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Sprache oder Linguistik?

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FORUM

Unter dem Titel „Sprache oder Linguistik?" erschien am 13.6.1981 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ein Leitartikel von Karl Korn, auf den Dieter Wunderlich (Profes- sor für Allgemeine Sprachwissenschaft an der Universität Düsseldorf und von 1978 bis 1980 Erster Vorsitzender der DGfS) in einem offenen Brief geantwortet hat. Die Redak- tion versteht Korns Artikel als Politikum. Einmal geht es um die Frage: wird hier das Bild einer Wissenschaft in Teilen der Öffentlichkeit nachgezeichnet oder wird es erst erzeugt?

Zweitens aber geht es um die realen Folgen, die dieses Bild möglicherweise hat. Korns Artikel paßt in die Landschaft; Damit ist die Kontroverse aktuell, und damit betrifft sie unmittelbar die Ziele der DGfS.

Die Redaktion dankt Herrn Dr. Korn und dem Verlag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung für die Genehmigung zum Abdruck des Artikels.

Karl Korn

Sprache oder Linguistik?

Begriffe und Terminologien der modernen Linguistik wirken auf den Außensei- ter wie eine verschlüsselte hennetische Geheimwissenschaft. Der Eindruck, daß Linguistik reine Theorie, allzu abstrakt und kaum je konkret sei, ist nicht zufal- lig. Linguistik ist 'eine Erscheinung dieses Jahrhunderts und stammt aus dem Geist der Mathematik und der Technik. Die überlieferten Sprachen sind ihr das Material für das geradezu titanische Unternehmen, Sprache „synchronisch", das heißt in bewußter Ausklammerung der historischen Dimension der Einzel- sprachen, zu erfassen, zu durchleuchten, sie mit mathematischen, statistischen und verwandten Methoden zu einem universalen, bis in die letzten Winkel aufge- hellten rational steuerbaren Zeichensystem zu machen.

Dies geschah und geschieht nicht zufallig im Zeitalter der Datenverarbeitung, der Computer und der ersten Großversuche maschineller Übersetzung. Vor al- lem die amerikanische Linguistik hat, indem sie Eskimosprachen und solche bestimmter Indianerstämme segmentierte, oft überraschend neue Aspekte der Welterschließung durch Sprache eröffnet. Linguistik ist nicht geschichtsgläubig.

Ihre Lehrmeister, denen das narrative Element der Sprachen wenig, das argu- mentative dagegen viel gilt, die aus der Sprache die Sinnlichkeit so brutal heraus-

Zeitschrift für Sprachwissenschaft l (J982), 113-115 'Q Vandenhoeck & Ruprecht

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gefiltert haben, daß sie sie jetzt zu entbehren beginnen und nicht wissen, wie si wieder hineinbringen, haben sich das Image der Progressivität gem zulegen las sen. Sic haben, von einer ahnungslosen Öffentlichkeit unbemerkt, Macht gc wonnen. An den meisten Hochschulen hält die Lingustik ein Kartell. Diegesam te Lehrerausbildung liegt in ihren Händen. Im Handbuch der Linguistik (1975, das die Positionen des Fachs in konzentrierter Form darbietet und definien heißt es: „Die heutige Sprachwissenschaft lehnt die normative Grammatik a und arbeitet auf der Grundlage der deskriptiven Linguistik4*. Diese wird al

„wertungsfreie Feststellung tatsächlich beobachteter Sprach Verwendungen" ei klärt. Nur mit einiger Mühe wird der Schulgrammatik zugestanden, daß mär obzwar auf der deskriptiven Linguistik basierend, diese normativ „auslegen müsse oder dürfe, um die Lernenden vor lernstörenden Verwirrungen zu schul zen.

Es ist an der Zeit, auf einige Folgen aufmerksam zu machen, die die Linguist!

