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zweier Grundbegriffe historischen Denkens Sieben Thesen zur Genesis und Geltung Revolution und Mythos

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D I E T R I C H H A R T H

Revolution und Mythos

Sieben Thesen zur Genesis und Geltung zweier Grundbegriffe historischen Denkens

Les mythes modernes sont encore moins compris que les mythes anciens, quoique nous soyons devores par les mythes.

Balzac, La Vieille Fille

i. Der Revolutionsbegriff ist in einem janusköpf igen Sinne zwiefältig, da er auf die alte Welt als seine Heimat zurückblickt und zugleich ans Tor zur Moderne angeschlagen ist.

Von wissenschaftlichen Begriffen darf m a n erwarten, daß sie klar u n d deutlich sind, daß ihre Semantik - u n d das heißt ihr G e b r a u c h in der Rede - nicht mü h s a m ausgegraben b z w . dechiffriert w e r d e n m u ß . In diesem Sinn ist der Revolutionsbegriff kein wissenschaftlicher Begriff.

Ja fast sind wir versucht, ihn gar nicht als einen Begriff, s o n d e r n viel eher als ein F a h n e n w o r t aus dem Arsenal des A k t i o n i s m u s a n z u s e h e n . U n d das heute m e h r d e n n je, da unsere lebendige Vorstellung stark von den Revolutionsbildern eingefärbt ist, die das J a h r 1989 auch zu einem J a h r der M e d i e n r e v o l u t i o n gemacht haben.

Was heißt es aber, w e n n hier b e h a u p t e t w i r d , der Revolutions/?egrz/jf sei »zwiefältig«? H e i ß t es: er ist ­ wie angedeutet ­ antik u n d zugleich m o d e r n ; oder heißt es: im W o r t selbst liege ein zweifacher, o d e r gar widersprüchlicher Sinn?

Betrachten wir zunächst das zuletzt Gesagte. W o r t u n d Begriff sind zu unterscheiden. D a s W o r t hat ­ an u n d f ü r sich, das heißt: isoliert v o m Text ­ n o c h nichts ergriffen, es ist ­ so läßt sich präziser sagen ­ eine rein lexikalische G r ö ß e u n d insofern nichts anderes als ein Eintrag im W ö r t e r b u c h . Schlagen wir daher nach!

Im lateinisch­deutschen W ö r t e r b u c h w i r d das aus der Spätantike stam­

m e n d e W o r t »revolutio« übersetzt mit » U m d r e h u n g « u n d » U m w ä l ­ zung«. Schon hier w e r d e n zwei B e d e u t u n g e n vorgeschlagen, die sich indessen n o c h weiter verzweigen,, n i m m t m a n das Verb »revolvere«

hinzu, von dem das N o m e n »revolutio« abgeleitet ist. D e n n »revol­

vere« bedeutet in unserer Sprache ­ ich wähle n u r einige der im W ö r ­ terbuch eingetragenen Möglichkeiten aus: »zurückrollen«, »wieder­

holen«, »auf etwas z u r ü c k k o m m e n « . Die lateinische Vorsilbe »re­«, die wir aus zahlreichen F r e m d w ö r t e r n k e n n e n , bezeichnet d e m n a c h

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das, was in der W o r t b e d e u t u n g von Re-volution nach rückwärts weist.

Das ist m e r k w ü r d i g , da wir den Begriff ­ nicht das Wort ­ f ü r gewöhn­

lich mit der Vorstellung eines plötzlichen, ja gewaltsamen Vorwärts­

drängens verbinden, mit dem Zerschlagen der alten F o r m e n , Struktu­

ren, O r d n u n g e n , Systeme zugunsten des noch unbestimmten, in der Z u k u n f t utopisch sich abzeichnenden N e u e n .

N u n heißt es im W ö r t e r b u c h , das Wort »revolvere« habe auch die Bedeutung »wiederholen«. Setzen wir das Verb einmal probeweise in substantivierter F o r m an die Stelle des Begriffs, so bedeutet die Fran­

zösische Revolution (und nicht n u r diese) sowohl U m w ä l z u n g als auch Wiederholung. D a m i t haben wir nun aber einen Schlüssel zu jener Zweideutigkeit, die hier behauptet wird. Die Revolution ist dem­

nach nicht n u r als ein U m s t u r z des Alten zu verstehen, sondern auch als die W i e d e r h o l u n g eines Alten. Ja mehr n o c h : Das, was hier Wie­

derholung heißt, scheint ein geheimes Einverständnis mit dem Mythos anzudeuten. Ist dieser doch nichts anderes als die dauernde Wieder­

holung eines Ereignisses in der F o r m eines unter mannigfachen U m ­ ständen m e h r oder weniger gleichbleibenden narrativen Textes oder Bildzusammenhangs.

In dieser Beobachtung ist auch der Schlüssel f ü r die Behauptung ent­

halten, der Begriff der Revolution spiele zugleich auf antike und m o ­ derne Verhältnisse an, er bezeichne den A n b r u c h der geschichtlichen M o d e r n e u n d sei doch zugleich auch ein Zeugnis der naturwüchsigen Tradition. Es ist ja nicht n u r die H e r k u n f t aus dem Lateinischen, die das Wort mit der Tradition verbindet. Es ist auch die Tatsache, daß der Begriffsinhalt ­ selbst n o c h in seiner heutigen Verwendung ­ Vorstel­

lungen gleichsam mitschleppt, die z u m alteuropäischen Erbe gehören.

U m n u r an das Bekannteste zu erinnern: Die Französische Revolution

­ exemplarischer R e f e r e n z p u n k t des m o d e r n e n Revolutionsbegriffs ­ hat auf Schritt u n d Tritt den symbolischen Text der altrömischen Re­

publik zitiert. U n d dennoch w u r d e und wird die Ereigniskette, die mit dem Jahr 1789 begann, als Vollendung jener A u f k l ä r u n g verstanden, die es darauf angelegt hatte, die Gegenwart von der mythischen Prä­

senz des Traditionserbes zu befreien.

D o c h nicht n u r bewahren die G r u n d b e g r i f f e geschichtlichen Denkens die untilgbaren Spuren erinnerter Tradition ­ weshalb sich ihre Gel­

tung am ehesten auf dem U m w e g über das Studium ihrer Genesis erschließt. A u c h die historischen Ereignisse, die sie bezeichnen, kön­

nen in der ungeschichtlichen Einstellung kollektiv geteilter U b e r z e u ­ gungen remythisiert werden, so daß der N a m e nicht mehr nur als

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Index fü r ein historisches D a t u m , sondern als affektiv besetztes Sym­

bol f ü r eine bis in die G e g e n w a r t hineinwirkende U r s p r u n g s h a n d l u n g erscheint. Welche m y t h e n k o n f o r m e n M e r k m a l e eine solche E n t h i s t o ­ risierung historischer Ereignisse aktivieren kann, das hat der französi­

sche Historiker Francois Füret in seinem Buch Penser la Revolution Francaise (1978) beschrieben: »Seit bald z w e i h u n d e r t Jahren [ist] die Französische Revolution i m m e r n o c h ein Heldenlied von den U r ­ sprüngen u n d also ein D i s k u r s über die Identität. Im 19. J a h r h u n d e r t unterscheidet sich diese Geschichte k a u m von dem Ereignis, das sie aufzeichnen soll, da das D r a m a , das 1789 beginnt, sich von einer G e ­ neration zur anderen i m m e r wiederholt, mit den gleichen Einsätzen u n d den gleichen Symbolen; wobei die E r i n n e r u n g unablässig in einen Gegenstand der Verehrung oder des Schreckens verwandelt wird« (Fü­

ret 1980, S. 13 f.). N i c h t von ungefähr b e m ü h t F ü r e t in diesem Text die Begriffe der antiken Tragödientheorie: Die Französische Revolution gehört z u m unverwüstlichen Repertoire der nationalen politischen In­

szenierungen, weil ihre d a u e r n d wiederholte Darstellung wie die Ore- stie des Aischylos den U r s p r u n g s a k t einer neuen O r d n u n g beschwört.

Jede Remythisierung ist, das unterstellt Furets Ä u ß e r u n g , ein A k t der kollektiven Anamnesis, der die wissenschaftliche E n t z a u b e r u n g des Mythengedächtnisses ignoriert.

2. Revolutionen spielen sich nicht nur auf Erden ah, sie spielen auch am Himmel; will sagen: nicht nur in der Praxis, sondern auch in den Köpfen.

1543 veröffentlichte der Mathematiker u n d A s t r o n o m N i k o l a u s K o ­ pernikus eine A b h a n d l u n g mit dem Titel De revolutionihus orbium coelestium. Mit diesem Buch ist der Begriff jenes heliozentrischen Weltbildes v e r k n ü p f t , das zu denken als >kopernikanische Wende< in die entmythologisierte Geschichte des U n i v e r s u m s u n d der Ideen ein­

gegangen ist. Diese Wende ist selbst also wie eine Revolution der Welt­

A n s c h a u u n g zu verstehen, da sie den Glauben an den ptolemäischen G e o z e n t r i s m u s mit rationalen Mitteln u m g e s t ü r z t hat.

228 Jahre nach des K o p e r n i k u s A b h a n d l u n g , 18 Jahre vor der G r o ß e n Revolution ­ im Jahre 1771 ­ , schreibt der französische Philosoph Voltaire in einem Brief: »Ii s'est fait dans les esprits une plus grande revolution qu'au seizieme siecle. Celle de i 6 e m e siecle a ete turbulante, la nötre est tranquille« (Reichardt/Lüsebrink 1988, S. 53). Voltaire ver­

gleicht hier den bewegten kulturellen U m b r u c h in der Zeit der Renais­

sance ­ vermutlich unter Anspielung auf die kopernikanische Wende der R e f o r m a t i o n ­ mit der stillen Revolution in den K ö p f e n der A u f ­

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klärer, die so still nicht war, bedenkt man ihre exuberante Rhetorik. Er n i m m t mit diesen Worten eine Begriffsveränderung vorweg, die es schon seinen aufgeklärten Zeitgenossen ermöglicht hat, v o m Zeitalter Voltaires als dem Zeitalter einer geglückten sittlichen und geistigen Revolution (revolution dans les mceurs et dans l'esprit) zu schwär­

men.

