Genomforschung
Den Glauben durch Wissen ersetzen
Harald zur Hausen: Genom und Glaube. Der unsichtbare Käfig.
Springer-Verlag, Berlin, Heidel- berg, u. a., 2002, VIII, 185 Seiten, broschiert, 24,95 C
Der Titel klingt zunächst un- verfänglich. Die Sprengkraft des Buches deutet sich erst im Untertitel an: „Der unsicht- bare Käfig“. Käfig? Ein enges Korsett der religiösen und kul- turellen Prägung verstelle uns auch heute noch den freien Blick auf naturwissenschaftli-
che Erkenntnisse und lasse ei- nem rationalen Handeln nur begrenzten Spielraum, lautet die These des Autors. Der Virologe und Vorsitzende des Stiftungsvorstandes des Deut- schen Krebsforschungszen- trums in Heidelberg hat die wachsende Kluft zwischen Na- turwissenschaft und Religion zum Thema seines neusten Bu- ches gemacht und spannt da- bei einen Bogen vom Urknall bis zur Stammzellforschung.
Nicht nur zu Zeiten Galileis oder Darwins habe die Religi- on den Wissenschaftlern Ket- ten angelegt. Auch die aktuel- le, höchst emotional geführte Debatte um Genomforschung und embryonale Stammzel- len sei von religiös beding- ten Denkhemmungen geprägt, meint zur Hausen. Anhand konkreter Beispiele verdeut- licht der Wissenschaftler, dass Begriffe wie Gendiagnostik und -therapie, Keimbahnthe- rapie oder Klonen keinesfalls per se in Kategorien wie „gut“
oder „böse“ eingeteilt wer- den können, sondern nur im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu bewerten sind. Da- mit will er keinesfalls einer un- gezügelten Anwendung neu- er Forschungsergebnisse das Wort reden. Er sieht jedoch in der verbreiteten Horrorvision gentechnischer Manipulatio- nen kein reales Risiko. Zur Hausen will eine Versachli- chung der Diskussion und wendet sich gegen Erkennt- nisverbote, die nur deshalb ausgesprochen würden, weil das neu gewonnene Wissen nicht zu tradierten Weltan- schauungen passt.
Um den „unsichtbaren Kä- fig“ allgegenwärtiger Denk- barrieren sichtbar zu machen, nimmt der Autor den Leser mit auf eine spannende Reise durch die Geschichte des Le- bens. Im Zeitraffer folgt er dem langen Weg von der Ent- stehung des Weltalls bis zum Homo sapiens, der seine Al- leinherrschaft auf diesem Pla- neten weniger einem Genie- streich der Schöpfung als ei- ner Kette von Zufällen und der simplen Tatsache ver- dankt, dass er andere Men- schenarten, wie die Neander- taler oder die Ureinwohner Ostasiens, in einem ersten
„Genozid“ ausrottete.
Den Ursprung von Religion interpretiert zur Hausen als Bedürfnis der Menschen, Na- turphänomene zu erklären und eine Bestimmung für ihre Existenz zu finden. In Verbin- dung mit einem absolutisti- schen Wahrheitsanspruch sei ein Konflikt mit der sich ent- wickelnden Naturwissenschaft entstanden, der sich bis heute noch vertieft hat.Auch die zag- haften Versuche moderner Theologen, wissenschaftliche Erkenntnisse mit Glaubensin- halten in Einklang zu bringen, hält zur Hausen für wenig überzeugend, solange nicht wesentliche religiöse Dogmen ganz über Bord geworfen werden. Zur Bewältigung zu- künftiger Probleme, davon ist der Wissenschaftler überzeugt, brauche Homo sapiens eher Rationalität als eine in reli- giösen Traditionen erstarrte Weltsicht. Julia Rautenstrauch Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 236. Juni 2003 AA1601
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