mitzuverantvvorten hat, weil sie praktisch das Monopol der Ausbildung de Deutschlehrer aller Stufen besitzt. Rektorenkonferenz, Hochschul- und Philolc gen verband haben erst kürzlich wieder über die Mängel des Sprach vermögen der Abiturienten Klage geführt. Die geradezu heillose Situation der Hauptschi]

le ist darauf zurückzuführen, daß ihr soziale Integration aufgegeben wird, di nicht geleistet werden kann, weil die sprachlichen Voraussetzungen bei der wachsenden Übergewicht der Gastarbeiterkinder in Großstädten nicht gegebe sind. Nicht nur die Rechtsprechung, auch die Gesellschaftspolitik im weiteste Sinne braucht dringend die sichere Sprachbeherrschung nach den Regeln de Grammatik. Im Sprachgebrauch der Medien gerät der sinnvolle und richtig Gebrauch des Konjunktivs ins Schlingern. Wenn der Modus der indirekte Rede nicht mehr gekonnt wird, wenn nach „als ob" der Indikativ grassiert, wen nicht mehr klar zwischen Tatsachenbericht und -behauptung unterschiede wird, wenn Konditionalsätze den Irrealis nicht mehr vom Indikativ zu untei scheiden vermögen, dann leistet Sprache nicht mehr, was doch ihr Sinn ist: di hochgepriesene Kommunikation.

Es wäre töricht, der Linguistik als Wissenschaft das Recht streitig machen z wollen, daß sie fundamentale Begriffe der traditionellen Grammatik wie Nc men, Verbum, Genitiv, Modus und was immer sonst in Frage stellt. Die söge nannte kontrastive Grammatik hat durch Systemvergleiche Außerordentliche für die Erkenntnis der inneren Strukturen der Sprachen geleistet. Es bleibt abe zu fragen, ob solche und verwandte wissenschaftliche Bemühungen als Basis fii die Ausbildung der Deutschlehrer taugen. Die Muttersprachen haben ihre je weils eigene „Logik", die man als ihr spezifisches Weltverständnis ansehen mui Generationen sind in die Sprache und ihr Gefüge hineingewachsen und wachsei in unserer Gegenwart in eine zerfallende Sprachlandschaft hinein. Wenn mai die Deutschlehrer nur mit dem absoluten Zweifel an der Möglichkeit einer noi mativen Grammatik heranbildet, wird allzu leicht versäumt, das Verständnis fu die überlieferte Normativität zu wecken und zu entwickeln. Sprache wird alle

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Karl Korn, Sprache oder Linguistik? \ 15 mal ein geschichtliches Phänomen bleiben. Man wird weder ihre Bildlichkeit oder Metaphorik, die der Wörter, noch ihre „eigensinnige" Logik je abschafTen können. Man sollte es nicht einmal wollen. Die deutsche Worstellung, die Inver- sion, der Tiefsinn unserer großen, alten, hergebrachten, Wörter sind so etwas wie eine Schatzkammer. Solche Einsicht sollte, in der Lehrerausbildung ein Ge- gengewicht gegen die einseitige Mathematisierung und Rationalisierung der sprachlichen Ausbildung sein. Künftigen Deutschlehrern sollte das Regelwerk der Sprache nicht als überalterte Rumpelkammer dargestellt, sondern als ein Bauwerk aus Jahrhunderten durchsichtig gemacht werden, in dem man sich heimisch fühlen kann. Das wäre der Lohn so mancher Mühen und würde den Unterricht in den Schulen motivieren oder sogar zur geistigen Freude werden lassen.

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Dieter Wunderlich Sprache und Linguistik!

Offener Brief an Karl Korn

Sehr geehrter Herr Korn,

Ihr Artikel „Sprache oder Linguistik?" in der FAZ vom 13. Juni 1981 hat mich tief verstört. Sie schreiben im Zorn von einer Wissenschaft, der ich mich zurech- ne, in einer Perspektive, in der ich mich und meine Fachkollegen nicht mehr erkennen kann.

Fast jeder Satz, den Sie schreiben, ist schlimm: falsch oder voll von falschen Voraussetzungen und Unterstellungen, aber vorgetragen in der souveränen Po- se des grand old man. Der ahnungslose Leser, bis hin in die Amtsstuben der Schulbehörden und Ministerien, wird Ihrem Zerrbild Glauben schenken: Nie- der mit der Linguistik, zurück zu unserer Sprache. Ich kann gar nicht glauben, daß Sie die Wirkung Ihres Artikels nicht genau bedacht hätten: Sie schaffen eine Atmosphäre des Mißtrauens, der Abwehr, des Besserwissens.

