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eter Stein machte im Schatten der Expo 30 Mil- lionen DM locker, um erstmals ungekürzt Goethes wichtigstes Werk, den „Faust“, am Ort der Weltausstellung aufzuführen. Leider stürzte sein Hauptdarsteller Bruno Ganz bei den Proben und fiel für die zentrale Rolle des al- ten Faust aus. Der Darsteller des jungen Faust – Christian Nickel – musste kurzfristig auch diesen Mammutpart auf die Bühne bringen. Die Kriti- ken für die Expo-Aufführun- gen fielen enttäuschend aus.Im Oktober 2000 zog das En- semble nach Berlin (Arena, Berlin-Treptow), wo das Stück bis zum Juli mit
dem wieder genesenen Bruno Ganz gespielt wird.
Die häufigste Frage im Vorfeld: Kann man an einem Wochenende 13 ½ Stunden Theater aufnehmen? Die Ant- wort: Wenn’s Goethes „Faust“
ist, Peter Stein Regie führt und sechs Stunden Pausen dazukommen – ohne Proble- me. Darauf ließen zumindest die bis zur letzten Szene voll besetzten Zuschauerränge (inklusive der Behinderten- plätze) schließen.
Fast durchweg junge Schauspieler
Die Aufführung beginnt im dunklen Hallendurchgang.
Ein Gast des Ensembles steckt den Kopf aus der Wandnische, liest die Zueig- nung vor und hinterlässt ein ambivalentes Publikum mit
„hohen Augenbrauen“. Nach den ersten Szenen wird dann
klar, dass sich ein Faszino- sum anbahnt – mit einer vorübergehenden Einschrän- kung: Als Bruno Ganz das Feld nach Hexenküchenein- wirkung dem Jungfaust Chri- stian Nickel bis zum zweiten Teil überlässt, zeigt sich, dass die Kritiker der Expo-Versi- on nicht ganz Unrecht hat- ten. Nickel ist als junger Faust nicht die Starbeset- zung. Sein Metier scheint we- niger das Schauspiel als die Deklamation zu sein. Es ist amüsant zu sehen, wie er selbst gegenüber einem hüb- schen jungen Gretchen nicht den Hauch eines Knisterns auf die Bühne bringt. Mit ihm als Zentralfigur der Ge- samtaufführung in Hannover musste das Werk – vom Ver- fasser unbesehen – in ein schwieriges Fahrwasser gera- ten.
Anders die Lage in Berlin:
Mit Bruno Ganz steht ein
durchschlagendes Faust-Ka- liber auf der Bühne. Eine Su- peridee von Peter Stein teilt die Rolle des Mephisto zwi- schen Johann Adam Oest und Robert Hunger-Bühler auf, deren diabolische Luft- herrschaft das Stück virtuos beherrscht. Das Trio lässt die bisher als Standard betrach- tete Gründgens-Interpretati- on in den Hintergrund treten.
Auch die übrige Schauspie- lertruppe – fast durchweg junge Leute – ist glänzend aufgelegt. Dorothee Hartin- ger kann das als Gretchen am ausführlichsten beweisen. Ih- re Einstellung und die prä- gnante Dur-Stimme halten die Rolle ausdrucksstark und frei von vordergründigem Pathos.
Ein Beispiel für die gelun- gene Besetzung fast aller Ne- benrollen ist Michael Rot- schopf als dreister Baccalau- reus: In der Schülerszene des V A R I A
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Die wichtigste Anwei- sung von Regisseur Peter Stein lautet: „Weg vom Frontaltheater!“
Goethes „Faust I“ und „Faust II“
Intelligenz pur
Bruno Ganz ist eine ideale Besetzung für die zentrale Rolle des alten Faust. Fotos: Ruth Walz
Feuilleton
zweiten Teils versenkt er sei- nen alten Lehrer mit einer Se- rie verbaler Breitseiten, so- dass selbst dem Teufel vor- übergehend die Spucke weg- bleibt.
Die hervorragende Moti- vation der Schauspieler zeigt sich auch in der Szenenperi- pherie und den sehr schwieri- gen, akustisch aber gut ver- ständlichen Gruppentexten (zum Beispiel der Trojanerin- nen).
Einfallsreiche Kostüme und Figuren
Peter Stein zieht in Regie und Bühnenbildern höchst be- achtliche Register. Seine wichtigste Anweisung lautet:
„Weg vom Frontaltheater!“
Die schätzungsweise 500 Zu- schauer sitzen im ausverkauf- ten Haus mal en bloc, dann wie die Konzilsväter zu Rom.
