Mo- nitor bei der Durchleuchtung zu su- chen und dann die Aufnahme zu ma- chen. Hiermit habe ich die Schnitt- fläche am Hals Gabriels als scharfe Linie aufnehmen können. Dieses Gerät ist für Spezialaufnahmen fast unentbehrlich.
Wie aus zartem Tüll
Schon die ersten Aufnahmen begei- sterten die Restauratoren und mich.
Die aus massivem Holz geschnitte- nen Gewänder stellten sich wie aus zartem Tüll gemacht dar. Orginal und Ergänzung lagen direkt neben-
Röntgen-Diagnostik
des „Englischen Grußes"
Dokumentation einer großen Skulptur von Veit Stoß
Johannes Port
3340 Heft 50 vom 13. Dezember 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Ein Nürnberger Arzt
röntgte den „Englischen Gruß"
Viele Kollegen mögen wohl zwi- schen oder nach den Beratungen des diesjährigen Deutschen Ärz- tetages Gelegenheit gefunden haben, den in Nürnberg gehüte- ten Kunstschätzen einen Besuch zu machen. Der „Englische Gruß" von Veit Stoß gehört zu den bekanntesten.
Nur Kenner werden wissen, daß die Skulptur 1811 auf die Burg Nürnberg verbracht wurde, nach- dem man das Vorhängeschloß erbrochen hatte, welches das Kunstwerk sicherte. Sechs Jahre später kehrte das acht mal sechs Meter große, der Marienvereh- rung geweihte Werk auf dem Um- weg über die Frauenkirche an seinen angestammten Platz in der St.-Lorenz-Kirche zurück.
Doch beim Aufhängen riß das Hanfseil, der „Englische Gruß"
stürzte herab und zerbrach be- sonders im unteren Teil in viele Fragmente. Bei der Restaurie- rung im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts verschwanden die Figur des Jesuskindes und zwei der ursprünglich sechs Engelsfi- guren. Anläßlich einer Überprü- fung und Säuberung des Werkes hatte der Nürnberger Arzt Dr.
Johannes Port Gelegenheit, un- ter schwierigsten Umständen ei- ne Röntgenuntersuchung des Kunstwerkes durchzuführen.
„Gottvater
vor dem Röntgenschirm"
„Gottvater vor dem Röntgen- schirm" so berichteten seinerzeit die Tageszeitungen. Gewiß war es eine schwere Arbeit, un- ter schwierigen Bedingungen auf über zweihundert Filmen 48 Quadratmeter unersetzlicher
Schnitzkunst abzubilden. Der Er- folg ist aber über jeden Zweifel erhaben. Durch sein ärztliches Können erlaubte es unser Kolle- ge den Kunstsachverständigen, eine genaue Analyse zu erstellen.
Man weiß heute, welche Teile ori- ginal erhalten, welche ersetzt sind und, ein Vergleich mit Abbil- dungen aus der Zeit vor 1800, auch, was fehlt, so zum Beispiel die große Krone, - an der der schützende und verhüllende Sack gehangen hatte, aus dem das Bildnis nur an Festtagen her- ausgenommen wurde. Dank der technisch hervorragenden Rönt- genbilder kann für spätere Re- staurierungen die Lage eines je- den bei der Reparatur 1817 ein- geschlagenen Nagels bestimmt werden; das Original enthielt kein einziges Metallteil.
Dank der Stadt Nürnberg und dem Kollegen Johannes Port
Die röntgenologisch zart abge- stimmte Wiedergabe der Farb- schichten eröffnet eine ästhe- tisch angenehme neue Dimen- sion der Betrachtung, zeigt die Schnittführung des Meisters und im Vergleich die seiner Epigo- nen, deckt Feinheiten auf, wie den Gebißabdruck der Urmutter Eva im Apfel, den die Schlange zuunterst am Rosenkranz im Maul hält und die man auch bei Fernglasbetrachtung nie erken- nen würde. Dank sei Nürnberg für die Bestellung und Bewah- rung dieser Werke, Dank und An- erkennung dem Arzte, der sich so verdient um das jahrhundertealte Meisterwerk gemacht hat.
Dr. med. H. U. Diethelm, Flensburg
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
Röntgendiagnostik des „Englischen Grußes"
einander und zeigten überraschen- de Unterschiede, auf die ich bei der Besprechung der Bilder eingehen werde. So entschlossen wir uns, alle wesentlichen Teile zu röntgen.
