Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 14⏐⏐3. April 2009 A669
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anchmal ist die Liebe am schönsten, wenn sie nur im Hier und Jetzt existiert, wenn sie los- gelöst ist von allen Verbindlichkeiten der Vergangenheit. Julia und Sebasti- an erleben eine solche Liebe. Nach einem schweren Verkehrsunfall er- hält Julia die Diagnose: Erblindung und retrograde Amnesie. Sie erinnert sich nicht mehr an Sebastian, mit dem sie eine intensive Zeit in Asien verbrachte und der sie nun liebevoll am Krankenbett pflegt. Mit seiner Hilfe verbessert sich ihr Gesund- heitszustand rasant, und Julia und Sebastian wird der Moment, jeder Moment, zu einer reinen Reflexion ihrer Liebe. Doch da gibt es noch ein Problem: Sebastian ist gar nicht Se-bastian. In Julias Leben hat sich ein Betrüger geschlichen, der verzwei- felt versucht, auch seine Vergangen- heit aus seinem Gehirn zu verdrän- gen. Doch man ahnt es schon: Es wird bei dem Versuch bleiben. Die Liebe zweier Menschen in ein zeitlo- ses Sublimat gießen zu wollen, bleibt eine Utopie. Die Vergangenheit lässt sich nicht vertreiben.
Der neue Film von Ole Bornedal („Nachtschicht“) bietet verschiede-
ne Komponenten eines sogenannten Neo-Noir-Films. Eine Frau mit ei- nem Geheimnis. Ein Mann, der die- ser Frau verfällt. Und eine Licht- komposition, bei der eine finstere Parallelwelt durch die Ritzen des Alltags scheint. Doch „Bedingungs- los“ ist mehr als das. Der Film wirft Fragen auf über das Wesen der Lie- be, über die Bedeutung von Erinne- rung für das menschliche Bewusst- sein. In einer Szene zeigt ein Ge- richtsmediziner anhand des Gehirns eines Toten, wo die Liebe beim Menschen verortet ist: an einer Stel- le, wo sich das Begehren und der Wunsch nach Harmonie über- schneiden – „zwei unvereinbare Be- darfsartikel“, erklärt der Pathologe.
„Deshalb ist das Resultat die Hölle.“
Heißt das, die Liebe ist nur ein bio- chemisches Abfallprodukt, elektri- sche Impulse zur falschen Zeit am
falschen Ort? Nicht die Lösung aller Probleme, sondern deren Ursache?
Die retrograde Amnesie ist kein seltener Gast im Thrillergenre, er- möglicht sie doch die scheibchen- weise Aufdeckung eines düsteren Geheimnisses. So liefert „Bedin- gungslos“ eine solide, aber keine erstaunliche Kriminalgeschichte. Er- staunlich ist hingegen, wie Regis- seur Bornedal durch die Art (nur zufällig das englische Wort für
„Kunst“?) seiner Inszenierung neue Bedeutungsebenen öffnet und Poe- sie schafft, wo andere Regisseure die Zuschauer nur mit Schrecken ködern wollen. Selten wurde zum Beispiel ein Autounfall so zärtlich, so bildschön dargestellt. Mithilfe ei- nes großartigen Schnitts erhält der Film nicht nur eine stete, elegante Beschleunigung, sondern es wer- den Erzählstränge in einer einzigen, fließenden Bewegung gegenüberge- stellt und wie selbstverständlich zu einer neuen Realität verwoben. Und Realitätserneuerung erscheint in Bornedals Bestandsaufnahme sei- nes Heimatlandes am Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus als er- strebenswertes Ziel. Denn der Nähr- boden für die Fluchtversuche der Protagonisten ist das dänische Kleinbürgertum, für das der sams- tägliche Familieneinkauf im Super-
markt das Highlight der Woche ist.
Im Ergebnis ist „Bedingungslos“
ein herausragend inszenierter, in poetische Bilder gefasster Krimi über Menschen, die durch die Liebe aus ihrem einförmigen Vorortleben ausbrechen wollen, doch von der bitteren Realität eingeholt werden.
„Bedingungslos“ war der erfolg- reichste dänische Film des Jahres
2007. I
Falk Osterloh
„BEDINGUNGSLOS“
Liebe in den Zeiten der Amnesie
Der dänische Ausnahmeregisseur Ole Bornedal nimmt den Zuschauer in einem Film noir mit auf die poetische Suche nach den Untiefen der Liebe.
In Julias Leben hat sich ein Betrüger geschlichen, der verzweifelt versucht, auch seine Vergangenheit aus seinem Gehirn zu verdrängen.
Foto:Nordisk Film