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Archiv "Die Gefahr als immanenter Faktor des täglichen Lebens" (13.08.1981)

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT Spektrum der Woche Aufsätze •Notizen

Heft 33 vom 13. August 1981

Die Gefahr als immanenter Faktor des täglichen Lebens

Helmut A. Stick)

Angst gehört zum Leben. Wir müssen mit der Gefahr leben und damit auch mit der Aussicht auf Katastrophen.

Nur die Katastrophe findet heute öf- fentliches Interesse. Ich aber möch- te hier daran erinnern, daß jede Mi- nute unseres Lebens in Frage ge- stellt wird, daß wir darüber hinaus durch die Form unseres Zusammen- lebens, durch die Technologie, durch Umweltgifte, vor allem aber durch die Natur des Menschen selbst täglichen Gefahren und über- all ausgesetzt sind. Sie sind zusam- mengenommen viel größer, als es in Friedenszeiten je eine Katastrophe sein könnte.

In der Bundesrepublik Deutschland starben im Jahr 1977 863 721 Men- schen. Hiervon gingen 136 200 auf ischämische Herzkrankheiten zu- rück. Durch Unfälle und Suizid ka- men insgesamt 44 360 Menschen gewaltsam ums Leben.

Ein vollständiges Register sämtli- cher Risiken des täglichen Lebens ließe sich ohnehin nicht aufstellen.

Vor allem ergibt sich das Problem der Auswahl — und wer sie trifft:

etwa ein Ideologe? Man denke hier nur an Kernkraftgegner, an die ge- gensätzlichen Standpunkte der In- dustriegesellschaft und der Natur- schützer — um nur dieses Beispiel zu nennen.

Das registerhafte Aufzählen von Ge- fahren ist außerdem von lähmender Langeweile begleitet: Niemand möchte es gerne hören. Neben dem einlullenden Effekt solcher Aufzäh- lungen regt sich die Opposition:

Man lebt ja schließlich nicht nur um der Gesundheit willen, sondern das

Leben muß auch noch Spaß ma- chen! Zudem fühlt sich der einzelne nicht mehr angesprochen, wenn Ka- tastrophen solchen Umfanges ge- schildert werden, die außerhalb der alltäglichen Vorstellungswelt liegen.

Dennoch muß man Gefahren aufzei- gen. Denn eine drohende Gefahr kann auch zum Zusammenschluß der Menschen, der unmittelbar Be- troffenen und derjenigen mit wa- chem Gewissen führen. Dieser Grund alleine wiegt alle anderen möglichen Gegengründe auf. Es ist der Appell an die Verantwortlichen im Volke, und seien es auch nur we- nige.

Tod ist vorprogrammiert

Was bedeutet nun die Gefahr als im- manenter Faktor des täglichen Le- bens?

Lucius Seneca formulierte bereits vor 2000 Jahren: „Wir täuschen uns nämlich darin, daß wir den Tod nur vor uns sehen: Ein großer Teil des Todes ist schon vorbei. Alles was von unserem Leben hinter uns liegt, gehört ihm."

Wir sterben also bereits mit jedem verflossenen Augenblick. Da das Le- ben des Menschen obligat erlö- schen muß, ist die „Gefahr" ohnehin in unser Leben einprogrammiert:

Mit jeder Zellteilung nämlich — und etwa vierzigmal seit der Geburt — verkürzt sich der genetische Infor- mationsfaden, eben bis zu dem

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Gefahr im täglichen Leben

Punkt, der mit einem Weiterleben der Zelle nicht mehr vereinbar ist.

Am stärksten betroffen und gefähr- det sind diejenigen Gewebe mit der intensivsten Zellmauserung: die Ge- webe des Genitaltraktes, die blutbil- denden Organe, die Zellen des Im- munsystems und die Haut. Hier stellt sich uns die Frage, wozu dieser Webfehler der Natur da ist, der uns den Tod vorprogrammiert?

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß eine sogenannte „Immortalisie- rung" von Zellen in der Zellkultur nur dann eintritt, wenn bestimmte Abweichungen von der Norm, etwa die Entartung zur Krebszelle, einge- treten sind. Die Immortalisierung der einzelnen Zelle führt somit zur Zer- störung des geordneten Gewebever- bandes und damit noch schneller zum Tode, als es sonst bei der Er- schöpfung des Zellteilungspoten- tiales der Fall gewesen wäre.

Zurück zur Natur?

Sieht man sich im Tierreich um, so ist die eben genannte Repair-Fähig- keit von Zellen und Geweben bei den langlebigen Warmblütern am besten ausgebildet, und wir können für den Menschen im speziellen heu- te feststellen, daß die Verdrei- bis Vervierfachung der Lebenserwar- tung des Menschen seit der Zeit des Neandertalers bis heute nicht zuletzt ein Verdienst der Domestikation ist:

Sie hält dem Menschen viele Gefah- ren fern, gestattet ihm, in jedem Kli- ma zu leben, und besonders im Stadtleben findet er Schutz, kommt der „Contracte sociale" zur Wir- kung. Eine durch die Domestikation des Menschen bedingte Schonung seines Zellteilungspotentiales muß sich nicht nur lebensverlängernd, sondern auch biologisch als verjün- gender Faktor auswirken.