Beide Revolutionsbegriffe, der des Kopernikus u n d der Voltaires, sind auf den ersten Blick inkompatibel. Die Revolutionen am H i m m e l , man hat darunter die U m l a u f b a h n e n der Planeten zu verstehen, sind ja in einem wörtlichen Sinne weit, sehr weit von der geistigen Revolution des 18. J a h r h u n d e r t s entfernt. Betrifft die »Revolution in den Köpfen«

das irdische Dasein, so beschreibt die »Revolution am Himmel« das kosmische Sein. U n d doch m u ß es eine Brücke geben, die von der A s t r o n o m i e des 16. J a h r h u n d e r t s zur Philosophie der A u f k l ä r u n g f ü h r t .

Die K o n s t r u k t i o n dieser Brücke deutet sich bereits in den Spekulatio­

nen an, die in der Astrologie früherer J a h r h u n d e r t e zu finden sind. An diese Tradition k n ü p f t Johannes Kepler an, w e n n er den Potentaten und Feldherrn seiner Zeit, unter ihnen Wallenstein, das H o r o s k o p stellt. D a ist von »stattlichen« und »guten Revolutionen« die Rede, die dem widerfahren, dessen Sterne in günstiger K o n j u n k t i o n sich befin­

den ( G G , S.721). Die >Gewißheit< ihrer Voraussagen gewann diese Astrologie jedoch nicht aus den Spekulationen der Magie, sondern aus der wissenschaftlichen H i m m e l s m a t h e m a t i k , aus der Astronomie. Ir­

dische und kosmische O r d n u n g w u r d e n hier in ein Verhältnis gesetzt, dem die H y p o t h e s e z u g r u n d e lag, die Planetenbewegungen am H i m ­ mel u n d der G a n g der Geschichte auf Erden verhielten sich zueinander wie Bild und Abbild. Was auf Erden geschieht, das liegt nach dieser Ansicht nicht m e h r in Gottes H a n d , sondern ist den mathematischen Gesetzen einer entgötterten Himmelsmechanik unterworfen. Ein neuer, dem theologischen Wahrheitsbegriff widersprechender wissen­

schaftlicher Wahrheitsanspruch trat mit Kopernikus und seinen N a c h ­ folgern auf, und darin liegt der wahre G r u n d f ü r die retrospektive Rede von einer »Revolution des Wissens« zu Beginn der N e u z e i t (Nel­

son 1984, S. 94 ff.). Aus der Perspektive der Wissenschaftsrevolutio­

näre sah das indessen anders aus, da ihnen die irdische Geschichte noch nicht als ein dem subjektiven Wollen unterworfenes Geschehen erschien. »Die Revolutionen des Globus«, soll Galileo Galilei einmal bemerkt haben, »bewirken die Unfälle und Zufälle des Menschenle­

bens« ( G n e w a n k 1973, S. 144).

Es war ein relativ kleiner Schritt, der nun noch vollzogen werden

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m u ß t e , u m den Begriff der Revolution in die Sprache der Politik ein­

f ü h r e n zu k ö n n e n . Bereits im 14. J a h r h u n d e r t finden sich erste Spuren eines solchen Gebrauchs. D o c h erst im 17. J a h r h u n d e r t emanzipiert sich der Begriff von der Sinnbildrede der Astrologie u n d bezeichnet n u n die Veränderungen im politischen System: den Wechsel der H e r r ­ scher, A u f r u h r , Rebellion u n d Bürgerkrieg. Gleichwohl bleibt ihm ein wesentliches M e r k m a l seiner H e r k u n f t aus der A s t r o n o m i e n o c h lange Zeit eingeschrieben. »I have seen in this revolution a circular m o t i o n « , schrieb T h o m a s H o b b e s hellsichtig über die politischen W i r r e n im England des 17. J a h r h u n d e r t s .

Es ist dieses M o m e n t der Wiederholung, das den Revolutionsbegriff an den in Analogie z u m Umlauf der Sterne begriffenen Zirkel einander ablösender u n d wiederkehrender politischer H e r r s c h a f t s f o r m e n k n ü p f t . N o c h sprengen die Revolutionen nicht den Kreislauf von H a r ­ monie u n d D i s h a r m o n i e . Sie bezeichnen vielmehr einen Wandel, der wie ein Karussell auf einer Kreislinie verläuft u n d i m m e r wieder die­

selbe begrenzte Zahl von Stationen passiert.

Erst die selbstbewußte Revolution in den K ö p f e n ­ »la revolution dans les esprits« ­ , die sich im stillen vollzieht, modifiziert die Idee der automatischen Wiederkehr. Das D e n k e n wird in radikaler Weise p r o ­ gnostisch, weil es über das alte Modell der schieren Repetition das neue der W e r t a k k u m u l a t i o n legt. Dieses D e n k e n sagt ­ in den Werken vor allem der französischen A u f k l ä r e r ­ einen U m s t u r z voraus, von dem her gesehen die Geschichte eine offene zukunftsorientierte Rich­

tung erhält. So verblaßt allmählich die alte, von fern noch an einen mythischen W e l t z u s a m m e n h a n g g e m a h n e n d e Analogie von Planeten­

bahn u n d Geschichtsverlauf, u n d »la revolution« wird im Kontext des von der Tradition sich kritisch abstoßenden D e n k e n s z u m » Z u k u n f t s ­ begriff« ( G G , S.721) par excellence.

D o c h hätte die Revolution in den K ö p f e n w o h l o h n e A n s c h a u u n g in der Realität nicht zu dem G e d a n k e n geführt, daß ­ wie D i d e r o t u n d Raynal 1781 in der Histoire des Deux Indes schrieben ­ mit der poli­

tischen Revolution an einem Tag ein neues Zeitalter anbrechen kann (vgl. auch R e i c h a r d t / L ü s e b r i n k 1988, S. 46 ff.). Als Beleg f ü r diese Be­

h a u p t u n g verwiesen sie auf die Amerikanische Revolution. Diese w u r d e damit in den A u g e n der A u f k l ä r e r z u m unanfechtbaren Beweis­

stück im P r o z e ß u m die Frage, wer in der Geschichte siegen w i r d : die Z u k u n f t der Freiheit oder die Despotie der Vergangenheit.

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j. Mythen sind wie Spielmarken in einem Erinnerungsspiel. Sie können

­ hat man sie erst einmal aus ihrer Bindung ans Heilige gelöst ­ mit veränderten Wertzuschreibungen verbunden und in verschiedenen Kontexten eingesetzt werden, ohne daß sie ihr zeit­üh ergreifendes Ge­

präge je ganz verlieren.

D e r Antike w a r die krasse T r e n n u n g zwischen M y t h o s u n d Ge­

schichte, die wir heute f ü r verbindlich halten, u n b e k a n n t . M y t h o s ­ das war auch Geschichte, w e n n er den Gesetzen der Wahrscheinlich­

keit nicht widersprach; und diese legt das religiöse Bewußtsein eher großzügig aus.

Z u den f r ü h e n F o r m e n der M y t h e n r e d e mit politischer Absicht gehö­

ren die Genealogien. Sie geben der mythischen Zeit des immerwähren­

den Einstands eine neue, auf die geschichtliche Zeit der laufenden C h r o n i k bereits vorausdeutende F o r m . Genealogien, das sind zeitmes­

sende S t a m m b ä u m e und dynastische Namenskataloge, die A u s k u n f t über die Personen­ oder Generationenkette geben, in die sich ein ein­

zelner oder eine Familie einreihen möchte, um an der W ü r d e vergan­

gener Taten oder ­ mangelt es an diesen ­ wenigstens an der Würde der D a u e r teilzuhaben. Sie bleiben interessante Zwitter dort, w o die N a m e n s ­ u n d Geschlechterkette zugleich Anteile an Mythologie und Geschichte besitzt.

In dieser Doppeldeutigkeit meldet sich eine F u n k t i o n zu Wort, die auch f ü r die Erklärung späterer Rückgriffe auf Mythologie nützlich sein kann. Markiert doch die Stellung zwischen mythischer und histo­

rischer Zeit eine Epoche, deren A n f a n g das Heroenzeitalter und deren transitorisches E n d e die Gegenwart bildet. Wenn die Genealogie des Spartanerkönigs Leonidas, wie H e r o d o t berichtet, über eine Reihe von Vorläuferkönigen auf Agis, den Sohn des Herakles, z u r ü c k f ü h r t , so verbindet sie nicht n u r Mythologie und Geschichte (Graf 1987, 125).

Sie legitimiert auch den politischen A n s p r u c h des Königs durch die D e d u k t i o n seiner Macht von jener heroischen Gewalt, f ü r die der N a m e des Herakles steht.

Eine wichtige Unterscheidung liegt in der Gegenüberstellung von M y ­ thos einerseits und M y t h o g r a p h i e bzw. Mythologie andererseits.

D e n n den M y t h o g r a p h e n u n d Mythologen, die den einst mündlich tradierten M y t h o s aufgeschrieben, k o m m e n t i e r t und geordnet haben, ist u. a. jene Hierarchie der Götter, D ä m o n e n , H e r o e n und Sterblichen zu verdanken, die bis weit in die N e u z e i t als diesseitiges O r d n u n g s ­ k o n z e p t f ü r machtlegitimierende Zwecke in A n s p r u c h genommen w o r d e n ist (Prinz 1979; Vernant 1980, S. 107).

In der römischen Antike, die das griechische Erbe ausgebeutet und in

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traditionsbildender Weise verwaltet hat, weitet sich die Verwertung der Mythologie fü r politisch­legitimatorische Z w e c k e e n o r m aus. Be­

rühmtestes Beispiel ist die Aeneis des Vergil, ein Epos, das in der N a c h ­ folge der homerischen Gesänge steht u n d z u s a m m e n mit diesen latei­

nische M y t h e n ü b e r l i e f e r u n g e n verarbeitet hat. Vergil schafft in diesem Werk mit literarischen Mitteln einen K u n s t ­ M y t h o s , der im Sinne der Genealogie die Geschichte R o m s auf die Geschichte Trojas bezieht.

