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Archiv "Gesundheits-Strukturreform: Bündnis 90/Die Grünen: Aufbruch zu anderen Ufern" (07.04.1995)

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Gesundheits-Strukturreform: Bündnis 90/Die Grünen

Aufbruch zu

anderen Ufern

Die Sondierungsgespräche und Expertenrunden der Bonner Regierungskoalition mit den Körperschaften und Verbänden der von der Gesundheits-Strukturreform Betroffenen nahm die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen zum Anlaß, ihre bereits im September 1994 publik gemachten „gesundheitspolitischen Vorstellungen" neu aufzuwärmen und mit gezielten Interpretationshilfen durch die beiden gesundheitspolitischen Sprecherinnen und Experten der Fraktion, Marina Steindor, Ärztin, MdB aus Marburg, und Monika Kno- che, MdB, in Bonn der Presse zur allfälligen Bedienung zu servieren. Indes: Mit tagespoliti- schen, pragmatischen Vorschlägen hält sich die „Ökologie"-Partei nicht lange auf. Zu an- deren, ökologisch fundierten Ufern in der Gesundheitspolitik soll aufgebrochen werden...

Marina Steindor

POLITIK

Das gesundheitspolitische Pro- gramm von Bündnis 90/Die Grünen steht unter der General-Devise einer ökologisch orientierten solidarischen Gesundheitspolitik. Die von der Fraktion beschworene allgemeine ge- sundheitspolitische Krise und die

„Zuspitzung sozialer Fragen" hätten auch tiefe Spuren in der Gesundheits- sicherung hinterlassen. Mit bloßen Marginalien, Korrekturen und einer Revision der Kostendämpfungsgeset- ze und der beiden Reformschritte zur Strukturreform sei es nicht getan.

Vielmehr müßten tiefgreifende struk- turelle Erneuerungen und system- transformierende Weiterentwicklun- gen Platz greifen.

Allerdings: Am tragenden Prin- zip der solidarischen Sicherung unter Beibehaltung des Sachleistungsprin- zips in der Krankenversicherung soll nicht gerüttelt werden. Eine Aufsplit- tung des Leistungskatalogs in Grund- und zuwählbare Wahlleistungen lehnt die Partei rundweg ab, weil dies den ohnedies festzustellenden Tendenzen zur Reprivatisierung des Krankheits- risikos und einer „Zwei-Klassen-Me- dizin" Vorschub leiste. Dies sei aber mit den Sozialstaatsprinzipien des Grundgesetzes nicht vereinbar. Wei- tere Elemente der Selbstbeteiligung und privat zu bezahlende „Wahllei- stungen" lehnen die Bündnisgrünen ab. Der Leistungskatalog der gesetzli- chen Krankenversicherung dürfe nicht auf eine „minimale Grundaus- stattung" zurückgestutzt werden. Die

AKTUELL

solidarische Einstandspflicht der Krankenversicherung müsse auch in Zukunft das medizinisch Notwendige, Wirtschaftli-

che und dem jeweiligen Stand der me- dizinischen Wissenschaft Entsprechen- de umfassen.

Es dürfe nicht ein pluralisti- scher Wild- wuchs für „at- traktive Zu- satzversor-

gung aus privaten Mitteln" eröffnet werden. Ein „Rambo-Amerikanis- mus" dürfe niemals im hochsensiblen Gesundheitsgüter- und Dienstlei- stungsmarkt eröffnet werden, so die Bündnisgrünen.

Ein wesentlicher system-imma- nenter Konstruktionsfehler des histo- risch gewachsenen, gegliederten Ge- sundheits-Sicherungssystems in Deutschland sei, „daß es aus Versatz- stücken unterschiedlicher, nicht mit- einander zu vereinbarender Sozial- staatsmodelle komponiert sei". Ein Anbietersystem von freiberuflich täti- gen „Kleinunternehmern Ärzten"

und ebenso auf Selbständigkeit und Autonomie pochenden Klinikträgern sei mit einem weitgehend staatlich kontrollierten Krankenkassensystem nicht zu koordinieren. Gerade diese Inkompatibilitäten des Systems sowie

die Reibungsverluste zwischen ambu- lantem und stationärem Sektor, die (behaupteten) zahlreichen Struktur- verwerfungen und Inkonsequenzen führten zu permanenten Systemkri- sen, Kostenschüben und Kapazitäts- ungleichgewichten, die einen hekti- schen Reformschritt nach dem ande- ren auslösten.

