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Archiv "„Oh Freunde, nicht diese Töne!“ Beethovens Hörstörungen und der Niederschlag in seiner Musik" (02.03.1989)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT MEDIZINGESCHICHTE

D

er zehnjährige Carl Czerny spielte 1800 dem zu dieser Zeit 30jährigen Beethoven die erst kurz vorher erschienene „So- nate path6tique" vor; dabei entging ihm nicht, daß „Beet- hoven in beyden Ohren Baumwolle hatte, welche in gelbe Flüssigkeit getaucht schien." Dies ist der früheste Hinweis auf sein Ohrenlei- den. 1801 finden sich dann in drei Briefen ausführliche Darstellungen über das Aus- maß seines Hörleidens; darin datiert Beethoven den Beginn seiner Erkrankung drei Jahre zurück, also in das Jahr 1798.

Drei Jahre später trat ein Ohrgeräusch hinzu: „Nur meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort".

Sehr genau beschreibt er ei- nen Hochtonabfall: „Die ho- hen Töne von Instrumenten, Singstimmen, wenn ich etwas weit weg bin, höre ich nicht", außerdem ist sein Sprach- verständnis herabgesetzt:

„Manchmal auch hör' ich den Redenden, der leise spricht, kaum, ja die Töne wohl, aber die Worte nicht".

Am Ende des 3. Satzes sei- ner 5. Sinfonie „Schicksal- Sinfonie" komponiert er fünf- zehn Takte lang einen gleich- bleibenden ppp-Akkord vor der Steigerung, die zum 4.

Satz überleitet. Hier dürften die subjektiven Ohrgeräusche ihren Niederschlag gefunden haben. Sehr bildhaft kann man dann den C-Dur-Jubel des 4. Satzes als einen Befrei- ungsprozeß vom bedrücken- den c-Moll-Schicksal der Sin- fonie verstehen, als ein Sich- frei-Machen von schicksal- haft-bedrückenden, subjekti- ven Geräuschen.

Eine ganz ähnliche Stelle finden wir am Anfang des Schlußsatzes der 9. Sinfonie d-Moll. Er beginnt mit ge- räuschhaften Presto-ff-Okta- ven, die nach Zitieren der Themen der ersten drei Sätze wiederholt werden und dann durch das Bariton-Solo „0 Freunde, nicht diese Töne, sondern laßt uns angenehme- re anstimmen und freuden- vollere" abgelöst werden.

Hier tritt zum ersten Mal in

der Sinfonik die menschliche Stimme hinzu, sie gibt ein be- redtes Zeugnis von einem ge- quälten nach Befreiung su- chenden Menschen von ei- nem durch Ohrgeräusche ge- quälten Patienten. Noch eini- ge Entdeckungen aus Beetho- vens Klaviersonaten. Betrach- tet man einmal den Bogen, den der Komponist zwischen seiner ersten, jähen f-Moll- Sonate op. 2,1 und seiner letzten, komplexen c-Moll- Sonate op. 111 spannte, so

Beethoven 1802, Miniatur von Christian Homeman

steht man staunend vor einer riesigen Entwicklung.

In die Zeit der allerersten Symptome fällt die D-Dur So- nate op. 10,3. Der Gewalt des zweiten Satzes dieser Sonate kann sich keiner entziehen.

Dieses Largo e mesto dauert länger als die übrigen drei Sätze der Sonate, ein todtrau- riges Stück voller überwälti- gender Einfälle, Wendungen und Entwicklungen. Beetho- ven gab seinem Faktotum Schindler auf irgendeine vor- laute Frage nach dem Sinn dieses Largos die Antwort:

„Jedermann fühlt wohl, daß dieses Largo den Seelenzu- stand eines der Melancholie Verfallenen ausdrückt, mit seinen verschiedenen Abstu- fungen von Licht und Schat- ten." Schon das Hauptthema dieses traurigen Largos formt ein fürchterlich trostloses,

verzagtes Kreisen der melan- cholischen Phantasie um ei- nen einzigen Ton.

1801 und 1802 entstand die d-Moll-Sonate op. 31,2.