D o c h wird hier der U n t e r g a n g Trojas u m g e d e u t e t in den Aufstieg R o m s . In dieser U m k e h r u n g , die in der U m s t e l l u n g von Ilias u n d Odyssee in der Aeneis ihre formale E n t s p r e c h u n g besitzt, zeigt sich bereits eine Besonderheit des literarischen M y t h e n u m g a n g s , die in den späteren E p o c h e n der entmythologisierten E r f a h r u n g verstärkt zu be­

obachten ist. D e n n der Kunstgriff der U m k e h r u n g deutet an, daß die M y t h e n n u n nicht m e h r als geheiligte, der Kritik u n d Bearbeitung entzogene Texte gelten, sondern als Uberlieferungen, die in m a n n i g ­ facher Weise verwertbar sind: Die Mythologie, das N a c h d e n k e n über den M y t h o s , ist an die Stelle seiner rituellen W i e d e r h o l u n g getreten.

Diese Befreiung des Mythentextes aus kultisch­rituellen Bindungen hat in der politischen K u l t u r der römischen Kaiserzeit zu allerlei pseu­

doreligiösen A n w e n d u n g s w e i s e n geführt, unter denen die allegorische vielleicht die bedeutendste war. U n t e r Allegorie verstehen wir die bildliche Darstellung einer Lehre, einer Aussage oder einer N o r m , die sich auch in Begriffen formulieren lassen. »Die Allegorie verwandelt die Erscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild«, notierte G o e t h e 1807, »doch so, daß der Begriff im Bilde i m m e r n o c h begrenzt und vollständig zu halten u n d zu haben« ist ( G o e t h e 1972, 638). Im Unterschied z u r undurchsichtigen Sprache des M y t h o s , die i m m e r et­

was Rätselhaftes und Diffuses bewahrt, ist die Allegorie also leicht aufzuschließen, sobald man nur den ihr z u g r u n d e liegenden, zwischen Bild und Begriff vermittelnden C o d e erkannt hat. Insofern bezeichnet ihr A u f t r e t e n einen A b s t a n d zwischen dem M y t h o s , den sie b e n u t z t , und der propagandistischen oder didaktischen Botschaft, die sie mit seiner Hilfe verbildlicht.

B e r ü h m t f ü r die politische Ästhetisierung der M y t h o l o g i e sind die Reliefs an der Ära Pacis in R o m . Das B i l d p r o g r a m m dieses Friedens­

altars, der auf Geheiß des Kaisers Augustus errichtet w o r d e n ist, zeigt die Allegorien des befriedeten italischen Landes u n d der waffentragen­

den R o m a sowie die G r ü n d u n g s m y t h e n der R o m u s und R e m u l u s säu­

genden Wölfin und der L a n d u n g des Aeneas an Latiums Küste (Schindler 1988, S. 207 ff.). Die M y t h e n v e r w e r t u n g ist, wie die A u f ­

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Zählung andeutet, komplex. U m n u r eine Bildkomposition herauszu­

greifen: F ü r die Darstellung des befriedeten Landes hat der Künstler Tellus benutzt, die lateinische Version der mythischen E r d m u t t e r . Sie sitzt auf einem Felsen in der Mitte des Bildes, Früchte im Schoß u n d zwei nackte Knäblein auf den Knien, zu ihren F ü ß e n Schaf und Rind, an den Seiten flankiert von den weiblichen Allegorien der Land­ und Seewinde, die, von Schwan u n d Drachen getragen, über Quell­ und Meerwasser schweben.

In seiner Gesamtheit ließe sich das Bildprogramm der Ära Pacis wie ein Text lesen, der recht detailliert Macht u n d Legitimität des augustei­

schen R o m verherrlicht, o h n e daß an einer einzigen Stelle der N a m e des Augustus zu fallen hätte. Diese Lesart setzt indessen eine Kenntnis der z u m damaligen Z e i t p u n k t geltenden G r a m m a t i k der Symbolspra­

che voraus, mit der, wie zu vermuten ist, nur wenige Zeitgenossen selbst des Augustus ganz vertraut waren.

A u s dieser Tatsache folgt eine weitere, f ü r das Verständnis der instru­

mentellen M y t h e n v e r w e r t u n g wichtige Einsicht. Mythologische Bild­

p r o g r a m m e mit allegorischem Zweck ­ so fasse ich diese Einsicht zu­

sammen ­ erschöpfen sich nicht in der Decodierung der Botschaft, die sie umschreiben. Sie lassen vielmehr ­ und damit teilen sie eine Eigen­

schaft aller bildlichen Darstellungen ­ mehrere Betrachtungsweisen zu. U n d trotz oder vielleicht sogar wegen dieser Ambiguität eignen sie sich hervorragend z u r Machtrepräsentation in der Öffentlichkeit.

Die zentralen weiblichen Figuren auf der Ära Pacis z. B. sind an ihren A t t r i b u t e n als kriegerische und mütterliche Personifikationen zu er­

kennen. D e r unbefangene Betrachter mag sich, ist er im Bildersehen bewandert, vage an die eine oder andere vergleichbare mythologische Götterdarstellung erinnern. D e n Gesamtsinn aller Bilder aber ­ die Herleitung des auf dem Waffengebrauch beruhenden Friedens und der Macht des Augustus aus der Gründungssage R o m s ­ vermag nur der Eingeweihte genau zu erkennen. D a h e r lassen sich, nach einem Vor­

schlag des Kunsthistorikers Erwin Panofsky, an jeder bildlichen Dar­

stellung der auf die unmittelbare Erscheinung bezogene »Phänomen­

sinn« u n d der auf verborgene Kontexte bezogene »Bedeutungssinn«

unterscheiden (Panofsky 1974, S. 86f.). Diese Unterscheidung n i m m t Rücksicht auf einen im Bild, und das heißt ­ im Rahmen unserer Fragestellung ­ auf einen in der Mythologie latent enthaltenen Reich­

t u m an Bedeutungen, der in der beabsichtigten propagandistischen F u n k t i o n nicht aufgeht, die ihm der politische Gebrauch abver­

langt.

Alle Mythenzitate ­ so läßt sich dieser Gedanke vereinfachen ­ besit­

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zen einen M e h r w e r t an Bedeutung, der ihren bloßen G e b r a u c h s w e r t als Spielmarken innerhalb des machtpolitischen »Mensch-ärgere­

Dich­nicht« überschreitet. Als Zitat im neuen K o n t e x t ü b e r n i m m t das M y t h o l o g e m nicht selten die F u n k t i o n der M e t a p h e r (vgl. auch B u r ­ kert 1981, S. 12). M e t a p h e r n indes lassen sich nicht wie N ü s s e k n a k ­ ken. Sie sind eher dem Regenbogen vergleichbar, der zwei u n b e ­ stimmte, weil mit dem Blick des Betrachters m i t w a n d e r n d e P u n k t e in der Landschaft verbindet / nicht verbindet u n d dessen erhabene Schönheit uns staunen macht. Erhabenheit aber ist das wirksamste M e d i u m öffentlicher Machtrepräsentation.

4. Einschneidende oder gar plötzlich eintretende politische und soziale Veränderungen schaffen Sinndefizite. Nicht selten werden diese durch Rückgriff auf den Fundus der Mythologie ausgeglichen, so daß über dem Neuen das Alte erscheint wie die segnende Hand des Vaters über dem Scheitel des heimgekehrten Sohnes.

M y t h e n w e r d e n erzählt ­ so legt es Piaton in den M u n d des Philoso­

phen und Dichters Kritias ­ , w e n n eine Zeit der N o t u n d des Mangels von einer Zeit der M u ß e abgelöst wird {Kritias, 110 A). D e n n erst nach dem Kampf kann sich das Bewußtsein wieder jener Suche nach dem Vergangenen z u w e n d e n , aus dem es die Zeichen u n d Bilder schöpft, deren es z u r K o n s t r u k t i o n einer geordneten Welt bedarf. In der auf­

geklärten Perspektive des Philosophen ist die M y t h e n r e d e schon Erin­

nerungsrede.

Die Wirklichkeit ist also komplizierter, als es die T h e o r i e der Tabula rasa w a h r h a b e n will. Eine Revolution bricht nicht unversehens wie ein Naturereignis herein u n d macht auch nicht ­ was n u r bornierter M y ­ thenglaube behaupten kann ­ völlig reinen Tisch. Revolutionen w e r ­ den vorbereitet, und was man sich an u n d nach ihrem E n d e erzählt, das bedient sich der Muster u n d Bilder, die zu ihrer Inkubationszeit ge­

hören. Die Französische Revolution hat nicht n u r den Vandalismus, sondern auch das m o d e r n e M u s e u m hervorgebracht (Vovelle 1987, S.

109). Auf dieser G r u n d l a g e gilt es zu differenzieren. D e n n nicht jede nachrevolutionäre Zeit greift auf die ältesten M y t h e n zurück, u m den historischen Augenblick darzustellen oder im­ ersten Anlauf zu deu­

ten.

A u c h hierfür sind die Revolutionen des 18. J a h r h u n d e r t s lehrreiche Beispiele. Fabre d'Eglantines »Revolution« des Kalenders in F r a n k ­ reich v o m O k t o b e r 1793 wollte einen absoluten neu­zeitlichen A n f a n g im Sinne der Tabula­rasa­Theorie setzen u n d zählte in b e w u ß t e r G e ­ genstellung z u m Sonnenumlauf (zur traditionellen »Revolution«!) der

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Erde die Wochen nach D e k a d e n( 1 2 X 3 0 Tage im Jahr). Die fehlenden fünf Tage w u r d e n als Feiertage ­ die sog. »Sansculottiden« ­ z u m Jahr hinzugefügt. Dieser Versuch, der Geschichtszeit einen neuen genealo­

gischen U r s p r u n g zu geben, ein Versuch, der sich übrigens des Latei­

nischen z u r Bezeichnung der Wochentage bediente, m u ß t e scheitern.

D e n n er widersprach dem kosmopolitischen A n s p r u c h der revolutio­

nären Ideen.