Ein „Zurück zur Natur" wäre also eine Katastrophe. Ein Zurück zur Na- tur ist nur durch eine Katastrophe vorstellbar.

Fragen wir uns daher, was Gesund- heit sei? Kann Gesundheit zum Normanspruch werden? Eine wohl

allgemein bekannte Erfahrung be- sagt, daß zwar viele Schädigungen eine große Anzahl an Menschen tref- fen, daß aber nur relativ wenige da- von ernsthaft krank werden.

Bis heute wird zwar allgemein ange- nommen, daß jede Krankheit auch eine bestimmte Ursache haben müs- se, doch wirklich bekannt sind die eigentlichen Ursachen nur von sehr wenigen Krankheiten. Die Hypothe- se nämlich, daß nur das „Gesunde"

der Norm entspreche und daß diese Norm nicht mehr ohne uns einseh- bare und einfache Ursache in Frage gestellt werden dürfe, ist ein weit- verbreiteter Glaube. Möglicherweise aber handelt es sich hier um einen Irrtum: Denn alle chemischen und physikalischen Reaktionen, von de- nen nicht wenige in unserem Körper ablaufen, streben das Gleichgewicht des niedrigsten Energiezustandes an. In diesem Sinne wäre der Tod der dem Streben der Naturkräfte entsprechende Zustand: Gegen ihn muß sich das Leben mit stetiger An- strengung behaupten.

Die Gefährdung jeden Augenblickes unseres Lebens kann hier nur als ein dem Leben immanenter Faktor an- gesehen werden — und daß unser Leben dennoch so viele Jahre Be- stand hat, nur als ein Wunder.

Beachtet man diese Grundgegeben- heiten, so ist es ganz unwahrschein- lich, daß Gesundheit die Norm des Lebens sei.

Lebensfaktor Angst

Die Angst ist daher ein verständli- cher weiterer Lebensfaktor. Daß die Gefahr nämlich ein immerwähren- der und unser Leben begleitender Zustand ist, mag vielen Menschen bewußt sein. Viele ahnen es in ihrem Unterbewußtsein. Die hierauf zu- rückgeführte „Urangst", so versi- chern die Psychologen, sei ein Grundphänomen der heutigen Zeit.

Menschenfeindliche Gesellschafts- systeme benutzen die Angst und ver- suchen sich durch Drohgebärden und durch das Geschäft mit der Angst künstlich am Leben zu erhal-

ten. So hatte wohl auch die Angst vor der Gefahr zu einer weiteren Mißgeburt menschlichen Denkens geführt: Die Abschreckung als Frie- dens-erhaltendes Prinzip.

Der Friede wird also nicht aus Ethos, aus der Achtung vor dem menschli- chen Leben, erhalten — sondern er verdankt sein Dasein der Angst vor einer nicht mehr überschaubaren Katastrophe —, vor dem „tausendfa- chen Overkill''. Es besteht kein Zwei- fel, daß die Abschreckung nicht nur teuerer und für den Menschen un- würdiger ist, als das Ethos als Frie- dens-erhaltendes Prinzip.

Abschreckung ist schließlich das Negativbild davon, daß vom Men- schen alles machbar sei, daß al- les lediglich ein Problem der Tech- nologie wäre. „Abschreckung" ge- hört daher zum Wortschatz atheisti- scher Technokraten: Mit ihnen wird man kaum über Ethos, über den Wert des menschlichen Lebens sprechen können — sondern nur über den Umfang der Abschrek- kung.

Ein weiterer Aspekt ist die Gefähr- dung des Menschen aus kosmopoli- tischer Freiheit. Ohne Zweifel weiß der Mensch alles, was gut und böse ist — und er verfährt dennoch oft so, als ob er es nicht wüßte. Was ist es, das den Menschen oft wider alle Vernunft und wider das innere Ge- fühl handeln läßt?

Die meisten Lebewesen verfügen über ererbte Instinkte, die ihnen in einer bestimmten Umwelt ein ge- normtes Verhalten garantieren. Mit diesen sind sie gegenüber den seit eh und je vorhandenen Gefahren ge- sichert und angepaßt. Es liegt somit eine vollkommene Übereinstim- mung von Neigungen und Sollen vor: Das ist das Leben im Paradies.

„Neugierwesen" Mensch

Beim Menschen wird das entschei- dende Verhalten in nicht wenigen Bereichen nicht mehr durch Instink- te, sondern durch seine Intelligenz, durch die Fähigkeit zu lernen und 1568 Heft 33 vom 13. August 1981 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

sich anzupassen, bestimmt. Beim

„Neugierwesen" Mensch entspricht der Bereich Erkunden/Neugierde/

Spielen dem freien Spiel der Intelli- genz. Nachdem die Intelligenz beim Menschen nicht nur in der Kindheit, sondern auch im Erwachsenenleben Selektionswert besitzt, dürfte hier ein spezieller Selektionsprozeß dem Abklingen der Spielneigung im Er- wachsenenalter entgegengewirkt haben.