Erlauben Sie, daß ich einige Ihrer Behauptungen zurechtrücke. „Linguistik"

ist das aus anderen Sprachen übernommene Wort für „Sprachwissenschaft":

Linguistik und Sprachwissenschaft sind dasselbe, so wie Ozeanologie und Mee- reskunde dasselbe sind. Die Sprachwissenschaft ist eine Erscheinung des vorigen Jahrhunderts (nicht, wie Sie sagen, dieses Jahrhunderts) und stammt aus dem Geist der Aufklärung und der Romantik (und nicht: der Mathematik und der Technik). Sie will die Sprache weder abschaffen noch rationalisieren, nicht von ihrer Sinnlichkeit und auch nicht von ihrer Geschichte 'befreien': das alles wären wahnwitzige und aussichtslose Unternehmen. Man denke sich zum Vergleich:

der Meeresforscher wolle die Ozeane abschaffen oder den Golfstrom rationali- sieren, die Meere von ihrem Salz und von den Gezeiten befreien. Solch unsinnige Vorhaben einer, Wissenschaft zu unterstellen, schürt Wissenschaftsfeindlichkeit.

Was will denn nun die Sprachwissenschaft? Um es auf eine beinahe triviale Formel zu bringen: erkennen, „wie die Sprache ist", und aus dieser Erkenntnis Schlüsse ziehen für Probleme., die wir mit der Sprache haben. 'Die Sprache' - das ist die allgemeine menschliche Sprachfahigkeit, das sind die unzähligen sprachli- chen Äußerungen (Gespräche, Texte), das sind die vielen verschiedenen und in einiger Hinsicht jeweils ähnlichen Einzelsprachen oder Ausprägungen von Ein- zelsprachen: Deutsch, Lappisch, Sächsisch, Britisch-Englisch usw. Und jede dieser Sprachen hat - natürlich! - ihre Geschichte.

Wenn Sie, Herr Korn, ein Problem bei der heutigen Konjunktivverwendung

Zeitschrift für Sprachwissenschaft l (1982), 116-118

© Vandenhoeck & Ruprecht

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Dieter Wunderlich, Offener Brief an Karl Korn 117 (in der indirekten Rede, im Konditionalsatz) sehen, so sagt der Sprachwissen- schaftler freilich nicht: „Unsere Sprachlandschaft zerfallt/' (Was zerfällt da eigentlich?). Er fragt sich: Stimmt die Beobachtung? Gibt es Mißverständnisse?

Welche Aufgabe hat der Konjunktiv, um etwas unmißverständlich zu formulie- ren ; was ist seine Bedeutung? Liegt vielleicht ein geschichtlicher Wandel vor, der sich gerade jetzt in einiger Deutlichkeit zeigt? Was machen die deutschen Dialek- te mit dem Konjunktiv? Wie steht es mit dem Konjunktiv in den anderen germa- nischen Sprachen? usw.

Sie klagen über die Mängel des Sprach Vermögens der Abiturienten; und Sie suggerieren, die Linguistik sei daran schuld. Wenn die.Beobachtung denn stimmt (und es nicht bloß die von Generation zu Generation wiederkehrende Klage ist, die neue Generation spräche anders, also mangelhaft), was sind die Ursachen dafür? Liegen sie in den Schulen (bei den Lehrern, Richtlinien, Unter- richtsmaterialien?), in den Medien, in der Motivation oder Intelligenz der Schü- ler?

Und welche Abhilfe bieten Sie an? „Lernt die Regeln der Grammatik!" Da ist einmal zu fragen: wessen oder welche Regeln? Wenn Sprache ein geschichtli- ches, sich veränderndes Phänomen ist, dann auch ihre Regeln. Zum anderen frage ich Sie, ob Sie im Ernst glauben, daß jemand, der Grammatikregeln gelernt hat, allein deshalb schon kompetent, sicher und differenziert zu reden und schreiben vermag. Um es auf eine einfache Formel zu bringen: vom Reden und richtigen Zuhören, vom Schreiben und richtigen Lesen lernt man gut reden und schreiben. Die Kenntnis der Grammatikregeln hilft allenfalls, Problemfalle zu entscheiden - sehen wir einmal von den Fremdsprachen ab.

Sie machen, denke ich, einen doppelten Fehler, Herr Korn: Grammatikregeln betrachten Sie als geschichtslos und unveränderlich; und in fast technokrati- scher Manier unterstellen Sie, daß die Regeln bereits die sinnvolle und angemes- sene Rede oder Schreibe erzeugten.