Weitaus wirksamer im Sinne der revolutionären Ideenpolitik war je­

doch der A n s c h l u ß der Revolutionsfeste an ein mythologisches Bild­

p r o g r a m m , dessen Quelle in der Renaissancemalerei zu suchen ist und bis auf die Zeit des Augustus zurückverweist. Antoine Carons (1521­1599) Gemälde »Augustus und die Sibylle von Timur«, ein Werk, das dem emblematischen C o n c e t t i s m o und der Malerschule von Fontainebleau nahesteht, zeigt in der Manier eines Bilderrätsels Sze­

nen aus der Legendentradition u m den römischen Kaiser. Die Legende erzählt u. a., daß in R o m z u m Z e i t p u n k t von Christi G e b u r t die Ära Pacis u n d die d o r t aufgestellte Säule des R o m u l u s einstürzten, w o r a u f ­ hin sich A u g u s t u s dem neuen Weltherrscher in Frömmigkeit gebeugt habe. C a r o n hat das Bild f ü r Heinrich III., den letzten König aus dem H a u s e Valois, gemalt u n d die dargestellten Figuren, Symbol­, Schrift­

und A r c h i t e k t u r ­ E l e m e n t e so angeordnet, daß der königliche Betrach­

ter vor dem Bild in der genealogischen Abfolge des f r o m m e n Augustus zu sich selbst k o m m e n konnte.

A u s dieser Darstellung der Pietas Augusti, der erhabenen F r ö m m i g ­ keit des Herrschers, zitiert etwa 200 Jahre später der Revolutionsmaler Jacques­Louis David, u n d z w a r in seinen Allegorie­ und Architektur­

e n t w ü r f e n f ü r die am 10. August 1793 zu feiernde »Fete de l'Unite et de lTndivisibilite de la Republique«. Auf der Ebene des P h ä n o m e n ­ sinns gibt es zahlreiche U b e r e i n s t i m m u n g e n , die zeigen, daß Davids Revolutionsdenkmäler die Vorlage bis in Einzelheiten kopierten.

Einen gemeinsamen, dem Bedeutungssinn angehörigen H i n t e r g r u n d beider so weit auseinanderliegender Projekte bildet die neuplatonische Lichtmetaphysik. In C a r o n s Gemälde im Bild des »sol invictus« als Zeichen f ü r Christi Macht, in Davids Festarrangement als die über der Personifikation der N a t u r , dem >Brunnen der Erneuerung<, aufge­

hende Sonne dargestellt.

»Die [ . . . ] unverändert neuplatonisch fundierten Mythologien der Re­

volution fanden einen Gebrauch, der [ . . . ] an die Herrschertheatralik der Könige a n k n ü p f t e u n d versuchte sie u m z u d e u t e n « , bemerkt Ger­

hart von Graevenitz, der diesen Z u s a m m e n h a n g in seinem lesenswer­

ten Buch über den M y t h o s als D e n k g e w o h n h e i t untersucht (1987,

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S. 166). Fragen wir nach der Art der U m d e u t u n g s v e r s u c h e , so zeigt uns Graevenitz, daß sie in ähnlichen U m k e h r v e r f a h r e n bestehen, wie oben bereits an Vergils Aeneis beobachtet. D e r H ö h e p u n k t des R e v o ­ lutionsfestes v o m 10. August 1793 war der S c h w u r auf die neue Ver­

fassung am Autel de la Patrie (Ära Patriae), am Altar des Vaterlandes, auf dem Marsfeld. H i e r hatte jedoch schon L u d w i g XVI., eingerahmt v o m P o m p eines christlichen Herrscher­Rituals, den Eid auf die Ver­

fassung abgelegt, so daß David, u m die Republik aus dem Bildgedächt­

nis der M o n a r c h i e zu befreien, an eine öffentlich wirksame K o r r e k t u r denken m u ß t e . Er fand diese in der U m k e h r u n g der auf C a r o n s G e ­ mälde dargestellten Legende: Auf dem Altar des Vaterlandes reno­

vierte David die einst d u r c h Christi Erscheinen im Tempel der r ö m i ­ schen Ära Pacis gestürzte Romulussäule, gekrönt von der roten M ü t z e und den Farben der Revolution.

Vielleicht erscheint n i r g e n d w o anders die Zweideutigkeit der Revolu­

tion als Inversion von Altem u n d N e u e m in so drastischer Weise wie in Davids E n t w ü r f e n und Bildern. U m s t u r z u n d W i e d e r b e l e b u n g gingen hier H a n d in H a n d , u n d das war w o h l auch der Sinn der von einem Zeit­ u n d Z u n f t g e n o s s e n Davids ausgegebenen Parole: »Die Lichtfak­

kel der Antike wieder anstecken« (Starobinski o.J., S. 80).

Die Rechtfertigung der Revolution u n d ihres Ü b e r g a n g s in einen Ver­

fassungsstaat war jedoch d u r c h solche O p e r a t i o n e n auf symbolischem Feld allein nicht zu leisten. Insofern sind Zweifel gegenüber der legi­

timatorischen Verwertung der M y t h o l o g i e in diesem Fall angebracht.

D e r menschenvertilgende G a n g der Revolution w a r d a d u r c h jedenfalls nicht zu stoppen. D a z u b e d u r f t e es erst eines Rückfalls in die H e r r ­ schaft des einzelnen, der sich ­ wie ja b e k a n n t ist ­ in exzessiver Weise des alten H e r r s c h e r ­ M y t h o l o g e m s bediente, das von den Artisten der Revolution wie ein abgetragener R o c k gewendet u n d prächtig heraus­

geputzt w o r d e n war.

Auch die andere, die amerikanische Republik hatte v o m Licht der Antike geborgt. Es wäre lohnend, einmal zu vergleichen, welche Rolle die römische D i c h t u n g f ü r die amerikanische wie f ü r die französische Revolution gespielt hat. H a n n a h A r e n d t benennt die Aeneis, daneben aber auch den Pentateuch als die F u n d s t ä t t e n f ü r jene G r ü n d u n g s l e ­ genden, deren die Revolutionäre b e d u r f t e n , u m in der N e u e n Welt einen neuen A n f a n g machen zu k ö n n e n (Arendt 1979, S. 197). D e n revolutionären Ü b e r g a n g von der britischen Ungerechtigkeit z u r ame­

rikanischen Freiheit in den Bildern des Exodus aus der ägyptischen Knechtschaft in das G e l o b t e Land Kanaan zu deuten, erfüllt auf den ersten Blick freilich den Tatbestand der Hochstapelei. Verständlicher

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wird die Aktivierung dieses Musters fü r die Interpretation der ameri­

kanischen Revolution, w e n n der E x o d u s aus Ä g y p t e n als Metapher f ü r den A u s z u g der Kolonisten aus dem Ancien Regime Europas gelesen wird. Von Bedeutung f ü r die Adaptationsfähigkeit der biblischen Ge­

schichte ist, daß ein neuer Bund am Sinai die Ü b e r w i n d u n g der Knechtschaft gekrönt hat, ein Bund, dem kein D e s p o t vorsaß, sondern an dem »das Volk« partizipierte. Die Stationen, die der M y t h o s erzählt

­ A u s z u g aus der Despotie, A n k u n f t im Gelobten Land, Kampf in der Wüste u n d Politik des N e u e n Bundes liefern geradezu ein H a n d ­ lungsmodell f ü r den Ablauf revolutionärer Prozesse.

Michael Walzers Studie Exodus and Revolution (1985) hat uns die

A u g e n f ü r die universelle A n w e n d b a r k e i t dieses altbiblischen M y t h o s auf die Revolutionsgeschichten der westlichen Gesellschaften geöff­

net. D a h e r gibt es zu denken, w e n n im Revolutionsjahr 1989 die Cover Story des amerikanischen Wochenmagazins Time (25.9. 89, p. 15) die Flucht aus der D D R wie selbstverständlich als Exodus aus der Knecht­

schaft in eine neue Freiheit beschreibt. D e n k e n wir diese Redeweise in den Begriffen Michael Walzers zu Ende, so hätte auch dieser Exodus zu einer revolutionären Politik mit dem Ziel eines neuen Bundes, nämlich eines neuen Bündnisses der politischen u n d gesellschaftlichen Kräfte am Zielort f ü h r e n müssen. A n diesem Fall zeigt sich indessen noch einmal, daß sich die alte M y t h e n r e d e n u r um den Preis ihrer Inversion aktualisieren läßt. D e n n die als eine Folge der Massenflucht in den Städten der D D R eingetretene revolutionäre Situation verlangte ­ in genauer U m k e h r u n g des M y t h o s ­ nach einem neuen Gesellschafts­

vertrag an dem O r t , von dem der E x o d u s seinen Ausgang nahm.

j. Nicht nur Revolutionen, auch Mythen sind zweideutig. Und das in einem durchaus zweifelhaften Sinn. Als Urszene einer bannenden Macht, die von Göttern oder gottähnlich sich dünkenden Menschen ausgeht, verschleiert der Mythos jene revolutionäre Kraft kritischen Denkens, die sich vorgenommen hat, eben diese Macht zu entzaubern.

Als symbolische Urschrift einer vortheoretischen Einheit von Mensch und Natur erinnert aber der Mythos im Bilde an das, was die Revolu­

tionen des Fortschritts zerstört haben.

Das Alter des Begriffs »Mythos« reicht weit z u r ü c k hinter das des Revolutionsbegriffs. Lebten wir in einer v o r m o d e r n e n Zeit, so wäre schon das Alter allein ein hinreichender G r u n d , dem ersteren m e h r Geltung als dem letzteren zuzugestehen. D o c h die Geltungsfrage auf theoretischer Ebene ist ganz anders gelagert. Ich frage hier ja nicht nach der lebensweltlichen Normativität der Begriffe, sondern nach

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ihrer Leistung im Kontext historischer Erkenntnis. D a die Begriffe selbst aber historische sind, so ist der Interpret g e z w u n g e n , ihre Gel­

tung an den Prämissen zu messen, die als theoretische R a h m e n b e d i n ­ gungen über ihren jeweiligen G e b r a u c h entscheiden. A n dieser Stelle ist das jedoch n u r andeutungsweise möglich.