Vorgehen
bei der „Röntgen-Diagnostik"
Die meisten Objekte sind größer als das zur Verfügung stehende Film- format 30/40 cm. Für die Aufnahme des Engels Gabriel und der Maria von der Größe von 2,08 m benötigte ich einen Film von 80/210 cm, den ich aus 14 30/40 Filmen mit Tesafilm zusammenkleben mußte und nach Aufnahme den Tesafilm vor dem Entwickeln sorgfältig wieder entfer- nen
mußte. Als
Kassette verwendete ich nur schwarzes Papier. Ich packte immer drei Filme hintereinander ein und belichtete sie gleichzeitig. So erhielt ich immer gleichzeitig drei Originale. Um so große Objekte rich- tig auszuleuchten, mußte ich einen Fokus-Film-Abstand von 5 Meter wählen. Das bedeutete bei dem klei- nen DA 10 (60 kV, 10 mA) mit den nötigen Pausen eine Aufnahmezeit von über einer Stunde. Von jeder Skulptur wurden, soweit möglich, Aufnahmen in zwei Ebenen ge- macht. Insgesamt wurden es 60 Bilder.Dies war nun das erste Mal, daß ein so großes Werk eingehend mit Rönt- genstrahlen untersucht wurde. Es ist erstaunlich, daß mit so primitiven Mitteln ein so gutes Ergebnis erzielt werden konnte. Röntgenuntersu- chungen an Gemälden kennt man schon seit vielen Jahrzehnten und hat diese Methode zu einer großen Perfektion entwickelt.
Im Rahmen dieses Beitrages und in dessen Fortsetzung im nächsten Heft zeige ich Beispiele von Rönt- genaufnahmen der Skulptur und da- zu zum Vergleich die entsprechen- den Oberflächenansichten.
Anschrift des Verfassers:
Dr. phil. Johannes Port Facharzt für Röntgenologie und Strahlenheilkunde
Berliner Platz 22 8500 Nürnberg
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 50 vom 13. Dezember 1979 3341
Die Schlange mit dem Apfel hat durch den Sturz als unterstes Stück wohl am meisten gelitten. Sie ist in mindestens 36 Teile zerbrochen. Die einzelnen Fraktur- linien sind deutlich zu erkennen. Die Schuppung der Haut ist gut zu sehen.
Verdeckt durch die Lippen ist ihr Raub- tiergebiß auf dem Rö-Bild zu erkennen.
Sie war mit dünnem Schlagmetall über- zogen, das sich fast schwarz verfärbt hatte. Nach Entfernung desselben kam die alte Blattgoldschicht von Veit Stoß heraus. Der rotbackige Apfel zeigt noch den Gebißabdruck von Eva
Röntgendiagnostik des „Englischen Grußes"
Der „Englische Gruß" von Veit Stoß in der St.-Lorenz-Kirche in Nürnberg
Zwei Rosen aus dem Rosenkranz. Links eine Originale mit zwei Ergänzungen, rechts eine völlige Ergänzung. Das Original zeigt auf jedem der Blätter eine sich entfaltende Rosenknospe, rechts fehlen diese Feinheiten völlig
3342 Heft 50 vom 13. Dezember 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Die Anbetung der Heiligen Könige. Niet- fällt sofort das mit Holzdübeln eingesetz- te Ersatzstück des Rahmens auf, ebenso die von oben nach unten verlaufenden Bruchlinien
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
Röntgendiagnostik des „Englischen Grußes"
3344 Heft 50 vom 13. Dezember 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Röntgendiagnostik des „Englischen Grußes"
Die Auferstehung Christi. Die linke Hand mit der Fahnenstange ist noch nicht eingesetzt. Man erkennt wenige Bruchlinien und nur drei kleine Nägel
Christi Himmelfahrt. Auf beiden Bildern erkennt man die gute Durcharbeitung der Maria und der Jünger. Es sind nur wenige feine
Bruchlinien zu erkennen und nur ganz wenige kleine Nägel r>
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 50 vom 13. Dezember 1979
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Mariens Tod. Außer einem Längsriß ist kein Schaden zu erkennen
Krönung der Maria. Hier ist nur eine Bruchlinie zu erkennen. Sonst ist das Bild in Ordnung
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
Röntgendiagnostik des „Englischen Grußes"
3346 Heft 50 vom 13. Dezember 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Der Engel, der Mariens Mantel trägt. Er hat die Finger an der linken Hand verlo- ren. Die Vertiefungen zum Einsetzen der Flügel sind deutlich zu erkennen
Der Engel, der Gabriels Mantel trägt. Hier erkennt man die Einschnitte für die Flü- gel und nur wenige Nägel. Die Finger sind alle erhalten
•Fortsetzung folgt
Röntgendiagnostik des „Englischen Grußes"
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 50 vom 13. Dezember 1979 3347