Auf der Straße stehend, schauen sie in Auerbachs Keller und in die He- xenküche. Inmitten der Kai- serpfalz finden sie sich umge- ben von Schauspielern wie-
der, um anschließend für den Karnevalszug Spalier zu ste- hen. Peter Stein hat keine Probleme, voll besetzte Pu- blikumsblöcke während der Vorstellung herumzufahren.
Im Rittersaal des Kaisers bit- tet er die Zuschauer gar zu Wein und Brot an lang ge- deckte Tische, von denen aus sie Paris’ Anmache der Helena und Faust als unfrei- willigen Feuerwerker verfol- gen können.
Das Publikum bewegt sich nach kurzer Zeit immer zügi- ger von Spielort zu Spielort, um der nächsten Szene mög- lichst nahe zu sein. Das wäre eigentlich nicht erforderlich, da die Handlung von allen Plätzen aus gut zu sehen und zu verstehen ist – mit Aus- nahme vielleicht des letzten Aktes, in dem der alte Faust ein wenig von der Mikro- phonverstärkung gebrauchen könnte, die in anderen Sze- nen – zum Beispiel der Walpurgisnacht – geradezu rockbandartig zum Einsatz kommt. In dieser imposanten Show zieht Stein den Bogen
ebenso gekonnt wie scharf am Obszönen vorbei.
Bei den Bühnenbildern ist es wie in der Musik: Eine gute Idee ersetzt eine Menge In- strumente. Stein hat beides.
Neben einfallsreichen Kostü- men und Figuren zeigt er große Bergkulissen, Wasser- läufe, die technisch an- spruchsvolle Himmelsspirale mit dem Höllenrachen und zahlreiche aufwendig gestal- tete Einzelheiten wie den Fortitudo- oder den Knabe- Lenker-Wagen. Gut gelungen
erscheint der Homunkulus:
Ein Kind in einer kleinen schwebenden Glaskuppel wirkt als Pantomime zur Stimme einer Schauspielerin.
Amüsant ist die Hexenkü- chen-Szene mit der erstaun- lichen Physiognomie der Meerkatzen. Für einen Schuss Nervenkitzel sorgt Euphori- ons Überflug ohne Sicher- heitsnetz.
Wo Goethe vom Bühnen- bildner geradezu „Bäume, die sich täglich neu begrü- nen“ verlangt, lässt Stein In- telligenz pur wirken. Als Me- phisto in der Schlachtszene das Kriegsglück mit scheinbar unterlegenen Mitteln zugun- sten des skeptischen Kaisers wendet, begleitet Stein den Abflug der Kampfvögel – der Rabenpost – akustisch durch den Überflug von Düsenjä- gern. Eine Anspielung auf spätere Erkenntnisse, dass die Luftwaffe Schlachten ent- scheidet.
Ein ziemlich
einmaliges Geschenk
Per saldo setzt die Auf- führung die geballte Lebens- ladung des Denk- und Sprachgenies Johann Wolf- gang von Goethe frei. Natür- lich kann der „Faust“ nicht die Wegzapp-Attitüde einer in die Braunsche Röhre ge- krochenen Sehergeneration bedienen. Neben ausgiebigen Pausen und einem eigens an- gedockten Restaurant-Schiff auf der Spree gibt es keine Werbeeinblendungen zur Re- generation etwa angestreng- ter Geister. Die Entwicklung des Bühnentheaters in den letzten zehn Jahren und sein zunehmender Ersatz durch – in jeder Hinsicht so zu nen- nende – Flachbildschirm-Pro- gramme lässt die Aussichten, dass ein Regisseur erneut viel Geld für die Realisation des Werkes erhält, nicht gerade riesig und die Chance, Goe- thes Zentralstück noch ein- mal ungekürzt zu sehen, eher gering erscheinen. So haben die Expo und die Sponsoren dem Publikum ein ziemlich einmaliges Geschenk ge- macht. Dr. med. Ludger Beyerle V A R I A
Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 98½½Heft 7½½16. Februar 2001 AA411
Der junge Faust (Christian Nickel) und Gretchen (Dorothee Hartinger)
Bis zum 7. Juli wird der „Faust“
in Berlin, anschließend in Wien aufgeführt.
Zeiten: Marathonvorstellung:
samstags von 15 bis 22.30 Uhr, sonntags von 10 bis 22.25 Uhr, sechsteilige (sechstägige) Spiel- fassung: jeweils von 19.30 bis 23 Uhr. Kartenpreis: 346,75 DM (für beide Aufführungsarten), Karten-Hotline: Telefon: 0 18 05/
46 38 43, schriftliche Bestellung per Fax: 0 30/ 53 21 61 99