In der Bedeutungsgeschichte des M y t h o s b e g r i f f s taucht i m m e r wieder eine D e n k f i g u r auf, die den Ü b e r g a n g v o m m y t h i s c h e n z u m entzau­

berten Weltbild, v o m vortheoretischen z u m theoretischen Bewußtsein

­ mit den Worten eines oft zitierten Buchtitels: Vom Mythos zum Logos (Nestle 1975) ­ behauptet u n d diesen Ü b e r g a n g als epochale K u l t u r w e n d e interpretiert. Mit den W o r t e n Ernst Cassirers: »Wie nach dem griechischen M y t h o s ein Biß in den Apfel der Proserpina die Seelen f ü r i m m e r dem Reich der Schatten verstrickt u n d ihnen die R ü c k k e h r z u m Licht des Tages v e r w e h r t ­ so scheint u m g e k e h r t der A n b r u c h des Tages, der A n b r u c h des wachen theoretischen B e w u ß t ­ seins u n d der theoretischen W a h r n e h m u n g , keinen R ü c k w e g m e h r in die Welt der mythischen Schattenbilder zu verstatten« (Cassirer 1972, S.91). Dieses Gleichnis ist ein schönes Beispiel f ü r die Beständigkeit dessen, was in ihm verabschiedet w e r d e n soll. D e r Apfel v o m Baum der Erkenntnis u n d der Apfel v o m B a u m des Todes bleibt d o c h i m m e r Apfel, u n d in diesem gemeinsamen D r i t t e n sind E r k e n n t n i s u n d M y ­ thos über ein Sinnbild vermittelt.

D e n n die M y t h e n sind, d a r ü b e r hat uns nicht zuletzt die Ethnologie belehrt, nicht völlig blind. N u r läßt sich das, was sie an Wissen u n d Erkenntnis enthalten, nicht in logisch sauber getrennten Kategorienfä­

chern unterbringen. Cassirers Gleichnis macht auf listige Weise be­

w u ß t , daß der Entgegensetzung von M y t h o s u n d T h e o r i e eine E r f a h ­ rung vorausliegt, die den Beginn des D e n k e n s in einer von mythischen A n s c h a u u n g e n gereinigten Erkenntnissphäre als Illusion enthüllt. Das D e n k e n in Bildern, das unsere unmittelbaren E r f a h r u n g e n d u r c h ­ dringt u n d das die ästhetischen Künste als ihre hauseigene D o m ä n e betrachten, schließt die mythische A n s c h a u u n g s f o r m ein u n d hält hartnäckig den Platz besetzt, an dem die theoretisch eingestellte Re­

flexion mit viel M ü h e beginnt, zwischen Begriffen u n d Bildern zu unterscheiden.

Es ist daher, w e n d e n wir das Gesagte auf die hier vorgetragenen T h e ­ sen an, sinnvoll, auf theoretischer E b e n e zwischen mythischen Bildern und mythischer A n s c h a u u n g zu unterscheiden. So enthalten z . B . die Texte des Exodus, der Odyssee, der Aeneis symbolische K o n n o t a t i o ­ nen, die i m m e r wieder u n d ­ so scheint es ­ in variierenden histori­

schen Situationen u n d f ü r unterschiedliche Zwecke reaktiviert w e r d e n

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können. Auf diese Weise entstanden mythische, d. h. erzählte Sinnbil­

der kollektiver u n d individueller Lebenszyklen, die ­ eingespannt zwi­

schen A u f b r u c h und A n k u n f t ­ diese Mythentexte als Gleichnisse für den Weg der heimkehrenden Seele, den Weg einer revolutionären Ge­

sellschaft, den Weg des modernen Ich oder f ü r den philosophischen Weg des zu sich selbst k o m m e n d e n Geistes lesbar gemacht hat. Ich nenne diese Uberlieferungen M y t h o l o g o u m e n a (vgl. auch Panikkar 1990, S. 129f.); auf Deutsch: Mythen­Erzählungen ­ eigentlich ein Pleonasmus, da das griechische Wort »mythos« schon soviel wie »Sage«

und »Erzählung« bedeutet, aber eben doch ein solches Erzählen meint, das einer anderen Logik von R a u m und Zeit, von Denken und Sein folgt, als sie beispielsweise dem R o m a n , jenem Epos der bürgerlichen Neuzeit, oder dem modernen Geschichtsbuch zugrunde liegt.

Von den M y t h o l o g o u m e n a ist die mythische Anschauung unterschie­

den wie die Intuition vom ausgeführten Werk. Mythische Anschauung, das ist totalisierende Intuition, und diese ist trennfaul. Sie liebt den Z u s a m m e n h a n g zwischen dem, was die Logik trennen muß, zwischen Zeichen und Bild, zwischen Glaube und Wissen, zwischen Magie und Empirie, zwischen Menschen und Göttern. In der modernen, von Ra­

tionalität beherrschten und daher auf Trennungen bedachten Welt wird diese Vereinigungskraft der mythischen Anschauung ­ wie mir scheint:

auf ideologisch verzerrte Weise ­ gerade wiederentdeckt. Darin liegt eine Gefahr, da im einseitigen Streben nach Einheit, das die Alterität dogmatisch ausschließt, stets ein M o m e n t des Totalitären zur Geltung k o m m t . Vielleicht war die ältere mythische Anschauung wirklich offe­

ner f ü r die heterogensten Erscheinungen, begreift man als ihren ange­

stammten O r t das Pantheon, an dem ausnahmslos alle Götter zusam­

mentrafen (Blumenberg 1979, S. 264).

N i c h t wenige Revolutionsgruppen der modernen Geschichte ­ seien sie im linken oder im rechten Spektrum angesiedelt ­ haben sich in bestimmten Phasen ihres revolutionären Kampfes gerade des ideolo­

gisch verzerrten Vereinigungsmodus in der mythischen Anschauung bedient, um die revolutionäre Lehre mit überhistorischer Macht aus­

zustatten. Sorels Mythos vom Generalstreik und die faschistischen Mytheninszenierungen sind Beispiele f ü r die narkotisierenden Gefah­

ren der mythischen Anschauung, wird n u r die totalisierende Tendenz zum Gegenstand entsprechender Verstärkungsmanipulationen ge­

macht. Die Vereinigung zielt hier auf die Indifferenz von Einzelnem und Masse. U n d die so bewußt aktivierte mythische Anschauung greift, urn an die angeblich naturwüchsige und durchaus blutige ge­

meinsame U r m u t t e r zu erinnern, nicht selten auf die Bilder unvorher­

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sehbarer, menschlichem Eingriff entzogener N a t u r k a t a s t r o p h e n zu­ rück: die Revolution als Vulkanausbruch, als Gewitter, als Erdbeben, als D a m m b r u c h , Feuersturm usf. Die Beispiele f ü r die K o n s t a n z dieses naturmythischen Schemas reichen von den Jakobinern über Engels bis C h e Guevara (Lasky 1989, S. m ff.). O d e r sie bedient sich des m o ­ dernen M y t h o s des militärisch­technischen U h r w e r k s , das Mensch und Apparat auf einen mechanischen N e n n e r reduziert u n d das Sub­

jekt durch das System ersetzt.

Die modernen, von der mythischen A n s c h a u u n g produzierten M y ­ then haben jedoch ­ u n d das unterscheidet sie v o m Weltbild der alten Mythen ­ ideologisch exklusive Funktionen. Gerade ihre p s e u d o m y ­ thische Eigenart macht sie besonders brauchbar f ü r revolutionäre Be­

wegungen. D e n n als »Mythen« sind Ideologien scheinbar gefeit gegen Kritik, o b w o h l diese G r e n z e in der Regel nur auf einem Kritikverbot beruht, das die machthabende Fraktion durchsetzt und überwacht.

Der Historiker Füret hat einen solchen ideologiebesetzten Pseudo­

M y t h o s im A n s p r u c h der Jakobiner aufgedeckt, mit der Einheit des französischen »Volkes« zu denken, zu fühlen u n d zu handeln. In Wahrheit war das eine Fiktion, der C l u b »stellte« das Volk nur »dar«, mit Robespierre ­ wie Füret bemerkt ­ als »endgültige[r] Verkörpe­

rung dieser mythischen Identität« an der Spitze. Robespierre selbst verbrämte demnach die Diktatur des Schreckens, die er faktisch aus­

übte, mit einem Diskurs der Volksherrschaft, der die fehlende Legali­

tät der Revolution durch die Beschwörung ihrer Legitimität zu erset­

zen suchte (Füret 1980, S. 90 f.).

Es ist nun interessant, daß Füret mit dem 9. T h e r m i d o r , das ist das D a t u m von Robespierres Sturz, das E n d e der Revolution verbindet.

D e n n sie tritt mit dem Z u s a m m e n b r u c h der Suche nach einer dauer­

haften Identität von Macht und Volk, die sich mythischer b z w . imagi­

närer Repräsentationsformen bedient u n d mit deren Hilfe die revolu­

tionäre Ideologie weiterentwickelt, in das Stadium der K o n k u r r e n z gesellschaftlicher Interessen. Man könnte auch so sagen: Die heroische Phase der Revolution, deren blutigen H ö h e p u n k t die Diktatur Robes­

pierres darstellt, da sie mit dem terreur sich ein göttliches Recht über Leben und Tod anmaßt, ist beendet. U n d das Bündnis von Macht u n d Ideologie, in Furets Worten: die »Dialektik der Macht und des Imagi­

nären«, zerbricht zugunsten einer bourgeoisen Geld­ und Interes­

senpolitik. Ziel der damit verbundenen Entmythologisierung der Re­

volution ist die Wiederherstellung des Königtums in modernisierter Gestalt, in Verbindung mit einer reformierten, funktionelle Struk­

turprinzipien aufbietenden Bürokratie.