Hier ergibt sich ein wesentlicher Un- terschied des Menschen zum Tier:

Jedes Tier macht in seinem Leben eine Spiel- und Neugierphase durch, doch handelt es sich um ein kurzes Durchgangsstadium. Beim Men- schen dagegen erlischt die Neugier- phase erst mit dem Beginn der Seni- lität.

Wichtig ist die Feststellung, daß der greise Mensch nicht mehr spielt und nichts mehr wagt: Vielleicht liegt hier eine der wirksamsten Friedens- garantien, wichtiger noch als die Ab- schreckung des vielfachen Overkill:

die Vergreisung der Führungsspit- zen der Supermächte.

Das ewige Erkunden, Spielen und die stete Neugier des Menschen be- dingen auch für jede Generation ei- nen Neuerwerb an Erfahrungen und eine Neuformung von Verhaltens- mustern, individuellen wie gesell- schaftlichen. Auf der anderen Seite sind ohne starre Strukturen keine gesellschaftlichen und politischen Systeme höherer Integration mög- lich: Der Staat benötigt eine Rechts- konstanz und eine Verfassung.

Soll aber entsprechend der mensch- lichen Neigung zu Veränderungen ein solches politisches System ver- ändert werden, so muß das Alte im Interesse einer neuen Harmonie und Integration zuerst in Frage gestellt werden. Hier mag eine der Quellen des Generationenkonfliktes wie auch gesellschaftlicher Konflikte liegen.

Das „moralische Gesetz"

Wenden wir uns noch einmal zurück zu der Feststellung, daß der Mensch

Gefahr im täglichen Leben

als Neugierwesen und als Neu- schöpfung der Natur das moralische Gesetz zwar in sich trage, es kenne, es aber nicht immer befolge.

Das „moralische Gesetz in uns"

können wir als ein das gegenseitige menschliche Verhalten stabilisieren- des Prinzip ansehen: Es wäre damit eine zwar organische, doch starre Struktur, die die Integration unter- schiedlicher Menschen in ein gesell- schaftliches System ermöglicht. Ge- gen dieses aber muß das Prinzip der Neugier, des Spiel- und Forschungs- triebes des Menschen und seine

„kindliche" Wagelust gerichtet sein.

Und hier liegt die eigentliche „Ge- fahr als immanenter Faktor unseres täglichen Lebens"!

Denn wer von uns wollte heute die charakteristischen Eigenschaften des Menschen, seine Intelligenz, den damit verbundenen For- schungsdrang und seine Neugier, den Spieltrieb des Menschen und seinen Wagemut zugunsten zwar ei- nes paradiesischen, doch sehr en- gen Instinkt-gefesselten Lebens ein- tauschen? Wir bestimmt nicht!

Wir müssen also mit der Gefahr le- ben, die wir selbst wählen, und da- mit auch mit der Aussicht auf Kata- strophen.

(Nach einem Vortrag bei der Deut- schen Gesellschaft für Wehrmedizin und Wehrpharmazie in Oldenburg am 19. Juni 1981.)

Literatur beim Sonderdruck

Anschiift des Verfassers:

Professor Dr. med. Helmut A. Stickl Direktor der

Bayerischen Landesimpfanstalt Am Neudeck 1

8000 München 95

FORUM

Risiko durch Übergewicht — nichts Wahres daran?

Alfred Liedermann

Die Meldung, um die es hier geht, stammt aus einer Illustrierten mit Millionenauflage, und so bleibt zu befürchten, daß sie unter den Lesern eine erhebliche Verunsicherung ausgelöst hat. Denn das, was die

„Hör zu" vor einigen Monaten be- richtete, ist im Grunde genommen das Gegenteil von dem, was eine verantwortungsbewußte gesund- heitliche Aufklärung unablässig pro- pag iert.

In der „Hör zu" stand es so: „Ver- gessen Sie alles, was Sie bisher über Ihr Idealgewicht gelesen haben. Es ist falsch! 'Neueste wissenschaftli- che Untersuchungen beweisen: Dik- ke Menschen leben besser. Und län- ger. Warum das so ist, lesen Sie in diesem Bericht."

So unglaublich es klingen mag, die- se Behauptung scheint auf den er sten Blick nicht völlig aus der Luft gegriffen zu sein, ganz im Gegenteil.

„Hör zu". brachte Zahlen und versi- cherte, daß sie auf wissenschaftli- chen Untersuchungen beruhen. Die Erkenntnisse, auf die man sich be- rief, stammen aus Framingham, ei- ner Kleinstadt im US-Staat Massa- chusetts. Dort wurden 1948 nach dem Bevölkerungsquerschnitt eini- ge tausend Männer und Frauen in 5 Gewichtskategorien unterteilt. Die in der Folgezeit gezählten Sterbefälle sollten Aufschluß geben, welches Risiko von der Körperbeschaffenheit ausgeht.

Und so sehen die Zahlen aus, die uns „Hör zu" vorlegte: Sterblichkeit der Männer unter der „Idealge- wichts-Grenze": 8,8 Prozent; mit DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 33 vom 13. August 1981 1569

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