Ich kann das auch in einem Bild erklären: Sie betrachten die Sprache als ein Bauwerk aus Jahrhunderten (sagen wir: als gotischen Dom mit Renaissancealtä- ren) ; Sprach wissen schaftler betrachten Sprache - in Anlehnung an einen berühm- ten Sprachphilosophen -eher als ein Schiff, das sich auf hoher See in ständigem Umbau befindet, weil Strömungen, Wind und Wetter wechseln.

Ich kann meinen Brief nicht schließen, ohne Sie bei Ihrer stärksten Verdre- hung festzuhalten: „An den meisten Hochschulen hält die Linguistik ein Kar- tell. Die gesamte Lehrerausbildung liegt in ihren Händen." Das Verhältnis von Sprachwissenschaftlern zu Literaturwissenschaftlern (und mancherorts auch Mittelalterwissenschaftlern in der sog. Alten Abteilung) beträgt an den meisten Hochschulen im Fach Deutsch (Germanistik) et wazwischen l: 3 und 2 :3. Wie ist esmöglich,daßdieMinderheitdas„MonopolderAusbildungderDeutschlehreru

(wie Sie es schreiben) besitze? In keiner Studienordnung, Prüfungsordnung oder Richtlinie ist derartiges vorgesehen. Der Trend der Zeit geht eher umgekehrt:

Sprachwissenschaftler-Stellen werden umgewidmet oder gestrichen, Prüfungs-

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Ordnungen und Unterrichtsrichtlinien zugunsten der Literatur und Philologie revidiert. Bald haben wir wieder Zeiten, wo den Schulmeistern eingeredet wird, bei eifriger Füttening der Schüler mit Grammatikregeln und einem Kanon von schöner Literatur erwachse eine in jeder Hinsicht beredte, sprachgewandte und vielseitige Generation von Abiturienten.

Das wäre so ganz in Ihrem Geiste. Ich wünsche mir, daß es tapfere und lebens- kluge Leute gibt, die Ihnen zurufen: So nicht, Herr Korn!

Düsseldorf, 5. Juli 1981 Mit freundlichem Gruß Ihr

gez. Dieter Wunderlich

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In einem Beitrag zur Geschichte der Sprachphilosophie, der in der Festschrift für Helmut Gipper 1979 veröffentlicht wurde, beklagt Eugenio Coseriu ein „dunkles Kapitel in der deutschen Sprachphilosophie'4. Gerold Ungeheuer nimmt sich hier der Streitsache an und rügt die Mittel, die Coseriu zur Verteidigung seiner Klage vorgebracht hat. Er macht darüber hinaus geltend, daß die von Coseriu in Anspruch genommenen Gegenstände, insbesondere Schopenhauers Kapitel 25 („Ueber Sprache und Worte") aus den „Parerga und Paralipomena" für eine Würdigung des Falles unerheblich seien.

Gerold Ungeheuer Coseriu gegen Schopenhauer

Ein Fall für sich

0. „Der Fall Schopenhauer. Ein dunkles Kapitel in der deutschen Sprachphilo- sophie*4, unter diesem Titel publizierte Coseriu in einem kurzen Text (In: Inte- grale Linguistik. Festschrift für Hebnut Gipper. Hrsg. von Edeltraud Bülow und Peter Schnitter. - Amsterdam: John Benjamins 1979. S. 13-19.) - mehr Glosse als Aufsatz -, was er über Schopenhauers Sprachphilosophie zu sagen für notwendig hielt. Sein Urteil über Schopenhauer ist so negativ, wie der Titel es andeutet.

Nach meinem Urteil jedoch behauptet Coseriu Falsches, und nach meiner Einsicht sind Coserius Methoden anfechtbar. In wenigen Zeilen will ich meinen gegensätzlichen Standpunkt begründen.

Dabei beziehe ich mich nur auf den Inhalt von Coserius oben genannten Artikel, wie Coseriu sich selbst auch der Referenzen auf andere Veröffentlichun- gen im wesentlichen enthalten hat. Für Schopenhauer benutze ich die 2. Auflage seiner „sämmtlichen Werke", herausgegeben von J. Frauenstädt, Neue Ausgabe 1891,6 Bände. Briefe Schopenhauers und nachgelassene Schriften lasse ich völ- lig beiseite.

Bevor ich zu den Hauptproblemen komme, wende ich mich kleineren Eigen- heiten des Coseriuschen Textes zu.

7.7. In 1.1. seines Artikels schreibt Coseriu, daß er sich auf „Kapitel 25, „Ueber Sprache und Worte" (§§298-303a), der [...] erst 1851 veröffentlichten Parerga und Paralipomena, d.h. des letzten von ihm [Schopenhauer] veröffentlichten Werkes*' beschränkt.