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Es geht mir nicht u m die historische Stichhaltigkeit von Furets A u s­ sagen. Interessant erscheint mir vielmehr die Rolle dessen, was der H i s t o r i k e r »mythisch«, »symbolisch«, »ideologisch«, »imaginär«

n e n n t oder auch mit dem Begriff des »Diskurses« umschreibt. Er be­

zeichnet damit F o r m e n der K o m m u n i k a t i o n , die sich verschiedener Medien bedienen, u n d o f f e n b a r f ü r die Interpretation des Ablaufs der Revolution genauso wichtig wie die politischen Ereignisse selbst, w e n n nicht sogar wichtiger sind. In aller K ü r z e lassen sich Furets Thesen, die sich auf Vorarbeiten eines anderen Forschers (Augustin C o c h i n ) stützen, wie folgt zusammenfassen: Seit Mitte des 18. Jahr­

h u n d e r t s entwickeln die Societes de pensee in Frankreich ­ das sind philosophische Gesellschaften, G e h e i m b ü n d e , Freimaurerlogen ­ die Idee einer »reinen« D e m o k r a t i e , eine Idee, die schließlich Gemeingut der Jakobiner wird u n d mit diesen die F o r m einer politischen Partei a n n i m m t . Ein Kult des Gesellschaftlichen mit den Zügen einer Ersatz­

religion entsteht z u s a m m e n mit der Theorie der »reinen« D e m o k r a t i e u n d macht die jakobinischen A k t e u r e w ä h r e n d der Revolution zu Ge­

fangenen ihrer eigenen mythischen Vorstellungen. D e n n sie versuchen nun, die Idee der »reinen« D e m o k r a t i e mit Gewalt auf Staat und Ge­

sellschaft auszudehnen, da diese Idee in ihren K ö p f e n bereits die Dif­

ferenz zwischen ihrer Partei u n d diesen Institutionen ausgelöscht hat (Füret 1980, S. 197ff.).

Was auf der Ebene der Ideologie als falsches Bewußtsein erscheint, das inszenierten die Subjekte desselben in ihren öffentlichen Aktionen mit den Mitteln kollektiv w i r k e n d e r Bild­ u n d Symbolarsenale (les imagi- naires: Baczko 1984). Es geht in diesem Z u s a m m e n h a n g nicht nur d a r u m , n o c h einmal anhand eines p r o m i n e n t e n Beispiels auf die tota­

litäre Tendenz der mythischen, die Vereinigung von Idee und Wirk­

lichkeit erzwingenden A n s c h a u u n g hinzuweisen. Es geht vielmehr auch u m die Paradoxie, daß eine philosophische Bewegung, die mit den Mitteln kritischen D e n k e n s u n d der begrifflichen Rede politische M y t h e n entzaubern wollte, an einem bestimmten P u n k t ihres Weges hinter ihre Zielvorstellungen zurückfiel, ja sich nicht einmal gegen das Umschlagen in neue M y t h e n b i l d u n g e n mit den Mitteln jener Vernunft zu schützen vermochte, in deren Zeichen sie das Geschäft der E m a n ­ zipation begonnen hatte.

Marx hat der Möglichkeit einer historisch sinnvollen Remythisierung zwar in den Grundrissen von 1857 mit der rhetorischen Frage wider­

sprochen: »Wo bleibt Vulkan gegen Roberts & Co., Jupiter gegen den Blitzableiter u n d H e r m e s gegen den Credit mobilier?« (Marx o.J., S. 30). Aber, so m ö c h t e ich zurückfragen, kehren nicht die alten G ö t ­ 24

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ter in entpersönlichter F o r m z u r ü c k , w e n n derselbe M a r x die »Revo­

lutionäre« einer neuen Zeit als » D a m p f « u n d »Elektrizität« beim N a ­ men r u f t ( G r i e w a n k 1973, S. 218)?

6. »Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte«, sagt Marx.

Diese Lokomotiven werden, sobald sich die poetische Einbildungskraft ihrer bemächtigt, mit mytho­logischem Brennstoff geheizt. Und sie fahren dann nicht selten im Gleis des ironisch gebrochenen Mythen­

kommentars.

Wenn alte und neue M y t h e n , wie wir gehört haben, nach d e m Kampf erzählt werden, so darf die Einbildungskraft der Dichter nach der Revolution fröhliche U r s t ä n d feiern. D o c h o b die L o k o m o t i v e n dann in jedem Fall im Bahnhof der Befreiung a n k o m m e n , das steht dahin.

Revolutionen k ö n n e n bekanntlich scheitern, u n d das in den A u g e n der Dichter sogar dann, w e n n der Praktiker sie f ü r gelungen hält. D o c h ich halte mich nicht bei der poetischen Kritik der Revolution auf, s o n d e r n untersuche in aller K ü r z e anhand von zwei Beispielen aus der d r a m a ­ tischen Literatur unseres J a h r h u n d e r t s , welche Rolle M y t h o l o g o u ­ mena in der ästhetischen Darstellung unmittelbar vergangener Revo­

lutionsprozesse spielen k ö n n e n .

Eine V o r b e m e r k u n g scheint mir indes v o n n ö t e n , die anzeigt, welcher kategoriale Unterschied zwischen M y t h e n in ideologischer u n d in äs­

thetischer Perspektive besteht. In den nachaufklärerischen Zeitaltern tritt, was vor allem die letzte These zu erläutern suchte, die mythische A n s c h a u u n g arbeitsteilig neben die theoretische, die ideologische, die ästhetische A n s c h a u u n g . Ihr alter Universalitätsanspruch ist gebro­

chen, und die M y t h e n , die sie unter dieser Bedingung hervorbringt, werden w i e d e r u m verwertbar als Symbole f ü r ideologische u n d ästhe­

tische Zwecke, u n d darüber hinaus w e r d e n sie ­ was nicht gering zu veranschlagen ist ­ kritikwürdig, da sie in ein schiefes Verhältnis zu den Welten der praktischen u n d theoretischen W a h r n e h m u n g geraten.

Die Verwandtschaft der mythischen A n s c h a u u n g mit dem falschen Bewußtsein macht sie bedenklich. Will man aber den Unterschied zwi­

schen beiden betonen, so gilt f ü r das falsche (ideologische) B e w u ß t ­ sein, daß es das Mißverhältnis zwischen Idee u n d Wirklichkeit leugnet, f ü r die mythische A n s c h a u u n g , daß sie das U n m ö g l i c h e , nämlich die deckungsgleiche U b e r e i n k u n f t von Idee u n d Wirklichkeit erzwingen will ­ u n d z w a r mit Mitteln, die an magische Praktiken erinnern.

Die ästhetische Perspektive jedoch n i m m t den Bruch mit der Tradition in ihr H a n d w e r k auf, indem sie Mythologien u n d M y t h o l o g o u m e n a ironisch zitiert. In den Fällen, in denen die ästhetische A n s c h a u u n g

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diesen Bruch verleugnet, verstößt sie gegen ihre eigentümlichen, dem Schein antizipierter Versöhnung zu verdankenden Gesetze, u n d wird dafür in ihren Werken mit einer blöden Irrationalität bestraft.

N o c h im Jahr der O k t o b e r r e v o l u t i o n (1917) beginnt Wladimir Maja­

k o w s k i mit der N i e d e r s c h r i f t einer A r t Mysterienspiel, das 1918, am ersten Jahrestag der russischen Revolution, unter dem Titel Mysterium buffo. Heroisches, episches und satirisches Abbild unseres Weltalters in Petersburg, dem Ausgangsort der O k t o b e r r e v o l u t i o n , uraufgeführt wird. Dieses erste sowjetische Revolutionsschauspiel beginnt mit der Sintflut u n d endet mit der A n k u n f t des befreiten Proletariats im »Ge­

lobten Land«. D a z w i s c h e n liegen der Bau einer neuen Arche N o a h , auf deren D e c k Monarchie, D e m o k r a t i e und proletarische Revolution einander ablösen, die E r s t ü r m u n g der H ö l l e u n d des Paradieses und die A u f r ä u m a r b e i t e n im »Tal des [ökonomischen] Ruins«.

N a t ü r l i c h ist die Absicht des Stücks agitatorisch, es feiert die Weltre­

volution u n d ihren neuen technischen Geist u n d zugleich wirft es die K o n v e n t i o n e n der Stanislavskij­Bühne z u m alten Eisen. D a ß es uralte M y t h e n e r z ä h l u n g e n verwertete, ist bemerkenswert, weil es ihm da­

d u r c h leichter w u r d e , ein Ereignis, das f ü r die Zeitgenossen noch nicht ans E n d e g e k o m m e n war, o h n e historische Erzählmittel als ein Ge­

schehen darzustellen, das im Selbstverständnis der Akteure den A n ­ fang f ü r eine neue Geschichtsepoche setzen sollte.

Legt man dem Stück das mythologische Exodus­Schema zugrunde, w o z u die A n k u n f t im »Gelobten Land« der K o m m u n e ja allen Anlaß bietet, so stellt sich die Frage nach der revolutionären Politik des neuen Bundes. Bezeichnenderweise fehlt aber eine solche Politik am E n d e des Stücks. Das neue Bündnis erstreckt sich nämlich auf die Vereini­

gung des Proletariats mit den animistisch belebten Produktionsmitteln und deren P r o d u k t e n . So sprechen die Maschinen zu den Arbeitern:

»Wir Wiegenwagen auf D o p p e l r ä d e r n , / mit Schwanken und U m ­ die­Kurven­Federn, / beflissen, die Satten und Fetten / ans Ziel zu befördern, ­ / wir Helfershelfer von Dieben u n d M ö r d e r n . / Trieb­

scheibe, Schwungrad u n d Kurbelwelle ­ da gabs keinen Halt, / wenns euch zu verstümmeln, zu rädern galt. / Treibriemen, Stahlbrücke, Bun­

kergefälle, / alles war / als G e f a h r / euch z u r Stelle . . . / N u n aber brüllt auf, M o t o r e n ! / G e s t ü r z t sind P r o t z e n u n d G ö t z e n . / Sperr auf, Jubel, M u n d und O h r e n ! / Wir dürfen euch nützen, euch ergötzen. ­ / be­

freit! / J e t z t , Bahnen, flutet, Sirenen, tutet! / Jetzt mögt ihr euch rek­

ken, Eisenbahnstrecken! / In Lust­Karussellen die N a c h t erhellen, / sind, Arbeitervolk, wir von n u n an bereit!« (Majakowski 1964, S. 113 f.)

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Man versteht gut, daß M a j a k o w s k i ganz am E n d e sein Stück von den Schauspielern selbst als Theater e n t z a u b e r n läßt u n d das eigentliche Bündnis als das zwischen Szene u n d A u d i t o r i u m inszeniert. D i e Z u ­ schauer w e r d e n auf die B ü h n e gerufen u n d singen d o r t z u s a m m e n mit den Spielern: »Wollt euch, F r e u n d e , der Sonne verschwören!« (Maja­

kowski 1964, S. 119) Plötzlich ist die Maschinenideologie vergessen u n d die E r i n n e r u n g an die Sonne, das alte E m b l e m der Vernunft, wie­

der aufgegangen.