Diesem Dilemma wollen die Bündnisgrünen mit Radikal-Reform- schritten begegnen.

Zunächst müsse die gesetzliche Krankenversicherung in eine allum- fassende Volkspflichtversicherung umfunktioniert werden. Auch Selb- ständige und Beamte müßten in die Versicherungspflicht einbezogen wer- den. In einem Sofortschritt müsse die Versicherungspflichtgrenze in der Krankenversicherung zumindest auf die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung an- gehoben werden, langfristig müsse ei- ne allgemeine Krankenversiche- rungspflicht angestrebt werden; in dem neu strukturierten Kassensystem sei kein Platz für selbständig agieren- de private Krankenversicherungen als eigenständiger Träger der Absi- cherung des Krankheitsrisikos.

Für paritätische Finanzierung

Wie bisher sollte das gesetzliche Krankenversicherungssystem pa- ritätisch durch Arbeitgeber- und Ar- beitnehmerbeiträge finanziert wer- den. Es sei ein vordergründiges und durchsichtiges Manöver, wenn jetzt seitens der Regierungskoalition, aber auch aus Kreisen der Leistungserbrin- ger versucht werde, den Beitragsan- teil der Arbeitgeber zu plafondieren, das Krankheitsrisiko dann aber zu La- sten floatender, das heißt einseitig steigender Arbeitnehmerbeiträge oh- ne staatliche Sanktionen finanzieren zu wollen.

Der seit 1. Januar 1994 wirksame Risikostrukturausgleich in der Kran- kenversicherung (nach Maßgabe des Gesundheitsstrukturgesetzes 1992) ist den Bündnisgrünen nicht weitrei- chend genug. Künftig sollen auch das Berufserkrankungsrisiko ebenso wie die soziale und beruflich bedingte Ex- position in den Strukturausgleich ein- A-992 Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 14, 7. April 1995 (18)

(2)

.92

Monika Knoche

POLITIK

bezogen werden (wie das praktiziert werden soll, wird nicht erklärt).

Wie die Sozialdemokraten pro- pagiert auch die Fraktion von Bünd- nis 90/Die Grünen eine konsequente Regionalisierung der Gesundheits- planung und -steuerung. Regionale Gesundheitskonferenzen sollen die Entscheidungsbefugnis für die Festle- gung der zugewiesenen globalen und dezentral aufgesplitteten Budgets er- halten (also politische Budget- deckelung und Kostendämpfung oh- ne Ende!). Auf Kriegsfuß stehen die Bündnisgrünen mit den freiberuflich tätigen Leistungserbringern im Ge- sundheitswesen, insbesondere mit den Ärzten, Zahnärzten und Apothe- kern. In diese Diktion paßt es, daß der Sicherstellungsauftrag für die ambu- lante und stationäre Versorgung er- satzlos aufgehoben und auf das neu zu etablierende Gremium der regiona- len Gesundheitskonferenzen übertra- gen werden soll. In Zukunft soll der Sicherstellungsauftrag sektorenüber- greifend und umfassend ausgestaltet werden. Die Kassenärztlichen Verei- nigungen sollen allein wegen ihrer an- geblichen Monopolstellung in Luft aufgelöst werden. Auch die Kranken- häuser sollen zu Marionetten und Stellgrößen der Regionalgremien herabgestuft werden. Allerdings soll ihr Betätigungsfeld in Richtung eines

„Zentrums integrierter Gesundheits- leistungen" erweitert werden (eine Forderung, die neuerdings auch die Deutsche Krankenhausgesellschaft e.

V. verficht). Selbstverständlich soll es nach diesem Konzept keine personale Verzahnung und Integration geben, sondern alles über die anonymisierte

„institutionelle Schiene" laufen. Das Krankenhaus soll sich künftig auch vermehrt im ambulanten Sektor im Bereich der Früh-Rehabilitation, der vor- und nachbegleitenden Pflege, der vor- und nachstationären Behand- lung, der teilstationären Versorgung und im klinikambulanten Operieren betätigen dürfen.

