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Archiv "„. . . unser eigenes Wesen, das wir erforschen!“" (11.10.2002)

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T H E M E N D E R Z E I T

A

A2688 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 4111. Oktober 2002

An Herrn Rudolf Virchow

Direktor des pathologischen Instituts und dirigierender Arzt an der Charité, Großgörschenstraße, Berlin-Schöneberg

Lieber Rudolf Virchow!

Ich wende mich in dieser Form an Dich, in der festen Überzeugung, dass ein Mensch mit Deinen Ideen über den Tod hinaus noch sehr lebendig wirken kann. Was zu Deinem 100. To- destag am 5. September zu hören und zu lesen, und noch mehr, was nicht zu hören und zu lesen war, übertraf mei- ne schlimmsten Befürchtungen.

Da wird die Erinnerung reduziert auf Deine Rolle als Pathologe und von Dir gesprochen als einem der großen Ärzte des 19. Jahrhunderts. Wie viele große Ärzte von Deiner Bedeutung hatte es denn noch gegeben? Weltweit las sich das damals in den Nachrufen, beispielsweise in englischsprachigen Zeitschriften, ganz anders. Vom Ver- lust des größten Wissenschaftlers der Nation war die Rede, und die wissen- schaftliche Leistung wurde zu Recht mit der Sir Isaac Newtons gleichge- setzt. Aber jetzt weltweit peinliches Schweigen.

Wie wäre es, wenn wenigstens die deutschsprachigen Ärzte, auch die, die Dich in ihren Verbandsnamen aufge- nommen haben, einen Satz von 1848 reflektierten. Zitat: „Wer kann sich darüber wundern, daß die Demokratie und der Socialismus nirgend mehr An- hänger fanden als unter den Ärzten?

Daß überall auf der äußersten Linken, zum Theil an der Spitze der Bewegung, Ärzte stehen? Die Medizin ist eine so- ciale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts als Medizin im Großen.“

Aber es geht weniger um Dich als politischen Menschen als um Deine

wissenschaftliche Leistung. Und diese hätten weltweit alle Mediziner Grund zu reflektieren. Allen voran unsere Pathologen, die vor dem Erklärungs- zwang stehen, warum der dritte For- schungsauftrag des von Dir gegründe- ten Archivs, nämlich die Bedeutung der Pathologie für die klinische Medi- zin, seit Deinem Tod nicht mehr wei- ter in Deiner Zeitschrift verfolgt wur- de. Es war doch gerade die Frage nach dem Wesen der Krankheit das wesent- liche Forschungsmotiv Deines Le- bens, wie ein Zitat von 1873 belegt:

„Es ist nicht mehr die Krankheit, wel- che wir suchen, sondern das veränder- te Gewebe; es ist nicht mehr ein fremdartiges, in den Menschen einge- drungenes Wesen, sondern unser eige- nes Wesen, das wir erforschen!“

Damit hast Du einen der wichtig- sten Inhalte Deiner Zellularpatholo- gie umschrieben – eines ganzheitli- chen, am Patienten orientierten Wis- senschaftskonzepts, das mit den noch aus der griechischen Antike stammen- den Vorstellungen der Humoral- und Solidarpathologie aufräumte und die Basis für die weltweit so erfolgreiche Medizin bildete. Bis zur Veröffentli- chung der Zellularpathologie vor bald 150 Jahren hätten sich Hufeland, Para- celsus, Maimonides, Galen und Hippo- krates untereinander eher verständi- gen können als mit jedem beliebigen zeitgenössischen Mediziner. Das ist Deine Leistung, die uns berechtigt, Dich an die Seite von Sir Isaac Newton zu stellen.

Wie erklärt sich dann aber das allge- meine Schweigen und der in einem in Ostberlin veröffentlichen Medizinlexi- kon erhobene Vorwurf, Du seiest mit Deinem wissenschaftlichen Konzept ein Hemmnis für die Forschung gewe- sen? Wie ist die ablehnende Haltung

gegenüber der Schulmedizin unter Intel- lektuellen und in weiten Tei- len der Öf- fentlichkeit zu verstehen?

Ursache ist der etwa vor hundert Jahren vollzogene Paradigmenwech- sel, der sich aus dem Streit um den Stellenwert der Bakteriologie in der Pathogenese von Krankheiten ent- wickelte, und der dazu führte, Krank- heitsursachen zu externalisieren und abstrakte Krankheitsentitäten zu for- mulieren.

Erst jetzt liegen die Befunde vor, die Dir das Recht gaben, etwa dem Mykobacterium tuberculosis einen nebengeordneten Platz bei der Ent- stehung dieser Krankheit einzuräu- men. In der Zwischenzeit hat sich aber die Denkgewohnheit eingeschliffen, in abstrakten Krankheitsentitäten zu denken. Dabei wurde Dein hermeneu- tischer Standpunkt an der Seite des Patienten aufgegeben – mit allen dar- aus resultierenden fatalen Folgen für das Kausalitätsverständnis von Krankheiten. Dieses Kausalitätsver- ständnis hast Du noch als 80-Jähriger so formuliert: „Bei der Erörterung der Ursachen dieser Epidemien [des Hun- gertyphus 1848 in Oberschlesien] kam ich zu der Überzeugung, daß die schlimmsten derselben in sozialen Mißständen beruhten.“ Es zeigt sich also, dass es durchaus gerechtfertigt und im Interesse der Patienten ist, zum ursprünglichen Konzept Deiner Zel- lularpathologie als Basis der Medizin zurückzukehren.

In diesem Sinne freue ich mich, hier bald wieder etwas von Dir, nein über Dich zu hören. Dr. med. Walter F. Benoit

GLOSSE

„. . . unser eigenes Wesen,

das wir erforschen!“

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