Diese Werkangabe ist mindestens unvollständig. Das Kap. 25 „Ueber Spra-

Zeitschrift für Sprachwissenschaft 1 (1982), 119-123 Vandenhoeck & Ruprecht

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ehe und Worte" gehört dem 2. Band der „Parerga und Paralipomena" a (Bd.6); die Paragraphen sind §§306-313, nicht die bei Coseriu angegeben«

Wie die Zitierungen Coserius zeigen, muß er als Quelle außerdem die 2. Auflag der Parerga benutzt haben, die Frauenstädt herausgegeben und deren Vorred er im November 1861 unterzeichnet hat; denn z. B. die Sätze über die Goten un die Deutschen (Coseriu, 4.1, S. 18) befinden sich im „Anhang verwandter Ste len" zu Kap. 25, den Frauenstädt (siehe Vorrede) nach Angaben Schopenhauei für die 2. Auflage besorgt hat.

1.2. Coserius Titel setzt eindeutig, daß es um Sprachphilosophie geht. Schon ii ersten Abschnitt aber kommt „Linguistik" hinzu (was sich durch den ganze Artikel hindurchzieht). Dies ist mindestens mißverständlich, da das „dunk Kapitel" ja der Sprachphilosophie angehören soll, und man sich denken kam daß es gute Sprachphilosophen gibt, die keine guten Linguisten sind, und umgi kehrt (wie im Verhältnis von Naturphilosophen und Naturwissenschaftlern Oder meint Coseriu es anders?

1.3. In dem kurzen Text wimmelt es von Werturteilen über Schopenhauer. N i türlich kommt er schlecht weg (wie Heidegger und andere über ihn als Philosc phen geurteilt haben); das gute Gegenstück (keine große Überraschung) i allemal Hegel, „der alles, auch bescheidenere Aufgaben (wie Rezensionen, Rel toratsreden, Abrisse für Gymnasiasten) mit vollem Ernst angeht" (4.1, S. 18 Wenn Schopenhauer sagt, „daß der Mensch die Sprache instinktiv erfunde hat" (Zitat bei Coseriu in 2.2, S. 15), dann, meint Coseriu, „denkt [er] allerdm^

an einen beinahe tierhaften Instinkt, was für Hegel selbstverständlich von von herein ausgeschlossen war" (2.2, S. 15), eine herabwertende Argumentation u übrigen, die Herder schon gegenüber Condillac gebrauchte. Schopenhauer ve tritt auch „ganz bieder" (2.2, S. 14) die schon „in der Romantik und Spätromai tik üblichen Thesen". Er ist ein „Widerspenstiger", dessen Aufzeichnungen vo

„oberflächliche[r] Originalität" und von „ziemlich bescheidenem philosoph sehen Ertrag" (Umstellung von mir, G.U.; 1.1, S. 14) sind.

In Coserius Panoptikum steht der edle und ernste Hegel neben dem schiin men Tunichtgut Schopenhauer, der sich „für dazu berechtigt [hält], sich nicht z informieren und trozdem seine Meinungen zu Fachgebieten vorzubringen" (4.

S. 18). Man muß nur heller ausleuchten, um zu erkennen, daß dies nur Wachsf guren sind.

1.4. In 2.2, S. 15, tritt Schopenhauer, von Coseriu geführt, als „überzeugt«

'Antiidealist' und 'Pessimist'" auf. Pessimist war er, wenn auch nicht der geläi flgen Sorte, sicherlich „ Antihegelianer", wie ihn Coseriu in demselben Abschni bezeichnet. Unerfindlich ist aber, warum er den „Antiidealisten" zugeschlage wird, es sei denn, Coseriu meint, daß alle pessimistischen Antihegelianer auc Antiidealisten sein müssen.

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Gerold Ungeheuer, Coseriu gegen Schopenhauer 121

2, Coseriu behauptet (erster Satz von 1.1, S. 13): „Das Wesentliche der Sprach- theorie und Sprachphilosophie Schopenhauers findet sich in Kapitel 25 [...] der Parerga und Paralipomena [...]." Abschnitt 3.0 beginnt: „Dies ist im wesentli- chen alles, was Schopenhauer zur Sprache im allgemeinen eigentlich zu sagen hat." Diese Behauptungen sind falsch. Zum Beweis ihrer Unrichtigkeit führe ich nachfolgend die sprachphilosophisch einschlägigen Stellen in Schopenhauers Hauptwerk auf.