Sie steht in der gleichen Ton- art wie seine 9. Sinfonie, und auch in dieser Sonate gibt es im Kopfsatz Momente, da Musik an eine Grenze gerät, zu verstummen scheint und

„sprechen" will. Es sind dies zwei Rezitative, fremd, fern, hinter einem Pedalvorhang magisch entrückt. Hier drängt die Musik über ihre Grenze hinaus, sie beginnt sprechend zu klagen über ein Schicksal.

In der As-Dur-Sonate op.

110, 1821 im Zustand völliger Taubheit entstanden, er- scheint diese Rezitativ-Ten- denz fast schon selbstver- ständlich, und in der 9. Sinfo- nie op. 125 findet sie Worte in der Ode „An die Freude". Im langsamen Satz der erwähn- ten Sonate op. 110 gibt es Tonwiederholungen, aus de- nen sich Gesänge entwickeln.

Auch sie können aus einem hartnäckigen Ohrgeräusch entstanden sein.

Im November 1822 zeigte sich, daß Beethoven auch nicht mehr fähig war, ein Or- chester zu leiten. Schindler beschreibt den Verlauf der Hauptprobe zur Oper Fide- lio, die nach dreijähriger Pau- se wieder aufgeführt werden sollte. Die Ouvertüre ging noch reibungslos; aber bei dem ersten Duett stellte es sich heraus, daß Beethoven nichts von dem hörte, was auf der Bühne erklang. Es wurde wiederholt. Wiederum fiel al- les auseinander. Der Taube wandte sich fragend an Schindler. Der bat ihn schrift- lich, nicht weiter fortzufahren und mit ihm nach Hause zu kommen „Im Nu sprang er in das Parterre hinüber und sag- te bloß ,Geschwinde hinaus!' Unaufhaltsam lief er seiner Wohnung zu. Eingetreten, warf er sich auf das Sofa, be-

deckte mit beiden Händen das Gesicht und verblieb in dieser Lage, bis wir uns an den Tisch setzten. Aber auch während des Mahles war kein Laut aus seinem Munde zu vernehmen; die ganze Gestalt bot das Bild der tiefsten Schwermut und Niederge- schlagenheit."

In das Frühjahr 1824 fiel die Uraufführung der 9. Sin- fonie. Der Komponist stand mitten im Orchester und diri- gierte. Die eigentliche Lei- tung hatte der Kapellmeister.

Nach der Aufführung mußte die Sängerin Caroline Unger den Meister herumdrehen, damit er die begeisterte Hul- digung der Zuhörer wenig- stens sah.

In seiner letzten Klavier- sonate c-Moll op. 111 finden wir wieder Stellen, die ein- deutig von Hörstörungen be- einflußt sind und zwar mehr- fach in den Variationen des zweiten Satzes. Hier werden Themen über paukenähnli- chen Baßfiguren, die durch subjektive Ohrgeräusche ge- prägt sind, in bewegte, fast magische Höhen geführt, die keinen Bezug zur Baßbeglei- tung mehr haben. Es gibt da eine Stelle, ein Extrempunkt, wo Baß und Diskant völlig be- ziehungslos nebeneinander geführt werden. Auf diese Takte hat Thomas Mann im achten Kapitel seines Ro- mans Doktor Faustus auf- merksam gemacht. Sie ist nur durch Gehörstörungen und subjektive Ohrgeräusche zu erklären. Genauso seine end- losen Trillerketten, die be- reits in der Waldstein-Sonate op. 53 über 38 Takte geführt werden. Der ehemals kaden- zierende Triller hat hier ein Eigenleben wie in den letzten Sonaten op. 109 und op. 111.

Diese schwirrenden, unruhi- gen Figuren geben uns ein eindeutiges Bild, was Beetho- ven an quälenden Geräu- schen hörte, wie er sie verar- beitete und wie er versuchte, damit fertig zu werden.

Dr. med. Gerhard Haag t Für den Verfassen Emilie Haag, Bitscher- weg 2, 5556 Mülheim

„Oh Freunde, nicht diese Töne!"

Beethovens Hörstörungen

und der Niederschlag in seiner Musik

A-554 (68) Dt. Ärztebl. 86, Heft 9, 2. März 1989

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