Kooperation und Integration werden nach dieser Lesart zu einem institutionellen Strukturprinzip inso- weit, als auch mit verschiedenen Ein- richtungen und fachübergreifenden Disziplinen zusammengearbeitet werden soll. Konsequent sollen das Chefarztsystem aufgegeben und das

AKTUELL

hierarchische Betriebsführungssy- stem durch partizipative, durch Mit- bestimmungsregelungen fundierte Leitungs- und Führungsstrukturen er- setzt werden. Entsprechende Ge- bührenordnungen und Abrechnungs- systeme (auch im Krankenhaus) müßten durch ein System differen- zierter Pauschalen ersetzt werden, so daß einer vom Gewinnmaximierungs- prinzip angetriebenen Mengenaus- weitung und dem Profitinteresse der Leistungserbringer von vornherein vorgebeugt

wird.

Die Pati- enten und Versicherten- interessen müßten be- reits bei der Planung, Di- mensionie- rung und Strukturie- rung der Ver- sorgungsein-

heiten über demokratisch gewählte Interessenvertreter berücksichtigt werden. Ziel ist es, eine „menschli- chere, patientennähere Versorgung"

zu erreichen. Generell soll das geglie- derte Krankenversicherungssystem neu strukturiert werden; Zwergkas- sen sollen aufgelöst und in größere Einheiten zusammengefaßt werden — nicht zuletzt auch deswegen, um dem angeblichen Anbietermonopol der Leistungserbringer Paroli zu bieten.

Alle Macht den

Regionalkonferenzen

Eine der wesentlichen Aufgaben der Gesundheitskonferenzen ist auch, gesundheitliche Ungleichgewichte zu beseitigen, gleichviel, ob diese sozial, regional oder ökologisch verursacht sind. Zur Strukturnivellierung sollen zusätzliche Mittel bereitgestellt wer- den, auch um mögliche Versorgungs- unterschiede zwischen Ballungszen- tren und Landregionen auszuglei- chen. Allerdings soll die Nivellierung nicht so weit gehen, daß unterschied- liche Krankheitsspektren und die To- desursachen „überspielt" werden, wiewohl die unterschiedlichen, zu- meist berufs- und umweltbedingten

Krankheitsrisiken in den Risikostruk- turausgleich einbezogen werden sol- len.

Vorgeschlagen wird, die Bedarfs- planung und -steuerung zu einer glo- balen Planung auszubauen, die so- wohl den ambulanten als auch sta- tionären und auch den Großgeräte- sektor miteinbezieht.

Die regionalen Gesundheitskon- ferenzen sollen zentrale Entschei- dungs- und Steuerungsinstanz sein. In die Entscheidungs- und Aufsichtsgre- mien sollen die regionalen Vertreter der Krankenkassen und die öffentli- che Hand sowie demokratisch ge- wählte Patientenrepräsentanten ein- bezogen werden. Den Leistungser- bringern (Ärzten, Zahnärzten, Kran- kenhausträgern, Pflegeberufen u. a.) soll lediglich eine beratende Funktion zugestanden werden (ganz im Gegen- satz zur SPD, die hier streng drittelpa- ritätisch besetzen will).

Auch die Leistungsgestaltung soll flexibilisiert werden. Auf regiona- ler Ebene könnten unterschiedliche Modelle der Leistungserbringung zwischen Leistungsanbietern und Krankenkassen ausgehandelt wer- den. Allerdings müsse es beim bun- desweit gleichen Leistungsumfang bleiben; lediglich bei der Organisati- on und Leistungserbringung könne variiert werden.

Der Vertragsautonomie soll vor- behalten bleiben, ob das Hausarzt- oder Primärarztmodell generell oder probeweise eingeführt wird, kombi- nierte Budgets angewendet werden oder andere Regulative zum Zuge kommen (so auch Forderungen der Krankenkassen). Planungs- und Ver- sorgungsraum soll eine abgegrenzte Region sein, nicht aber der Kreis der Versicherten einer Krankenkasse oder ein ausgewählter Stab von Lei- stungserbringern.

Auf nationaler ebenso wie auf re- gionaler Ebene sollen Patientenan- laufstellen (Ombuds-Funktion) ein- gerichtet werden, deren Vertreter Recht und Stimme in den Gesund- heitskonferenzen erhalten sollen.

Hauptaufgabe dieser Ombudsstellen soll es sein, die Interessen und Be- schwerden der Patienten und Versi- cherten zu vertreten und in den Pla- nungsgremien durchzusetzen.

Dr. Harald Clade A-994 (20) Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 14, 7. April 1995

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