2.1. Thematisch behandelt Schopenhauer sprachphilosophische Probleme in den folgenden Texten (die Liste ist nicht ganz vollständig, doch enthält sie das zentrale sprachphilosophische Corpus).

(1) „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde":

In diesem frühesten Werk, Schopenhauers verbesserter Dissertation, ist.das 5. Kap. „Ueber die zweite Klasse der Objekte für das Subjekt [...]", darin besonders §28 „Repräsentanten der Begriffe. Die Urtheilkraft." und die vorausgehenden Paragraphen, heranzuziehen. Diese Schrift, die den „Un- terbau" seines „ganzen Systems" (Vorrede) abgegeben hat, zeigt schon den charakteristischen sprachphilosophischen Einschlag von Schopenhauers Erkenntnistheorie.

(2) „Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band.":

Aus diesem Hauptwerk sind die beiden Bücher (1. und 3. Buch) über die Welt als Vorstellung zu beachten, besonders das erste, erkenntnistheoreti- sche Buch, darin herausragend §9 (S.46ff.). Die Prinzipien einer semanti- schen Analyse, von denen die zu S. 58 gehörige, zweiseitige Abbildung aus- geht, kann nicht übergangen werden. Es ist auch hinzuweisen auf die im Anhang „Kritik der Kantischen Philosophie" eingestreuten sprachphiloso- phischen Gedankengänge.

(3) „Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, [...] Ergänzungen [...]".

In diesem Ergänzungsband geht es um Kap. 6, das dem §9 des Hauptwerkes zugeordnet ist. Das kurze Kap. 11 „Zur Rhetorik" ist hinzuzufügen.

(4) „Über den Willen in der Natur":

In diesem kleineren Werk ist ein Stück enthalten, das den Titel „Linguistik"

trägt. Es enthält Beobachtungen und Deutungen tropischen Wortge- brauchs.

(5) „Parerga und Paralipomena. Zweiler Band.":

Dieser Band enthält jenes 25. Kapitel, welches Coseriu als Schopenhauers einzigen sprachphilosophischen Text ansieht. Man müßte aber immerhin

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noch Kap. 2 „Zur Logik und Dialektik'* hinzunehmen, und wohl auch Kap. 23 „Über Schriftsteüerei und Stil" und Kap. 24 „Über Lesen und Bü- cher".

2.2. Von allen sprachphilosophischen Stücken Schopenhauers ist das von Cose- riu behandelte 25. Kapitel der Parerga das am wenigsten bedeutsame; alles, was er dort sagt, hat er anderswo breiter und tiefgründiger ausgeführt. Freilich ist es das einzige Stück, das im Titel „Sprache'* und „Worte" nennt. Sollte Coseriu diesen Tatbestand zum Anlaß genommen haben, den Inhalt jenes 25. Kapitels als die Quintessenz Schopenhauerscher Sprachphilosophie aufzufassen, dann wäre eben der zugrunde gelegte Begriff der Sprachphilosophie zu kritisieren, Explizit hat Schopenhauer nie eine Sprachphilosophie geschrieben; nichtsdesto- weniger sind sprachphilosophische Reflexionen in allen seinen erkenntnistheo- retischen Gedankengängen, d.h. bei der Behandlung des Problems, wie Welt zui Vorstellung gelangt, enthalten. Zu unrecht werden seine Gedanken und auch die Quellenlage verzerrt, wenn man sich auf die harmlosen Sarkasmen des Kapitel«

25 zurückzieht und mit ernster Miene in den Ballon sticht, ohne über sich selbst zu lachen, wenn er platzt.

3. Methodisch stelle ich bei Coseriu drei Verfahren fest, nach denen er die Äuße- rungen Schopenhauers beurteilt. Sie enthalten jeweils ein anderes Argument historischer Betrachtung: das Argument der historischen Reduktion, das Argu- ment des angenommenen Standards und das Argument der Belanglosigkeit Alle drei Argumente jedoch und die zugehörigen Beurteilungsverfahren sind untauglich zur Analyse und Darstellung geschichtlicher Tatsachen.