Auf diese heiter­ironische Weise rettet M a j a k o w s k i wenigstens seine ästhetische Revolution. Was von der politischen bleibt, das erscheint dem heutigen Leser, der sich u m die Absicht des A u t o r s nicht k ü m ­ mern mag, als eine lächerliche Vergötzung der P r o d u k t i o n s m i t t e l , f ü r die manche Ä u ß e r u n g e n der G ö t t e r Lenin u n d Marx das Material geliefert haben. »Das W u n d e r macht / die Elektrifizierung«, r u f t der L a m p e n a n z ü n d e r , der schon vor den andern einen Blick ins Gelobte Land werfen darf. »Elektrisch der Z u g ; / elektrisch die Saat; / elek­

trisch der Pflug; / elektrisch die M a h d ; / u n d endlich der elektrische D r u s c h . / Alles ­ auf D r a h t . / Eine Sekunde ­ nicht Stunde ­ hernach / ist das Brot / ­ husch ­ ! / schon gebacken« ( M a j a k o w s k i 1964, S. 108).

H a t M a j a k o w s k i die biblische M y t h e n e r z ä h l u n g travestiert, u m damit auch die christliche Tradition als Ideologie der A u s b e u t e r zu treffen, so bedient sich fast z u r gleichen Zeit Bert Brecht mit anderem Ziel der Heimkehrergeschichte der »Odyssee«. Brechts D r a m a Trommeln in der Nacht, dessen Titel eher steinzeitliche Assoziationen weckt, ist 1919 unter dem unmittelbaren E i n d r u c k der gescheiterten N o v e m b e r ­ revolution entstanden. Es spielt nicht in einem mythologischen N i e ­ mandsland, sondern in den Lokalen der »großen Stadt«: der bürger­

lichen W o h n s t u b e , der Kneipe u n d der Straße.

Aber die Revolution ist n u r eine Kulisse von Bürgerkriegsgeräuschen u n d ein wildes G e r ü c h t über den Sturm der Spartakisten im Zeitungs­

viertel. Die Revolution ist abwesend anwesend, ein Geschehen, das sich in der Ferne vollzieht, ja eigentlich schon vollzogen hat, wie es im Lied des »besoffenen Menschen« heißt: »Meine Brüder, die sind tot / U n d ich selbst wär's u m ein H a a r / Im N o v e m b e r w a r ich rot / A b e r jetzt ist Januar« (Brecht 1967, S. 112).

Vor diesem H i n t e r g r u n d wird die Geschichte des aus den Kolonien heimkehrenden Soldaten Kragler erzählt, der sich wie O d y s s e u s »Nie­

mand« nennt u n d n u n , als er nach vier Jahren Abwesenheit seine Braut u m a r m e n will, das Bett besetzt findet. Kragler besäuft sich u n d Krag­

ler geht ein paar Schritte mit den A u f r ü h r e r n mit. A b e r am E n d e

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w e n d e t er sich von der Revolution ab u n d n i m m t doch wieder die entehrte Braut an, wä h r e n d im H i n t e r g r u n d die Artillerie dem A u f ­ r u h r im Zeitungsviertel ein E n d e macht: »In der Luft, hoch, sehr fern, ein weißes, wildes Geschrei: das ist in den Zeitungen.« Eine m e r k w ü r ­ dig ambivalente Regieanweisung, die den historischen Augenblick zu­

gleich als Siegesstunde der weißen Partei u n d als journalistische Zan­

kerei auf Zeitungspapier erscheinen läßt. U n d auch Brecht läßt seinen mythologisch­historischen Zwitterhelden die Szene entzaubern. »Es ist gewöhnliches Theater« ­ sagt Kragler im letzten A k t ­ »Es sind Bretter u n d ein P a p i e r m o n d u n d dahinter die Fleischbank, die allein ist leibhaftig« (Brecht 1967, S. 123). D o c h es gibt keine Verbrüderung auf der Bühne, ja nicht einmal ein A u f r ä u m e n durch Odysseus­Kragler.

Die Mythologie kippt vielmehr u m in ein sinnloses Scheitern der Ge­

schichte, der Kragler das Gesetz ewiger Repetition zuschreibt, indem er den Leierkastensong v o m H u n d anstimmt, der in die Küche geht, dem K o c h ein Ei stiehlt, getötet u n d begraben wird und in dessen Grabinschrift sich dieses Geschehen unablässig u n d o h n e jede Verän­

d e r u n g wiederholt.

Mir scheint, daß es Brecht mit dem Zitieren u n d U m w e n d e n der alten M y t h e n e r z ä h l u n g in der Vordergrundgeschichte gelungen ist, das ak­

tuelle Geschehen vor einer schlechten Remythisierung zu bewahren u n d zugleich einen W i n k zu geben, w a r u m die Revolution nicht auf die B ü h n e gehört. D e r einzige, der einen guten G r u n d hätte, sich aufzu­

lehnen, ist der verelendete und betrogene Kragler. A b e r gerade er re­

belliert n u r gegen das Theatralische und verweist ausdrücklich den, der nach der realen Geschichte auf der B ü h n e sucht, auf die »Fleischbank«

draußen.

So bleibt das Gesetz der Wiederholung allein das Gesetz der auf der Bühne erzählten Geschichte. D e n n diese poetisch und dramatisch er­

zählte Geschichte lebt v o m Zitat u n d ist als Text in ihrem Ablauf ein f ü r allemal (die späteren Bearbeitungen des A u t o r s nicht gerechnet) festgeschrieben. I n d e m diese Geschichte sich in Kraglers Worten als eine ästhetische reflektiert, zerstört sie die Illusion, ein politischer K o m m e n t a r z u r gewalttätigen wirklichen Geschichte sein zu wollen.

Ihr E n d e zeigt einen A n t i ­ H e l d e n , einen umgedrehten Odysseus, der nichts anderes will als z u r Frau ins Bett.

So verschieden der G e b r a u c h der M y t h o l o g o u m e n a in Majakowskis und Brechts D r a m e n auch ist, er zeigt doch auch bemerkenswerte Gemeinsamkeiten. Beide A u t o r e n scheinen aus verwandten G r ü n d e n bei der M y t h e n t r a d i t i o n geborgt zu haben. Sie wollten etwas darstel­

len, was sich n o c h nicht darstellen ließ, da es noch nicht im Sinne

2 8

(21)

historischen Erinnerns vergangen w a r : M a j a k o w s k i die O k t o b e r r e v o­ lution als hoffnungsvollen Beginn einer neuen Zeit, das jämmerliche E n d e der deutschen N o v e m b e r r e v o l u t i o n Brecht. A n d e r s als die poli­

tischen Agitatoren verwerteten sie das Alte mit ästhetischer Ironie. Sie zitierten die Mythologie, w ä h r e n d die Sieger ­ o b Revolutionäre oder Konterrevolutionäre ­ sie zelebrierten.

7. Zwischen den Begriffen »Revolution« und »Mythos« besteht ein geheimes semantisches Einverständnis, von dem bis heute die politische Rhetorik Gebrauch macht, indem sie der Geschichte das überhisto­

rische Schema von Aufbruch, Wandlung und Ankunft überstülpt.

Schon die Beziehung z u m Kollektiv verbindet beide Begriffe, zeigt aber auch ihre kategoriale D i f f e r e n z . D e n n »Revolution« bezeichnet einen kollektiven A k t i o n s z u s a m m e n h a n g , »Mythos« aber einen kol­

lektiv tradierten u n d erinnerten Erzähltext oder Bildkomplex. N u n gehört aber der unvermittelte U b e r g a n g des gesprochenen Wortes in der Tat nicht nur zu den ältesten k o s m o g o n i s c h e n M y t h o l o g e m e n , sondern findet sich i m m e r wieder ­ gleichsam als energetische E n t h u ­ siasmusformel ­ in der revolutionären Rhetorik. D a v o n sprechen nicht nur zahlreiche literarische, sondern auch politische Texte. N a c h d e m er noch einmal die Gleichheitsforderung erneuert hat, r u f t Büchners St.

Just aus: »Jedes Glied dieses in der Wirklichkeit a n g e w a n d t e n Satzes hat seine Menschen getötet«; Robespierre ist skeptischer: » O b der G e d a n k e Tat wird, [ . . . ] das ist Zufall« (Büchner 1974, S. 46; 29); der russische Revolutionär P l e c h a n o w aber schreibt: »Ein Begriff mit re­

volutionärem Gehalt wirkt wie eine A r t D y n a m i t u n d ist d u r c h kein anderes Sprengmittel zu ersetzen« (zit. nach Lasky 1989, S. 114).

Wieder wirkt das Zitierte wie N e g a t i o n u n d U m k e h r u n g der M y t h e n ­ rede von der E r s c h a f f u n g der Welt aus dem göttlichen Wort. U n d d o c h : die meisten archaischen K o s m o g o n i e n erzählen von der regel­

mäßigen Wiederkehr des C h a o s , aus dessen T r ü m m e r n eine neue, eine ganz andere als die alte, weil gereinigte O r d n u n g hervorgeht. In der christlichen M y t h e n t r a d i t i o n steht d a f ü r die A p o k a l y p s e , vielfach aus­

geschöpfte Quelle revolutionärer Rhetorik. D i e strukturellen Analo­

gien z u m Ablauf gewaltsamer Revolutionen liegen auf der H a n d , rückt man n u r an die Stelle des göttlichen Weltenrichters ein säkulares Sub­

jekt. Sie bekräftigen im Unterschied z u r E x o d u s ­ M y t h e das M o m e n t der elementaren Gewalt u n d die damit einhergehende plötzliche Ü b e r ­ tretung der bis dahin geltenden sozialen, politischen u n d moralischen Codes. Es scheint fast, als ließe die öffentliche Sakralisierung des N e u e n , die an jede erfolgreiche Revolution anschließt, keine andere

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Wahl als den Rückgriff auf die uralten Bilder der mit Ikonoklasmen u n d Blutopfern verbundenen Reinigung u n d Verjüngung der Welt.