3.1. Auf Normalform gebracht lautet das Argument der historischen Reduktion etwa folgendermaßen: was A schreibt, hat B vorher schon geschrieben. Dai Argument zielt ab auf mangelnde Originalität. Coseriu führt es an einigen Stel- len vor.

3.2. Das Argument des angenommenen Standards setzt eine Hochform im Ty- pus desjenigen geschichtlichen Sachverhaltes voraus, um den es im Problemfall geht: hier die Sprachphilosophie. Seine Normalform ist etwa: was A schreibt, gehört zum Standard oder gehört nicht zum Standard. Gehört, was A schreibt, zum Standard, dann ist es bloße Wiederholung (siehe 3.1); gehört es indessen nicht zum Standard, dann ist es Dekadenz. Für die Sprachphilosophie nimml Coseriu den Standard „klassische deutsche Sprachphilosophie" an. Ich kann nur vermuten, daß es sich um die Sprachphilosophie Hegels und Schellings han- delt.

3.3. In Fußnote 3 (S. 17) belehrt Coseriu den Leser über die Semantik der Wörtei

„sinnlos",'„falsch" und „belanglos". Die prädikative Verwendung der Ele-

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G er old Ungeheuer, Coseriu gegen Schopenhauer 123 mente dieses Wortfeldes nenne ich abkürzend Argumente der Belanglosigkeit, weil mir die prädikative Funktion von „belanglos" am gefährlichsten erscheint.

„Falsch" ist harmlos, wenn auch Streit darüber entstehen kann; Coseriu nennt das Kriterium der Zutreffendheit. „Sinnlos" nimmt den sinnlos Sprechenden beinahe in Schutz, schließt ihn aber aus der sozialen Gruppe der „Kenner" und

„Wissenden" aus; Kriterium ist die kategoriale Inkommensurabilität zwischen Subjekt und Prädikat. „Belanglos" nun, meint Coseriu, macht aus Behauptun- gen „bloße „Meinungen"", „die entweder allgemein verbreitet sind, oder sich eben [. . .] auf das Feststehende beziehen". Was jedoch „allgemein verbreitet"

ist, und was feststeht, das entscheidet derjenige, der das Argument der Belang- losigkeit einsetzt. Die Belanglosigkeitsbeispiele, die Coseriu aus dem Schopen- hauerschen Text vorführt, sind nun insofern belanglos, als an ihnen nicht deut- lich wird, wie eine generelle Akzeptierung des Belanglosigkeitsarguments wis- senschaftliche Arbeit zu destruieren in der Lage ist (gibt es „belangloseres", a 1s

3.4. Das zu diesen Argumenten gehörige Beurteilungsverfahren folgt dem Schema eines pejorativ schließenden Syllogismus. Sein Obersatz ist immer von der Form : A hat den Text T geschrieben. Als Untersatz wird dann eines der drei Argumente bezüglich A und T hereingenommen. Die Schlußfolgerung lautet dann immer: A ist bezüglich T (der zum Typus „Sprachphilosophie" gehört) pejorativ zu beurteilen.

4. Coseriu hat übersehen, daß es noch eine weitere Bedeutung für „belanglos"

gibt. Ein Text kann dann belanglos genannt werden, wenn er, gleichgültig ob wahr oder falsch oder sinnlos, vernachlässigbar ist. Ich habe keine Bedenken, jenes 25. Kapitel Schopenhauers in diesem Sinne für belanglos, d.h. für die Sprachphilosophie vernachlässigbar zu halten. Dann aber wird auch jede kriti- sche Äußerung dazu überflüssig, eine Kritik als Handlung wird sinnlos. Aus dem 25. Kapitel ist kein „Fall Schopenhauer" zu konstruieren; weder ist jenes Kapitel dunkel noch ist die SprachphilosophieSchopenhauers ein „dunkles Ka- pitel". Schopenhauer ist unfair der Prozeß gemacht worden.

5. Es mag sein, daß Coseriu dem Schopenhauer nur zurückgegeben hat, was dieser viel früher gegen Schelling und Hegel herausschimpfte: „[. . .], weil, mei- nes Erachtens, Fichte, Schelling und Hegel keine Philosophen sind, indem ihnen das erste Erforderniß hiezu, Ernst und Redlichkeit des Forschens, abgeht." (Pa- '- rerga und Paralipomena, 1. Band, 2. Aufl., Anhang zum ersten Stück „Skizze

einer Geschichte der Lehre vom Idealen und Realen").

Eingereicht am 20.7.1981

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