Alles, was seit dem spätantiken Rhetorik­Traktat De sublimitate des P s e u d o ­ L o n g i n z u r Topik des Erhabenen gehört, findet sich in der propagandistischen M y t h e n v e r w e r t u n g revolutionärer und nachrevo­

lutionärer Situationen wieder: die vulkanische E r u p t i o n , der reißende Strom u n d nicht zuletzt die als Besessenheit, als heiliger F u r o r , gedeu­

tete Selbstentäußerung von A k t e u r e n und Zuschauern. D e r N e x u s zwischen natürlicher Elementargewalt u n d menschlicher Gewalt rena­

turalisiert nicht n u r das Subjekt der revolutionären H a n d l u n g , sondern vergrößert das Ereignis auch ins Metaphysische. Beides zieht die älte­

sten M y t h o l o g e m e geradezu magisch an. Diese oder jene Revolution als schicksalhafte Elementargewalt zu sehen, ist ein nur zu vertrautes M u s t e r der m o d e r n e n M y t h o p o i e s e , in der sich die abgegriffensten Bilder über den analytischen Logos legen.

D i e Revolution »ist der N a t u r verwandt«, schreibt z. B. 1918 der rus­

sische Symbolist Alexander Blok, und fährt f o r t : »Eine Revolution bringt wie der O r k a n , wie der Wirbelsturm stets etwas N e u e s und Unerwartetes. Viele w e r d e n grausam getäuscht, oft reißt der Sog die Würdigen in die Tiefe, w ä h r e n d die U n w ü r d i g e n häufig wohlbehalten trockenes Land erreichen; das sind jedoch Kleinigkeiten, die weder die H a u p t r i c h t u n g der Sturzfluten ändern noch ihr mächtiges, betäuben­

des Tosen d ä m p f e n k ö n n e n . In dem Tosen steckt t r o t z d e m etwas Großartiges ­ immer« (Blok 1978, S. 171). Das erinnert an den großen Reinigungsmythos der Sintflut, auch w e n n Blok ihn hier f ü r den Zufall öffnet. Blok hat das E r h a b e n e (»etwas Großartiges«) nicht auf die N a t u r b i l d e r beschränkt. Sein Revolutionsgedicht Dvenatcat (Die Zwölf) macht vielmehr ausgiebig Gebrauch von dessen Topoi, und er verwertet hier o h n e Bedenken die Bilder der neutestamentlichen M y t h o l o g i e : der revolutionäre F ü h r e r Christus, die Jünger Rotar­

misten.

D e r erwähnte antike Traktat Über das Erhabene (De sublimitate) hat die M y t h o l o g i e im Sinne einer pathetischen Stilkategorie literarisiert.

A b e r nicht er hat ihre Fabeln ins literarische Gedächtnis eingeschrie­

ben. Das ist eine ältere Geschichte, die bis auf die frühgriechische Epik u n d Tragödiendichtung zurückreicht. Die christliche Mythologie je­

doch ergänzte die tragische Erniedrigung des Erhabenen durch die Figur der Erwartung, ein anderes Wort f ü r Erlösungshoffnung. So entstand ein in ähnlicher Weise wie die O d y s s e u s ­ und E x o d u s ­ M y ­ then verzeitlichtes, w e n n auch unhistorisches Schema von A u f b r u c h 3°

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u n d A n k u n f t , das sich, anders als jene E r zä h l u n g e n , wie eine Liturgie des qualitativen Sprungs lesen läßt. D e n n zwischen A u f b r u c h u n d R ü c k k e h r b z w . A n k u n f t liegt im christologischen M y t h o s jene W a n d ­ lung, die sogar den gewaltsamen Tod (des Märtyrers) heiligt.

Die A u f e r s t e h u n g Christi in Alexander Bloks, von Trotzkij als das bedeutendste Werk der E p o c h e gefeiertem Revolutionsgedicht, ist keine singuläre Erscheinung. Schon Marx hatte in den Ökonomischen und philosophischen Manuskripten ­ freilich in abstrakter u n d nicht in bildlicher Rede ­ von dem christologischen M y t h e n s c h e m a >Aufbruch

­ Wandlung ­ Ankunft< G e b r a u c h gemacht. H i e ß es in Hegels Reli­

gionsphilosophie, mit der A u f e r s t e h u n g Christi sei die N e g a t i o n über­

w u n d e n u n d als N e g a t i o n der N e g a t i o n Teil der göttlichen N a t u r ge­

w o r d e n , so übersetzte M a r x : der K o m m u n i s m u s bezeichne das Stadium der N e g a t i o n der N e g a t i o n u n d sei daher ein notwendiges Movens auf dem Weg z u r emanzipativen »Wiedereinsetzung des M e n ­ schen« (Olssen 1967; Lasky 1989, S. 107). H i n t e r diesen christologisch strukturierten u n d insofern einer imaginären Zeit verhafteten Sche­

mata steht als mythologischer U r t e x t die Vorstellung v o m unmittelba­

ren Sprung der Idee in die Wirklichkeit, des Wortes in die Tat. D i e liturgische Wandlung, die Transsubstantiation des Wortes in Fleisch u n d Blut, die im christologischen M y t h o s diesen Sprung ersetzt, eignet sich daher auch als ein Bild f ü r die revolutionäre U m w a n d l u n g des alten Gesellschaftssubjekts in ein neues.

Werden gewaltsame U m s t u r z p r o z e s s e , die m a n c h m a l ­ wie die Fran­

zösische Revolution ­ als Transsubstantiation der Vernunft in die be­

freiende Tathandlung interpretiert w e r d e n (Marcuse 1970), in der an­

gedeuteten F o r m remythologisiert, so zeigt sich darin nicht n u r ­ u m ein b e r ü h m t e s Wort von H o r k h e i m e r / A d o r n o zu variieren ­ ein bedenkliches Umschlagen der emanzipatorischen Vernunft in M y t h o ­ logie. Bloks Beispiel ­ u n d nicht n u r dieses ­ belegt, daß die m y t h o ­ logische U b e r s c h r e i b u n g eines historischen Ereignisses auch n o c h die ethischen Gehalte dessen ü b e r w i n d e n kann, was z u m Kern der zitier­

ten Beglaubigungsmythe gehört: es ist »trotzdem« großartig. Die lite­

rarisch­propagandistische Verwertung des christologischen Schemas läßt sich daher wieder n u r als eine Inversion begreifen. D e n n der M ä r ­ tyrertod Christi stand ja nicht unter dem Zeichen jener Gegengewalt, von der die agitatorische Revolutionsrhetorik schwärmt, sondern un­

ter dem des Endes aller Gewalt.

D e r rhetorische Logos der Revolutionsrede steht daher mit der ihm notwendig erscheinenden Rechtfertigung von Gewalt i m m e r schon im Z e n t r u m des M y t h o s . Vor diesem P r o b l e m löst sich die begriffliche

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D i f f e r e n z zwischen »Mythos« u n d »Revolution« ins Diffuse auf.

D e n n als natürliche Elementargewalt gedeutet, entzieht sich die revo­

lutionäre A k t i o n vernünftigen Urteilskriterien; und die Ü b e r t r e t u n ­ gen der bestehenden O r d n u n g , die sie nicht nur duldet, sondern gera­

dezu fordert, fallen unter diesem Bild in die Verantwortung von Mäch­

ten, die gerade nicht z u r Verantwortung zu ziehen sind.

H i e r zeigt sich eine dunkle, gefährliche Seite der Remythologisierung und Resakralisierung, die im deutschen Äquivalent f ü r »Revolution«, im Begriff des Umsturzes, an metaphorischer Deutlichkeit gewinnt.

D e n n das Wort umschreibt ja nichts anderes als jene Verkehrung der bestehenden O r d n u n g , die sich in zufälligen, aber auch institutionali­

sierten Ausnahmesituationen ereignet u n d in solchen Fällen in offener oder verdeckter Weise mit dem apotropäischen Stigma des Heiligen versehen wird.

Die gesellschaftlichen F u n k t i o n e n des Heiligen lassen sich am besten an den in seinem N a m e n veranstalteten Festen studieren. Zugleich zeigt sich aber, worauf Roger Caillois hingewiesen hat (1988), eine überraschende Funktionsanalogie z u r Ausnahmesituation des Krieges.

U n d hier liegt der unheimliche Sinn der Mytheninstrumentalisierung mit Blick auf die gewaltsamen Revolutionen. Immerhin, die von der Geschichte verzeichneten, f ü r den Begriff der »Revolution« paradig­

matischen U m s t u r z b e w e g u n g e n , waren ausnahmslos mit Kriegen ver­

b u n d e n .

Krieg aber wird ­ selbst n o c h in der M o d e r n e ­ als ein notwendiger, die lebensweltliche N o r m a l i t ä t u m w e n d e n d e r Eingriff metaphysischer Mächte in die säkulare Geschichte gedeutet. Auf das Böse, das sich im Ausbeuter, U n t e r d r ü c k e r , Aggressor verkörpert, ist mit Aktionen zu antworten­, die ­ weil die Ausnahmesituation danach verlangt ­ die Ü b e r t r e t u n g s v e r b o t e des Alltags in vollem Bewußtsein verletzen müs­

sen ­ eine negative, zynische Theodizee. Im Krieg ­ wie in der gewalt­

samen Revolution: Friede den Hütten, Krieg den Palästen! - wird

immer n o c h das honoriert, was die Gesellschaft in Friedenszeiten mit schwersten Strafen ahndet: Verschwendung der materiellen Ressour­

cen, Unberechenbarkeit, Betrug und M o r d . »Der Krieg«, bemerkt Caillois, »gilt wie das Fest als heilige Zeit, als Periode der Epiphanie des Göttlichen« (1988, S. 229). Eine These, die erklären mag, w a r u m eine Gesellschaft, die ihre Identität auf einen U m s t u r z , d. h. auf N i c h t ­ Identität z u r ü c k f ü h r t , eher der Mythisierung der Revolution vertraut als ihrer historischen Erzählung. Die Darstellung der »heiligen Zeit«

der Revolution ist auf den M y t h o s verpflichtet.

H i e r liegen auch die Schwierigkeiten f ü r jene historische Kritik revo­

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